Читать книгу Tanz in die Angst - Hanna Zimmermann - Страница 12
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Оглавление»Süße, es ist absolut normal, dass du nach so einem Erlebnis mit Albträumen reagierst«, sagte ihr Vater am nächsten Vormittag. Sophie hatte ihm aufgelöst von ihrem Traum erzählt. Das gelbe Kleid hatte sie nicht erwähnt.
»Deine Oma hat dich auch oft Mucha genannt, als du klein warst, das wird bei dir hängen geblieben sein.« Er drückte sanft ihren Arm und bot ihr Schokolade aus einer der Schachteln an, die auf ihrem Nachttisch standen.
»Nee, danke … vielleicht könntest du uns Kaffee holen? So langsam glaube ich, ich sehe nur wegen des Koffeinentzugs so schlimm aus.« Sie verzog ihren Mund zu einem schwachen Lächeln und brachte die Augen ihres Vaters damit zum Leuchten.
»Du siehst immer wunderschön aus, mein Schatz – ich hole uns schnell was aus der Cafeteria.«
»Geht auch Starbucks? Vanilla Latte?«
»Klar, dafür brauche ich nur etwas länger. Bin in einer halben Stunde wieder da.«
Sophie war dankbar, eine Weile allein sein und sich von dem furchtbaren Traum erholen zu können. Doch ihre Auszeit hielt nicht lange an. Fünf Minuten, nachdem ihr Vater aus dem Zimmer gegangen war, klopfte es an der Tür.
»Ja, bitte?«, sagte sie, leicht genervt von der unerwarteten Störung.
»Mucha …«
Sie fuhr entsetzt hoch. Panik durchdrang sie bis in die Fingerspitzen.
»Wer ist da?«, fragte sie mit zittriger Stimme. Hätte sie ihren Vater doch nicht weggeschickt!
»Mein Name ist Andrea Mula, ich bin Seelsorgerin.« Eine junge Frau lugte ins Zimmer. Sie war zierlich und langes blondes Haar umrahmte ihr Gesicht. »Entschuldigen Sie bitte, wenn ich störe, Frau Finke. Ich kann gern später wiederkommen, wenn es im Moment nicht passt.«
Andrea Mula lächelte so warmherzig, dass sich Sophie wieder entspannte. Sie hatte Mula mit Mucha verwechselt, das war alles. Ein alberner Streich, den ihr ihre Sinne gespielt hatten.
»Entschuldigung … kommen Sie doch bitte rein. Wer sind Sie noch mal?«
»Ich bin Seelsorgerin bei der Opferschutzorganisation ›Safehouse‹ und wollte mich erkundigen, wie es Ihnen heute geht.«
Andrea Mula setzte sich auf einen Stuhl gegenüber von Sophies Bett. Sie trug ein langes Kleid in warmen Farben, war höchstens Mitte zwanzig und blickte ruhig und freundlich über den Rand einer roten Hornbrille. Über ihrer linken Augenbraue befand sich ein auffälliges Muttermal, doch das machte ihr hübsches Gesicht nur noch interessanter, fand Sophie.
Allerdings wunderte sie sich über Andrea Mulas Stil. Ihre Kleidung wirkte, als hätte sie sie aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter genommen: Das wollene Kleid war weit und mit riesigen Rautenmustern übersäht, wie Frauen es in den neunziger Jahren getragen hatten. Auch die Hornbrille wirkte eher wie ein gut erhaltenes Flohmarktstück.
Andrea Mula stellte eine weitere Schachtel Pralinen auf den Nachttisch neben Sophies Bett. »Ich kann mir kaum vorstellen, was Sie in den letzten sechsunddreißig Stunden durchgemacht haben. Es tut mir wahnsinnig leid, dass Ihnen das zugestoßen ist.«
Sophie konnte das Mitleid im Gesicht ihrer Besucherin erkennen. »Ja, ich denke auch, dass Sie sich das nicht vorstellen können«, entgegnete sie kühl.
»Sicher brauchen Sie heute noch ein wenig Ruhe, das verstehe ich gut. Ich wollte Sie nur wissen lassen, dass Sie sich jederzeit bei mir melden können, wenn Sie reden möchten … dafür bin ich da.«
Andrea Mula erklärte ihr, wie »Safehouse« sie in den nächsten Monaten unterstützen könnte, wenn sie dazu bereit war. Kostenlos, selbstverständlich und vertraulich. Sie sprach von Einzelgesprächen, Familiensitzungen und Selbsthilfegruppen mit anderen Betroffenen.
Sophie hörte ihr kaum zu. Sie hatte sich zwar etwas beruhigt, spürte jedoch, dass sie den Schreck von eben erst noch verdauen musste. Sie fragte sich, worüber sie sprechen sollte. Je mehr sie sich bemühte, Andrea Mula zuzuhören, desto wütender wurde sie. Jeder wusste doch, was passiert war. Sie hatte es der Polizei mehr als ausführlich beschreiben müssen. Es war das ekelhafteste Gespräch gewesen, das sie je geführt hatte. Jedes noch so peinliche Detail aus ihrem Mund war von einem der Beamten langsam wiederholt, dann für immer in einem Notizbuch vermerkt und von einem Aufnahmegerät aufgezeichnet worden. Die Geschichte ein weiteres Mal erzählen zu müssen, war für Sophie nur schwer vorstellbar. Wieso zur Hölle sollte sie das tun?
Als Andrea Mula ihr vorschlug, sich in einer Therapie über das Geschehene auszutauschen, lachte sie auf. Es war ein verzweifeltes und trauriges Lachen. »Das nächste Mal werde ich vor Gericht über die Sache sprechen, falls dieses miese Arschloch jemals gefasst wird«, sagte sie scharf. »Vorher und nachher wird gar nichts passieren und wenn meine Familie Sie dazu angestiftet hat, hierherzukommen und mir diesen Seelentröster-Scheiß anzubieten, dann können die das direkt wieder vergessen.« Ihre Kehle bebte vor Wut. »Verschwinden Sie aus meinem Zimmer!«
Andrea Mula hatte ihr nur helfen wollen, dessen war sich Sophie bewusst, doch jetzt war nicht die Zeit, um fair zu sein. Es war die Zeit, um wütend zu sein und mit Geschirr zu werfen. Es war die Zeit, um herauszuschreien, welche furchtbaren und unbegreiflichen Dinge ihr das Leben in den letzten beiden Tagen vor die Füße geworfen hatte. Den Überfall, eine Vergewaltigung, von fremden Polizisten ausgefragt und an den intimsten Stellen fotografiert zu werden, immer wieder von Ärzten ruhiggestellt zu werden und diese Schmerzen zu haben, jedes Mal, wenn sie nur atmete.
»Machen Sie sich keine Gedanken, Frau Finke. Ich lasse die Broschüren hier. Wenn Sie so weit sind, melden Sie sich.« Andrea Mula stand auf, verließ mit einem milden Lächeln auf den Lippen das Zimmer und schloss leise die Tür.
Dieses Lächeln kam Sophie merkwürdig vertraut vor. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, die Frau zu kennen. Dann schüttelte sie den Gedanken ab.
Sie nahm ihr Handy, das den Sturz auf den Kellerboden im Gegensatz zu ihr gut überstanden hatte, und schrieb ihrem Vater. Weder er noch sonst jemand sollte heute noch mal bei ihr vorbeikommen. Morgen vielleicht, sie würde sich melden.
Nachdem sie das Handy ausgeschaltet hatte, verkroch sie sich unter der Bettdecke und weinte, wie sie es als Kind getan hatte, wenn sie wirklich nicht mehr weitergewusst hatte. Als würde die Welt sie unter der dicken Schicht aus Stoff und Daunen nicht mehr finden können, als wäre sie dort unsichtbar.