Читать книгу Tanz in die Angst - Hanna Zimmermann - Страница 15

8

Оглавление

Am nächsten Morgen saß sie mit ihrem Vater allein am Frühstückstisch. Vicky hatte bei ihr übernachtet, musste aber früh ins Büro. Sophie selbst war für die kommenden Wochen krankgeschrieben – die Kopfschmerzen aufgrund der Gehirnerschütterung wurden zwar langsam besser, aber ihr Körper war weiterhin sehr mitgenommen. Er brauchte Ruhe, um seine Wunden zu heilen. Doch noch mehr brauchte das ihre Seele.

»Papa, darf ich dich mal was fragen?« Sie war unsicher, ob sie das Thema ansprechen sollte, aber immerhin hatte sie im Moment den Bonus des armen missbrauchten Mädchens, dem selbstverständlich niemand etwas abschlagen wollte.

Peter blickte von seiner Zeitung auf.

»Damals, als Mama den Unfall hatte … wieso war ich da eigentlich nicht verletzt?« Sie merkte, wie überrascht ihr Vater auf ihre Frage reagierte, und fügte schnell hinzu: »Ich habe gestern davon geträumt. Da ist mir das einfach im Kopf hängen geblieben, du weißt ja, wie das mit Träumen manchmal ist …«

Peter nahm einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. »Das habe ich mich auch oft gefragt. So ein Unfallhergang ist ohne Zeugenaussagen extrem schwer nachzuvollziehen, weißt du? Und es stimmt auch nicht hundertprozentig. Du hattest einige Hämatome und Druckstellen am Körper. Gegen irgendetwas musst du also gepresst worden sein. Ansonsten hattest du wohl schlicht riesiges Glück.«

Sophie tat so, als würde sie nachdenken. »Könnte es der Gurt gewesen sein?«, fragte sie vorsichtig. Sie hielt die Luft an, während sie sich gleichzeitig immer lächerlicher vorkam. Versuchte sie gerade tatsächlich, ein Detail aus ihrem Vater herauszubekommen, von dem sie geträumt hatte?

»Ja, das wäre möglich«, sagte er nachdenklich. »Wobei es da eine etwas merkwürdige Sache gab: Als die Feuerwehrleute dich im Auto fanden, warst du nicht angeschnallt. Alle Ersthelfer am Einsatzort waren sicher, dass keiner deinen Gurt gelöst hatte. Als sie dich dann aber aus dem Auto geholt haben, saßest du ungeschützt in deinem Kindersitz. Gleichwohl warst du putzmunter.«

Ein Kloß schob sich in Sophies Hals. »Mh, das klingt ziemlich unwahrscheinlich, findest du nicht?«

Peter faltete die Zeitung sorgfältig zusammen und legte sie auf den Küchentisch. »Das Naheliegendste ist, dass dich einfach jemand losgemacht hat, ohne sich daran zu erinnern. Andererseits könnte sich der Gurt auch von selbst gelöst haben.«

Sophie wusste, dass das absolut unrealistisch war, selbst 1992. Doch sie wollte nicht weiter darauf herumreiten.

»Möglich«, erwiderte sie in Gedanken.

»Die Hauptsache war, dass es dir gut ging.«

Trotz seiner gelassenen Worte bemerkte Sophie die Sorge in der Stimme ihres Vaters. Dieselbe Sorge, die ihn schon seit Tagen zwang, von zu Hause aus zu arbeiten und sie auf Schritt und Tritt zu begleiten.

»Weißt du, Sophie, manchmal ist es wirklich schwer für mich. Du lebst nur noch, weil du so eine tapfere Kämpferin bist. Damals, als deine Mutter starb, war ich auf Geschäftsreise. Und letzte Woche, als du … du weißt schon … da war ich auch nicht da. Ich bin nie in deiner Nähe gewesen, um dich zu beschützen, seien wir doch mal ehrlich. Es tut mir leid, so sollte das nicht sein.«

Der Kloß in Sophies Hals wurde so groß, dass sie glaubte, daran zu ersticken. »Papa, das ist Quatsch. Du warst bei der Arbeit und hast dafür gesorgt, dass wir dieses große Haus haben konnten und dass es uns nie an etwas gefehlt hat. Ich weiß, dass du lieber bei uns gewesen wärst.« Sie streckte die Hand über den Tisch und berührte leicht seinen Arm. »Und du hast mich immer beschützt, es war dir nur nicht jedes Mal klar.«

Sie lächelte und dachte dabei an den Tag im gelben Kleid. Der Tag, an dem ihr Vater sie gerettet hatte. Allerdings wusste er das nicht, und das sollte auch so bleiben.

»So, und jetzt blasen wir kein Trübsal mehr, Papa, die Woche war schon schlimm genug.« Sie richtete sich auf und schlug zur Freude ihres Vaters vor, später noch zusammen ins Einkaufszentrum zu fahren. Sie musste sich nur noch fertig machen.

Während sie fünf Minuten später unter der Dusche stand, ging ihr die bohrende Frage nicht aus dem Kopf: Warum träumte sie von etwas, das sie bis dahin überhaupt nicht gewusst haben konnte? Und warum war dieser Traum so realistisch gewesen, dass sie sich noch immer an jedes Detail erinnerte?

Langsam begann sie ernsthaft an ihrem Verstand zu zweifeln.

Als sie am späten Nachmittag von ihrem Ausflug zurückfuhren, war Sophie erschöpft, aber auch ein wenig glücklich. Soweit es eben möglich war, in ihrer Situation von Glück zu sprechen. Während sie zwischen all den Menschen durch die Geschäfte geschlendert waren, hatte sie wieder ein klein wenig das Gefühl gespürt, das sie vor der Vergewaltigung so geliebt hatte: Unabhängigkeit. Niemand konnte ihr verbieten, in ein Einkaufszentrum zu gehen und mit ihrem Vater einen schönen Nachmittag zu verbringen.

Das Gefühl der Beklemmung setzte erst wieder ein, als Peter mit seinem Mercedes in ihre Straße einbog und das Haus sich vor ihnen auftat. In einem Einkaufszentrum gab es Hunderte von Menschen, Kameras, Security-Leute. Wie sollte ihr dort jemand etwas antun? Ausgerechnet hier, wo sie sich eigentlich am sichersten fühlen sollte, war sie es nun nicht mehr. Wenn der Kerl ein Mal ins Haus gekommen war, warum dann nicht auch ein zweites Mal?

Peter hielt in der Einfahrt, stellte den Motor ab und öffnete die Fahrertür.

»Bleib noch einem Moment sitzen, Süße, ich schaue erst nach, ob drinnen alles okay ist.«

Sophie sah ihm nach, bis er hinter der Eingangstür verschwunden war, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf den Rückspiegel. Darin konnte sie den schwarzen BMW sehen, in dem die beiden Zivilbeamten saßen. Einer schaute auf sein Handy, der andere auf seinen Schoß, als hätte er dort einen Laptop oder ein Tablet liegen.

Kein Wunder, dass die nichts mitkriegen, dachte sie, als plötzlich eine Frau hinter dem BMW vorbeilief. Kaum hatte Sophie sie wahrgenommen, war sie auch schon wieder außerhalb ihres Sichtfeldes.

Konnte das sein? Diese langen blonden Haare … Blitzschnell drehte sie sich um und sah gerade noch, wie Andrea Mula um eine Ecke bog und verschwand.

Ein Frösteln kroch über ihren Rücken. Was machte die Frau hier, hatte sie ihr nicht deutlich gesagt, dass sie nichts von ihr hören wollte?

Irgendetwas an ihr war Sophie gleich merkwürdig vorgekommen. Es war, als würde sie sie von irgendwoher kennen …

Ein Klopfen am Fenster riss sie aus ihren Gedanken. Erschrocken japste sie nach Luft. Was würde sie tun, wenn Andrea Mula sie gleich durch die Scheibe anblicken würde?

Doch sie war nirgends zu sehen. Es war Peter, der neben der Fahrertür stand und Sophie mit einem Daumen-hoch-Zeichen bedeutete, dass sie ins Haus kommen konnte.

Sie blieb wie angewurzelt sitzen und starrte an ihm vorbei auf das kleine Tor, das zum Garten führte. Es lag direkt neben der Haustür. Dort, an einem der gusseisernen Stäbe, hing an einer Kordel gut sichtbar ein weißer Umschlag. Darauf standen zwei Worte in großen schwarzen Lettern: »SOPHIE FINKE«.

Niemand hatte den Brief anfassen dürfen, auch nicht die beiden Zivilbeamten, die zusammen mit Sophie und Peter vor der Einfahrt standen, als Markus Brandner und sein Team von der Spurensicherung eine halbe Stunde später endlich eintrafen.

»Schon wieder haben Sie uns zwei unfähige Idioten vor die Tür gestellt!«, rief Peter ungehalten, als Brandner, mit zwei Bechern Kaffee jonglierend, aus seinem Wagen stieg.

»Guten Abend, Herr Finke«, sagte er, ohne auf Peters Ausbruch einzugehen, und reichte Sophie – zu ihrer Überraschung – einen der beiden Becher. »Ich dachte, nach diesem Schock können Sie einen Cappuccino gut gebrauchen. Irgendjemand hat erzählt, dass Sie Kaffee besonders gern mögen.«

Sophie hatte ein gutes Gespür dafür, wann Männer mit ihr flirteten. Oder sich mit einer kleinen Aufmerksamkeit einzuschleimen versuchten. In Brandners Verhalten konnte sie von beidem nicht das Geringste wahrnehmen. Er wirkte wie jemand, der einfach etwas Nettes tat. Weil man das eben so machte, wenn jemand anderem etwas Schlimmes zugestoßen war.

Als sie den Becher entgegennahm, zog er kaum merklich einen Mundwinkel nach oben. Das kam einem Lächeln bei diesem Mann wohl am nächsten.

Schließlich wandte sich Brandner an Peter. »Die Beamten standen hier den ganzen Tag, eventuell ist der Brief während des Schichtwechsels heute Morgen angebracht worden oder in der Mittagspause«, erklärte er. »So furchtbar das klingt, Herr Finke, aber wir können das Haus nicht jede Minute des Tages überwachen. Meine Leute müssen auch essen oder einfach mal zur nächsten Tankstelle, um pinkeln zu gehen. Wir tun wirklich unser Bestes, aber die Situation ist leider extrem kompliziert.«

Keine Sekunde glaubte Sophie, dass der Umschlag wirklich während der Mittagspause aufgehängt worden war. Doch sie wollte Brandner seine Arbeit machen lassen, damit sie den Brief endlich lesen konnte. Denn weder Peter, Brandner noch die Zivilpolizisten wussten, dass er erst seit weniger als einer Stunde an dem Gartentor hängen konnte: Sie hatte genau dort hingesehen, als Peter nach dem Einkaufen aus dem Mercedes gestiegen war. Bis sie Andrea Mula entdeckt hatte, war dort noch gar nichts gewesen. Allerdings würde ihr keiner der Männer abnehmen, dass eine unscheinbare Sozialarbeiterin innerhalb weniger Minuten zum Tor gehen und einen Brief anbringen konnte, ohne dass die drei anwesenden Menschen es bemerkten. Am helllichten Tag und während einer Observierung. Hier stimmte etwas nicht – und sie musste herausfinden, was das war.

Die Spurensicherung brauchte noch mal etwa eine Stunde, bevor überhaupt wieder jemand die Einfahrt betreten durfte. Techniker suchten nach Fußabdrücken, Faserresten von Kleidung am Zaun, Fingerabdrücken auf dem Papier. Doch es gab – nichts. Obwohl der Boden in der Einfahrt sandig war, fanden sie lediglich Schuhabdrücke von Sophie und Peter. Das Briefpapier und der Umschlag waren so sauber, als wäre beides gerade erst frisch geschöpft worden.

»Wir nehmen den Brief für weitere Untersuchungen mit ins Labor, vielleicht haben wir Glück und finden DNA-Spuren …« Brandner hielt das Papier vorsichtig vor Sophie und Peter in die Höhe, nachdem seine Kollegen vorerst damit fertig waren. »Können Sie etwas mit der Nachricht anfangen?«

Sophies Herz klopfte schneller, als er das Blatt langsam umdrehte. Die Seite war beinahe unbeschrieben. Bis auf zwei kurze Sätze, fein säuberlich in der Mitte platziert.

Sie haben mich getötet, Mucha, sie waren es. Bei den Buchen.

Die Handschrift war feminin, ganz anders als auf der Nachricht bei ihrer Unterwäsche.

Sophie hielt sich eine Hand vor den Mund, doch es war schon zu spät. Sie schaffte es gerade noch zum nächsten Gebüsch, bevor ihr das gesamte Mittagessen wieder hochkam.

Natürlich hatte sie so getan, als würden ihr die Worte in dem Brief nichts sagen, als habe sie sich nur übergeben, weil ihr in diesem Moment alles zu viel geworden war. Und das war ja immerhin auch nicht ganz gelogen gewesen.

Nachdem Brandner und sein Team gegangen waren, wurde es ruhig im Haus. Die Beamten vor der Tür wurden noch einmal ausgetauscht, aber Sophie wusste, dass das egal war. Sie war selbst in der Einfahrt gewesen, als der Brief angebracht worden war. Noch näher am Tor, als der BMW es gewesen war, und sie hatte nichts gesehen. Weil es nichts gab, was jemand hätte sehen können. Weder sie noch jedes Team von Zivilbeamten auf dieser Welt.

Sie begann sich ernsthaft zu fragen, ob diese Andrea Mula nicht etwas ganz anderes war. Keine Sozialarbeiterin, die zufällig an ihrem Haus vorbeigekommen war. Oder absichtlich, um ihr erneut ihre Hilfe anzubieten. Sie hatte von Anfang an ein merkwürdiges Gefühl ihr gegenüber gehabt.

Sophie fragte sich, ob Andrea Mula vielleicht ein Geist war. Ein Geist, der ihr eine Nachricht ihrer Mutter überbracht hatte. Und wie hätte sie das bitte ihrem Vater oder einem Kripobeamten erklären sollen, ohne wie eine komplett Verrückte dazustehen?

Bei den Buchen … Was mochte das bedeuten? Sophie überlegte fieberhaft, wo sie nach Antworten suchen sollte, wenn sie mit niemandem darüber sprechen konnte.

Seufzend ließ sie sich in die tiefen Sofakissen sinken, ihr Blick wanderte zur Decke. Aber natürlich … der Dachboden! Dort hatte ihr Vater die Sachen ihrer Mutter aufbewahrt. Vielleicht würde sie in den alten Kisten und Ordnern einen Hinweis finden, irgendetwas.

Sie beschloss, sich das am nächsten Morgen genauer anzusehen. Doch jetzt brauchte sie ein wenig Ruhe. Sie holte sich eine Flasche Wein aus der Küche und trank drei Gläser, bis sie in einen traumlosen Schlaf fiel.

Tanz in die Angst

Подняться наверх