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Als sie aufwachte, zeigte ihr Handy neun Uhr morgens an. Sie quälte sich aus dem Bett und verschwand im Bad. Ihr Vater schlief vermutlich und Erika war noch in der Nacht heimgefahren, ihr Haus befand sich nur wenige Straßen entfernt.

Nachdem sie ihre Zähne geputzt hatte, schlich sie leise nach unten in die Küche. Sie hatte höllische Kopfschmerzen. Eine Aspirin und eine Tasse Kaffee würden ihr guttun. Und vor allem brauchte sie Ruhe.

Wie sich allerdings herausstellte, sollte ihr dieser Wunsch nicht erfüllt werden.

Schon vom Flur aus konnte sie den schwarzen Stoff und die zarte Spitze ausmachen. Der BH und das schmale Höschen lagen perfekt drapiert mitten auf dem Küchentisch. Fast wie ein verruchtes Geschenk, mit dem ein Mann seine Ehefrau zum Valentinstag überrascht. Nur dass es Sophies eigene Unterwäsche war. Sie hatte sie gestern Nachmittag selbst in einem Koffer in das Zimmer getragen, aus dem sie vor zehn Minuten gekommen war. Wie war das möglich?

Neben der Wäsche lagen eine einzelne Rose und ein Zettel.

»Das sollst du beim nächsten Mal für mich tragen, kleine Ballerina. Ich liebe dich«.

Panisch scannte Sophie jeden Winkel der Küche. War er noch hier? Sie blickte den Flur entlang. Niemand war da.

So schnell sie konnte, rannte sie nach oben. Jede Sekunde erwartete sie, ein Kichern zu hören. Das Plastikgrinsen des Clowns zu sehen, der hinter der nächsten Ecke auf sie wartete.

Mit pochenden Schläfen erreichte sie das Schlafzimmer und weckte ihren Vater.

»Was für dämliche Idioten arbeiten denn eigentlich auf Ihrem Revier?«, brüllte Peter Finke eine Dreiviertelstunde später mit rotem Kopf.

Sophie stand in einer Ecke der Küche, während ihr Vater Markus Brandner lauthals beschimpfte. Zuvor hatten er und die beiden Zivilpolizisten das ganze Haus auf den Kopf gestellt. Sophie sah Brandner an, dass ihm klar war, dass er die Sache verbockt hatte. Genau genommen seine Kollegen, die gestern Abend im Garten übersehen hatten, dass die Tür zur Garage aufgebrochen worden war. Doch er hatte die Verantwortung gehabt.

»Ein Stück Kaugummipapier als Beweis nehmen Ihre Kollegen mit«, fuhr Peter fort, »aber sie kommen nicht auf die Idee, die Garagentür auf Einbruchspuren zu kontrollieren? Und die Typen, die vor unserem Haus Wache halten sollen, merken nicht, dass der Kerl nachts einfach wieder zurückkommt und Unterwäsche in meiner Küche verteilt?«

Sophie starrte fassungslos auf die Sachen auf dem Tisch. Erst nach und nach realisierte sie, was der Vorfall bedeutete. Sie hatte die ganze Nacht wach gelegen, der Typ musste die Wäsche also schon vorher aus ihrem Zimmer gestohlen haben. Er musste im Haus gewesen sein, kurz bevor sie ihn im Garten gesehen hatte. Während sie seelenruhig mit ihrer Familie im Wohnzimmer gesessen und ferngesehen hatte.

Sie hatten es ihm so leicht gemacht, dachte sie angeekelt: Die einzige Hürde, die er hatte überwinden müssen, war eine simple Garagentür in einem Garten, der ringsherum von Hecken und Sträuchern abgeschirmt war. Es gab keine Alarmanlage, kein Sicherheitsschloss – nichts. Über den hinteren Teil des Hauses hatte er unbemerkt ins Obergeschoss schleichen können, während das Wohnzimmer vorn eine Ewigkeit entfernt war. Das Haus war groß genug, um einem Einbrecher gar nicht erst über den Weg laufen zu müssen. Dann hatte er nur noch das einzige Schlafzimmer finden müssen, in dem ein Koffer und Frauensachen lagen. Ein Kinderspiel, wenn man sich vorher nur ein wenig damit beschäftigte. Und dann war er in der Nacht zurückgekommen.

»Herr Finke, es tut mir unglaublich leid. Die Kollegen haben Fehler gemacht und das ist absolut inakzeptabel. Ich werde mich sofort darum kümmern, dass ab morgen neue Leute vor der Tür stehen.«

Sophie hatte den Eindruck, dass Markus Brandner aufrichtig betroffen war. Sie hatte schon mit vielen Menschen zusammengearbeitet und wusste, wie jemand aussah, der ein Projekt perfekt abliefern wollte. Brandner war so jemand. Sein wacher Blick und der ständig angespannte Kiefer verrieten es ihr. Die beiden unfähigen Polizisten würden zwar nicht ihren Job verlieren, aber sie war sich sicher, dass Brandner keinen weiteren Fehltritt mehr dulden würde.

Er blieb noch, bis die Spurensicherung eintraf, Fingerabdrücke nahm und Sophies Zimmer untersuchte. Jetzt war auch dieses Haus zu einem Tatort geworden.

Gegen Mittag kam Vicky vorbei. Peter hatte sich in sein Arbeitszimmer zurückgezogen, um sich online über Alarmanlagen schlauzumachen. Vicky brachte eine Flasche Wein, Chips, Schokolade und eine Auswahl an Gummibärchen verschiedenster Sorten mit.

»Süßigkeitensalat und Wein, das brauchst du heute, meine Liebe«, sagte sie, als sie auf hohen Stiefeletten und mit ihrem hübschen Covergesicht-Lächeln ins Wohnzimmer stolzierte.

Wie immer war sie perfekt angezogen. Der blaue Oversize-Mantel war neu. Noch vor Kurzem hatte Sophie fest vorgehabt, einen ähnlichen zu kaufen. Sie hatte immer Spaß an Mode gehabt. Sie mochte es zwar ein kleines bisschen cooler als Vicky, dennoch hatte sie es immer verstanden, die Blicke der Menschen mit ihren Outfits auf sich zu ziehen. Das Interesse an einer solchen Aufmerksamkeit war ihr allerdings erst einmal gründlich vergangen.

So saß sie drei Minuten später mit einem Glas Wein in der Hand in T-Shirt und Jogginghose neben ihrer Freundin auf dem Sofa.

»Ich weiß echt nicht mehr, was ich machen soll. Ich könnte durchdrehen, was will dieser Typ von mir, Vicky? Wie kommt er ausgerechnet auf mich? Weißt du, bis vor ein paar Tagen bin ich noch verzweifelt, wenn die Kaffeemaschine im Büro kaputt war. So sahen für mich Probleme aus … mein Gott.« Sie nahm einen großen Schluck Wein. »Und heute habe ich einen Stalker, der mich vergewaltigt hat und …«

Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Es kam ihr lächerlich vor, doch es ließ sie aus irgendeinem Grund auch nicht los.

»Ich … ich habe da diese Träume. Meine Mutter hatte ja damals den Autounfall. Und seit dem Überfall träume ich, dass sie mir … etwas sagen will. Klingt das verrückt?«

Vicky klopfte sanft auf Sophies Knie. »Das ist total normal. Wer würde denn bitte nach so einer Sache nicht mit schlechten Träumen reagieren? Was will sie dir denn sagen? Also, im Traum?«

»Das ist ja das Merkwürdige. Sie versucht mir zu erklären, dass jemand sie umgebracht hat.«

Für einen Moment herrschte Stille.

»Das ist gruselig«, sagte Vicky schließlich. »Aber es wird auch wieder aufhören, mach dir da keine Sorgen.« Sie nahm die Flasche vom Tisch und schenkte Sophie nach. »Und es tut mir wirklich leid, was mit deiner Mom passiert ist …«

»Ist schon gut, das ist ewig her.« Sophie rang sich ein Lächeln ab. »Wir reden nicht über sie. Nicht dass es uns jemand verbieten würde, es ist mehr eine stille Vereinbarung. Nur wenn mein Vater nicht zuhören kann, erzählt mir meine Oma alte Geschichten. Sie ist überhaupt nicht böse auf Mama, trotz allem, was damals vorgefallen ist.« Sie setzte das Glas erneut an und trank diesmal beinahe alles in einem Zug aus. Langsam verschwamm das Wohnzimmer um sie herum. »Es tut meinem Vater weh, über sie zu sprechen. Auch weil er wütend auf sie ist. In der Nacht, in der sie den Unfall hatte, hat sie eigentlich gar nichts im Auto zu suchen gehabt. Sie hätte zu Hause sein müssen. Es war fast Mitternacht, an einem Mittwoch. Trotzdem war sie dort, inklusive mir und einer Tasche mit Klamotten.«

Vicky kniff die Mundwinkel zusammen und setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Egal, wie oft wir darüber sprechen, ich kapiere nicht, warum sie nur ein paar Klamotten dabeihatte. Keine Zahnbürste, keinen Reisepass …?«

»Nein, gar nichts anderes – bis auf das Zeug, das man sowieso immer in der Handtasche hat. Nur ein einziges Outfit, ziemlich zusammengewürfelt sogar. Aber du weißt ja nicht, was bei dem Unfall alles verloren gegangen ist. Immerhin ist sie bei strömendem Regen mitten im Wald gegen einen Baum geprallt. Mein Teddy ist damals auch verschwunden, hat mir meine Oma erzählt. Nach dieser Nacht war er zumindest unauffindbar. So kann es auch mit anderen Sachen gewesen sein.«

Vicky steckte sich geistesabwesend ein paar Gummibärchen in den Mund. »Doch es ist schon merkwürdig, dass die Polizei überhaupt keine Babysachen gefunden hat. Das passt nicht zu jemandem, der nachts heimlich seinen Mann verlassen will, findest du nicht?«

»Ja, das stimmt.« Sophie atmete tief ein und dachte daran, dass ihre Mutter damals auch etwas anderes vorgehabt haben könnte. Etwas, über das in ihrer Familie erst recht nicht gesprochen werden durfte. Doch Vicky war kein Familienmitglied. »Wer weiß, vielleicht hat sie ja gar nicht geplant, dass wir beide noch lange genug leben würden, um ein neues Fläschchen zu brauchen.«

»Unsinn!« Vicky kannte diese Theorie bereits. Sie hatten schon etliche Male darüber gesprochen. »Sie hatte bestimmt nicht vor, sich selbst und ihre einjährige Tochter umzubringen.«

In Sophie keimte ein Gedanke. Eine Verbindung, die sie bislang noch nicht gesehen hatte.

»Was ist, wenn jemand sie in den Selbstmord getrieben hat? Wenn sie mir das zu sagen versucht?«

Vicky seufzte. »Ich hätte dir so früh am Tag keinen Alkohol geben sollen, dieses düstere Gerede hört jetzt auf. Sie griff nach ihrem Handy. »Ich bestelle uns eine Pizza und dann ziehen wir uns ›Bridget Jones‹ rein!«

Vicky hatte gesprochen, da konnte Sophie nichts mehr machen. Doch der Gedanke hatte sich längst in ihrem Kopf eingenistet. Warum hatte ihre Mutter sterben müssen?

Während die beiden Frauen wenige Stunden später langsam vor dem Fernseher einschliefen, bog ein dunkler Wagen in das Ende ihrer Straße ein. Er fuhr langsam, der Motor war kaum zu hören. Als der Fahrer aus der Ferne den großen BMW vor Sophies Haus sah, lenkte er nach rechts und verließ die Straße wieder. Er wusste, wie eine zivile Polizeieinheit aussah.

Sophie stand reglos am Straßenrand. Ein demolierter Ford Fiesta lag in der Dunkelheit und sah aus, als hätte er sich aufgespalten. Aus dem Wrack ragte ein Baum empor, dunkel und unheilvoll. Er war völlig unberührt, weder der qualmende Motor noch das ohrenbetäubende Prasseln des Regens auf dem zerquetschten Blech machten ihm etwas aus. Auch die Tonne Gewicht, die an ihm zerschellt war, hatte ihn nicht erschüttern können.

Das Weinen eines Babys drang an ihre Ohren. Sophie konnte nicht anders, sie musste näher heran und in das Auto blicken. Es war wie in einem Horrorfilm: Zwischen Fahrersitz und Armaturen gab es keinen Millimeter Platz mehr, beides war mit voller Wucht ineinandergeschoben worden. Und trotzdem saß dort ihre Mutter. Vom berstenden Metall zu Tode gequetscht. Alles, was von ihr zu erkennen war, waren ihre langen hellen Haare, die bedeckt mit dunklem Blut waren. Dachte man sich das Blut und den Dreck weg, kamen Sophie diese Haare seltsam bekannt vor. Als hätte sie sie vor Kurzem erst gesehen.

Langsam ging sie um das Auto herum. Der Regen durchdrang ihre Kleidung, die sich kalt an ihre Haut schmiegte. Sie näherte sich der hinteren Seitentür und entdeckte das Baby in einem Kindersitz. Es schrie weiter aus vollem Hals, als würde es selbst den Krankenwagen rufen, der wenige Minuten später eintreffen müsste.

Aber irgendetwas stimmte nicht: Der vordere Teil des Wagens war fast komplett zerstört, den Rücksitz hatte es zum Glück nicht erwischt. Trotzdem hätte ein so starker Aufprall einen Säugling doch töten oder zumindest bewusstlos werden lassen müssen.

Ihr Blick fiel auf den Sitz des Babys. Sie stutzte – der Gurt war nicht verschlossen. Das Baby war nicht angeschnallt. Warum war ihr das nicht früher aufgefallen?

Der Regen ließ nach, dann verschwand er. Um Sophie herum wurde es warm und leise. Sie stand nicht mehr am Straßenrand, sondern fand sich in einem Zimmer wieder. Es war dunkel und sie konnte die Umrisse der Möbel nur sehr schwach ausmachen. Durch ein geschlossenes Fenster direkt vor ihr warf der Mond sein kühles Licht auf den Fenstersims. Umrisse von schweren Vorhängen waren zu sehen – und noch etwas. Da war ein Gegenstand … Sophie konnte ihn nicht genau ausmachen, doch sie spürte instinktiv, dass er etwas zu bedeuten hatte. Er stand auf dem Sims, zum Greifen nahe.

Sie ging langsam darauf zu, als der Mond mit einem Mal heller wurde, so hell, dass sie sich die Augen zuhalten musste.

»Sorry, ich bin versehentlich an den Lichtschalter gekommen«, hörte sie Vicky sagen. Dann das leise, vertraute Rauschen des Fernsehers.

Sie erwachte aus ihrem Traum und fand sich auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Vaters wieder. Vicky stand mit entschuldigendem Blick neben der Tür.

»Ich wollte nur kurz auf die Toilette, wir sind wohl eingepennt, sorry fürs Wecken.«

Draußen war es schon dunkel geworden, sie mussten stundenlang geschlafen haben. Hatten sie etwa so viel getrunken?

»Schon gut, ist vielleicht besser so. Aber bring wenigstens Wasser aus der Küche mit, ich glaube, ich kriege jetzt schon einen Kater.«

Sophie ließ ihren Kopf wieder ins Kissen sinken. Sie dachte noch lange über ihren Traum nach. Er war ihr eher wie eine Erinnerung vorgekommen.

»Was willst du mir zeigen, Mama? Und warum gerade jetzt?«, flüsterte sie.

Tanz in die Angst

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