Читать книгу Liebesaffären zwischen Problem und Lösung - Gunther Schmidt - Страница 29
Bewusst-unbewusst-Dissoziationen und Fokussierung auf intuitives Wissen
ОглавлениеDamit die Reise vom gerade vorherrschenden Erlebnisprozess zum gewünschten optimal angeregt werden kann, werden meist auch gezielt Sprachmuster angeboten, die ein gleichzeitig auf mehreren Ebenen wahrgenommenes Erleben („Mehr-Ebenen-Erleben“) unterstützen sollen. So kann auf das Gewünschte systematisch und intensiv fokussiert werden, ohne dass dies sich antagonistisch auf bzw. gegen das gerade noch vorherrschende Erleben auswirken müsste. Dafür dienen typischerweise Formulierungen, die ein „Sowohl-alsauch“ anstelle eines „Entweder-oder“ anbieten. Zum Beispiel: „Während Sie hier im Moment noch in Ihrem gewohnten Denken mit allen möglichen, vielleicht sogar Sie bedrängenden Themen beschäftigt sind, und das ist doch ganz in Ordnung, das würde wahrscheinlich jedem Menschen so ergehen, könnten vielleicht schon Ihre intuitiven (oder Ihre ‚unbewussten‘) Wahrnehmungsinstanzen beginnen, Erinnerungen auszuwählen, die hilfreiche Schritte enthalten für Ihre Anliegen, zunächst aber vielleicht noch gar nicht bewusst bemerkbar, oder tauchen auch schon bewusst deutlicher wahrnehmbar erste hilfreiche Ideen auf?“
Es ist für mich bis heute immer wieder sehr eindrücklich und faszinierend, wie oft Menschen, die berichten, sie hätten seit Jahren keinerlei hilfreiche Erfahrungen gemacht oder könnten sich an nichts erinnern, was sie je als unterstützend erlebt hätten, in kürzester Zeit plötzlich Zugang zu solchen Erfahrungen erleben, wenn sie nur achtungsvoll dabei unterstützt werden, einerseits die bisherigen Sichtweisen beibehalten zu dürfen und gleichzeitig nach Alternativen zu suchen.
Will man solche Mehr-Ebenen-Prozesse konstruktiv gestalten, erweist es sich als nützlich, ausführlich mit den Klienten auch darüber zu reden, ob und wie sie schon einmal erlebt haben, dass sich etwas in ihnen meldete wie eine Art intuitives Wissen, welches ihnen wertvolle Dienste erwiesen hat. Zum Beispiel dass sie auf etwas, was kognitiv sehr überzeugend klang, mit einem merkwürdigen Gefühl von „Das stimmt nicht für mich“ reagierten, auch wenn sie das nicht kognitiv begründen konnten, dann eher dem intuitiven Gefühl folgten – und sich dies später als sehr stimmig und hilfreich erwies. Oder dass sie etwas als sehr stimmig für sich erlebten und danach handelten, auch wenn sie dies nicht kognitiv begründen konnten – und sich dies später als absolut adäquate Reaktion von ihnen erwies. Oder dass sie ein solches Gefühl von Stimmigkeit hatten, dem aber nicht folgten – und sich dies später als fatale Entscheidung erwies. Solche Episoden, die nach meiner Erfahrung jeder Mensch vielfältig gemacht hat, weisen den Weg zu intuitivem Wissen, zu dem, was Damasio (1997) „somatische Marker“ nennt. Die gesamte moderne Hirnforschung weist ja mit Nachdruck auf genau diese Kompetenzbereiche hin, wenn sie zeigt, dass die kognitiven Funktionen des Neocortex nur zuarbeitende „Berater“ der Zentren des limbischen Systems und der anderen Bereiche im Mittelhirn und Stammhirn sein können (Roth, Hüther, Damasio). Im Focusing werden solche Prozesse „Felt Sense“ genannt, mit ihnen kann hervorragend konstruktiv gearbeitet werden (Gendlin 1981).
So kann fokussiert werden auf das, was man „intuitive Kompetenz“ oder „intuitive, kluge Steuerungsinstanz in uns“ oder „organismisches Wissen“ nennen könnte (Erickson sprach in diesem Zusammenhang immer von „Trust your unconscious mind“ – womit er genau diese Instanzen in uns meinte). Schon diese Art der Fokussierung bewirkt in den meisten Fällen, dass die Menschen, die sich damit beschäftigen (nicht nur die Klienten, auch die Therapeuten!), gelassener, kraftvoller, zuversichtlicher, selbstbewusster werden. Wenn dann wieder (wie bei der Entwicklung von Zielvisionen und der Rekonstruktion von hilfreichen Episoden der Vergangenheit) sinnlich detailliert dieses Erleben intuitiver Kompetenz miteinander „ausgemalt“ wird, wird es noch viel intensiver in der Gegenwart erlebt. Dies wieder bietet die aus meiner Sicht entscheidende Chance, die ganze weitere Kooperation als ein die Autonomie, die Eigenkompetenz und die Wahlkompetenz würdigendes und stärkendes Ritual zu gestalten. Denn dann können alle eigenen Ideen der Klienten, vor allem aber auch alle Angebote der Therapeuten auf Stimmigkeit hin für die einzigartigen Menschen geprüft werden – immer wieder mit dem Fokus darauf, wie man mit diesen „somatischen Markern“, diesem „Felt Sense“, dieser intuitiven Kompetenz darauf antwortet. Dann kann auch jedes Gespräch als ein sehr kreatives Brainstorming für die unterschiedlichsten Perspektiven, Anregungen, Entwürfe und Vorgehensweisen gestaltet werden. Auch eigene Ideen der Therapeuten, sogar direkte Vorschläge von ihnen sind dann keineswegs mehr hinderlich oder wirken eventuell manipulativ, sondern sind nur jeweils Dienstleistungen, welche die Autoritäten im Kooperationsprozess, nämlich die Klienten, jeweils (fast ihre Kompetenz zelebrierend) auf Stimmigkeit hin prüfen. Dann kann es auch weder für die Klienten noch für die Therapeuten ein Versagen oder Unfähigkeit signalisierende „Fehler“ geben, sondern nur jeweils wertvolle Anregungen, die wieder nützlich abgestimmt werden mit der autonomen, klugen intuitiven Antwort. „Fehler“ werden dann kongruent erlebbar als wertvolle Informationen, die in gesunder Weise dafür genutzt werden können, noch achtungsvoller mit den Rückmeldungen aus dem eigenen, organismischen Wissen umzugehen. Dies wiederum unterstützt hilfreiche Lernprozesse (siehe auch das Kapitel Die Klinik als lernende Organisation).
Die kontinuierliche, quasi rituelle Fokussierung auf das intuitive Wissen wirkt auch fast immer als sehr gesundheitsförderliche Musteränderung, denn in unserer Kultur lernen viele Menschen in Sozialisierungsprozessen, ihre intuitiven Signale zu missachten und zu unterdrücken. Genau dies wieder trägt massiv zu den meisten Symptomen, ob z. B. bei Essstörungen, Süchten, Depressionen, psychosomatischen Problemen etc., gelernte Einstellungen bei. Mit unserem Vorgehen kann nun ermutigt werden dazu, wieder dieses intuitive Wissen achtungsvoll zu nutzen, die Symptommuster werden so wie von alleine schon gemildert oder aufgelöst. Dies sollte aber nicht dazu führen, dass kognitive Kompetenzen nun ihrerseits abgewertet und vernachlässigt werden sollten. Vielmehr kann so in besonders wirksamer Weise eine optimale Kooperation zwischen intuitiven und kognitiven Funktionen unterstützt werden. Dies ermöglicht erst die optimale Synergie im jeweiligen System, nur so können alle wertvollen Kompetenzen des Systems optimal genutzt werden.
Die Fokussierung auf intuitive Stimmigkeit kann hervorragend verbunden werden mit Interventionen, die den Körper und die Körperkoordination einbeziehen. Jedes Erleben geht unweigerlich mit einer bestimmten Physiologie einher, zu der auch die Körperkoordination gehört. Die Körperkoordination stellt ein wichtiges Element im jeweiligen unwillkürlichen Erlebnismuster dar. Musteränderungen können ja auf allen Ebenen der Musterorganisation erfolgen. So könnte es sich als hilfreiche Änderung erweisen, wenn man z. B. die inneren Dialoge oder die inneren „Filme“ ändert, die mit einem Problemerleben assoziiert sind. Solche wichtigen Musterelemente liegen aber meist so weit (jedenfalls mittel- und langfristig) unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle (also so von ihr dissoziiert), dass es bewusst lange kaum bemerkt wird, wenn sie schon wieder aktiviert werden. Sie wirken leider dennoch, auch wenn sie unterschwellig unwillkürlich aktiviert sind. Außerdem ist es für viele Menschen eher schwierig, Einfluss auf sie zu nehmen. Die Körperkoordination aber ist bewusst schneller beeinflussbar, und es ist auch schneller bemerkbar, wenn sie sich ändert. Seit vielen Jahren biete ich deshalb in Therapien und Seminaren (und natürlich im Selbstexperiment) den Klienten an, ihre Körperkoordination willkürlich so lange zu verändern, bis ihre intuitive Rückmeldung ihnen sagt, dass sie stimmig und hilfreich wirkt und ihre Kompetenzen aktiviert. Dabei zeigt es sich praktisch immer, dass diese zunächst nur willkürliche Änderung der Körperkoordination nach kurzer Zeit zu einer erheblichen Verbesserung der unwillkürlichen Prozesse insgesamt beiträgt. Die Körperkoordination wirkt offenbar als starker Attraktor im Erlebnismuster, sie zieht sozusagen die anderen unwillkürlichen Musterelemente nach sich. Man kann ohne Abstriche sagen: „So wie man geht, geht es einem …“ Obwohl es sich zunächst nur um ein So-tun-als-ob handelt: Wenn man während eines Symptomerlebens die als zieldienlich erlebte Körperkoordination einnimmt, bewirkt sie nach relativ kurzer Zeit meist schon eine tatsächlich sehr zieldienliche Umschaltung.
Und umgekehrt stellt es eine große Chance dar, wenn ich die Klienten einlade, extra, willkürlich einmal (am besten sogar leicht übertrieben) die Körperkoordination einzunehmen, die sonst unwillkürlich mit dem Problemerleben einhergeht. So können sie nämlich schnell eher willkürlich das Muster wahrnehmen und beeinflussen, welches bisher dissoziiert auf nicht beeinflussbar erscheinender unwillkürlicher Ebene das Problem stabilisierte. Verbinden sie dann auf meine Einladung hin die Bewegung zur Problem-Körperkoordination mit der hin zur Lösungs-Körperkoordination, können sie gezielt a) schneller das Problemmuster bemerken und unterbrechen und b) ein neues Transfermuster aufbauen, welches ihnen wirksam hilft, die bisherige Dissoziation zwischen Problemmuster und den hilfreichen Lösungskompetenzen aufzulösen. Ich nenne solche Interventionen gerne „Problemlösungsgymnastik“. Sie gehören zu den wirksamsten Interventionen, die ich kenne. Sie zeigen auch, dass hypnotherapeutisch orientierte Arbeit keineswegs mit Entspannung, Katalepsie und einseitig nach innen gerichteter Aufmerksamkeit verbunden sein muss. Solche Interventionen wirken dabei intensiv tranceinduzierend, d. h. aber lösungstranceinduzierend. Die vielfältigen wertvollen Methoden von Skulptur-, Konstellations- und Systemchoreografiearbeit gewinnen mit diesen Methoden noch einmal eine äußerst hilfreiche und interessante zusätzliche Dimension.
Gerade diese Rituale der Fokussierung auf intuitives Wissen bieten auch eine wichtige Chance für alle Interventionsangebote, die ebenfalls in der traditionelleren systemischen Arbeit gemacht werden. Dort wird, wie oben gezeigt, versucht – z. B. durch viele Interventionen, entsprechende Konversation, das Entwickeln vielfältiger Perspektiven – die bisher rigide eingeengten Sichtweisen zu erweitern, problemstabilisierende Muster zu „verstören“ etc. Viele Kritiker systemischer Arbeit weisen (aus meiner Sicht nicht ganz zu Unrecht) darauf hin, dass so eine Tendenz zur Beliebigkeit in die Arbeit kommen könnte. Ich sehe eher den Nachteil, dass die Angebote oft viel zu ungerichtet, zu wenig exakt auf die Anliegen der Klienten fokussiert sind. Mit der Fokussierung auf intuitives Wissen löst sich dieser Nachteil weitgehend auf. Es muss nicht mehr „gerungen“ werden um gemeinsame Wirklichkeitsdefinitionen (von Schlippe 1995), sondern in gemeinsamer, neugierig Anteil nehmender, auch spielerisch kreativer Weise kann wie in einem konstruktiven Forschungsexperiment nach den jeweiligen passenden Wirklichkeitskonstruktionen, Beschreibungen, Bewertungen, Lösungsversuchen, Kommunikationsprozessen, Nähe-Distanz-Regelungen etc. geforscht werden, die den angestrebten Zielen dienen. Und kontinuierlich kann dann jede Entwicklung im Verlauf der Zusammenarbeit als wertvolle Rückmeldung über Stimmigkeit oder ihr Gegenteil verwertet werden. Auch „Rückfälle“ können so optimal als wertvolle Feedbacks genutzt werden (siehe auch das Kapitel über Rückfälle).