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ОглавлениеEin Tag zuvor
Sophie Finke war von klein auf lebhaft gewesen. Sie war im Grunde glücklich, auch wenn das Leben ihr in den vergangenen neunundzwanzig Jahren schon den ein oder anderen Stein in den Weg gelegt hatte. Manche Steine waren kleiner gewesen, wie das Abitur, das sie erst im zweiten Anlauf geschafft hatte. Manche Steine waren aber auch größer gewesen, wie der Tod ihrer Mutter, als sie noch ein Baby gewesen war. Doch wer bekam schon immer, was er wollte?
Dass es ihr trotz allem besser ging als vielen anderen, verdankte sie ihrem Vater.
Peter Finke war Inhaber einer erfolgreichen Werbeagentur in Mannheim, wo Sophie seit zwei Jahren in einem schicken Altbau lebte. In Hofheim, einem idyllischen Vorort, hatte sie ihre Kindheit verbracht. Seit sie ihr Germanistikstudium beendet und begonnen hatte, in der Agentur ihres Vaters als Texterin zu arbeiten, betrat sie ihr Elternhaus, das ihr als Kind immer wie ein Schloss vorgekommen war, nur noch als Besucherin. Als eine Fremde, die Zuflucht an einem vertrauten Ort suchte. Das Haus gehörte zu der scheinbar perfekten Welt, in der sie aufgewachsen war.
Sophie lag im Bett und lauschte dem Verkehr vor ihrer Wohnung. Die Frage, warum ihr diese Kindheit überhaupt so perfekt vorkam, schlich sich dabei nicht zum ersten Mal in ihren Kopf.
Es gab viele Dinge, die schiefgelaufen waren. Ihr Vater hatte hart arbeiten müssen, um sein Geschäft aufzubauen, und war oft unterwegs gewesen. Sie erinnerte sich an viele wichtige Momente und an lange Zeitabschnitte, in denen ihre Oma Erika allein mit ihr in dem großen Haus gelebt hatte. Sie waren ein unschlagbares Team gewesen. Keine ihrer Freundinnen hatte eine Oma gehabt, die zu Weihnachten so gute Plätzchen backen konnte.
Doch sobald ihr Vater das Haus nach einer durchgearbeiteten Nacht oder einem Wochenende auf Geschäftsreise betreten hatte, war er der Held gewesen. Er war der König und Sophie die Prinzessin.
Wenn er abends spät nach Hause kam, blieb sie wach und sprang aus dem Bett, kaum dass sie die Haustür hörte. Und egal, wie müde er war – er erzählte ihr jedes Mal eine Geschichte. Ihr Zimmer mit der roten Erdbeer-Tapete wurde zu einem Piratenschiff voller Abenteuer, zu einer Burg, aus der eine Prinzessin gerettet werden musste, oder zu einem fernen Planeten, auf dem ein kleiner Junge eine Schlange traf, die einen Elefanten verspeist hatte. Ihr Vater hatte alles getan, um auszugleichen, was mit ihrer Mutter geschehen war. Er hatte ihr die beste Kindheit ermöglicht, die es für ein Mädchen ohne Mutter geben konnte.
Sophie seufzte und nahm ihr Handy in die Hand. Sie beschloss, dass das genügend trübsinnige Gedanken für eine Nacht waren. Ein kurzer Blick auf Instagram würde sie bestimmt ablenken.
Mitten in der Nacht, dachte sie, erinnerst du dich manchmal an längst vergessene Dinge, die just wieder wahnsinnig wichtig werden. In der Regel hält das nur bis zum nächsten Morgen an, wenn Kaffee, Arbeit und die Frage, wie lange du das Wäschewaschen noch aufschieben kannst, Platz eins in deinem Kopf einnehmen.
Sie schmunzelte bei dem Gedanken. Kurz darauf schlief sie traumlos ein.
Der Wecker klingelte wenige Stunden später. Sophie lugte mit verkniffenem Gesicht unter der Decke hervor, kletterte seufzend aus dem Bett und schaltete ihren geliebten Kaffeevollautomaten ein.
Mit einer dampfenden Tasse betrat sie das Badezimmer und betrachtete sich im Spiegel. Das dichte honigblonde Haar und die blauen Augen hatte sie von ihrer Mutter. Je älter sie wurde, desto ähnlicher sah sie der Frau, die sie nur von alten Fotos kannte. Das behauptete zumindest ihre Oma Erika.
Wie jeden Morgen vergaß sie die halb leere Kaffeetasse auf dem Fenstersims ihres Badezimmers, machte sich fertig, stellte im Keller den Timer ihrer Waschmaschine ein und machte sich auf den Weg zur Arbeit.
Es war Mitte September und die Sonne versteckte sich noch hinter dem künstlichen Licht der Straßenlaternen.
Ihr Büro lag in einem mehr als einhundert Jahre alten Gebäude an einer der Haupteinkaufsstraßen. So früh war Sophie meist der erste Mensch dort. Vor neun Uhr morgens schlief die Welt der Agenturen noch, sodass sie in Ruhe abarbeiten konnte, was sie am Vorabend hatte liegen lassen.
Sie hatte gerade ihren ersten Text für die neue Kampagne eines Kompaktpuder-Herstellers geschrieben, als Vicky durch die Bürotür kam. Vicky war ihre Kollegin und gleichzeitig beste Freundin. Sie war sechsundzwanzig Jahre alt und eine der hübschesten Frauen, die Sophie je gesehen hatte. Ihr langes braunes Haar war zu einem hohen Zopf gebunden und ihre stahlblauen Augen leuchteten über ihren vom Herbstwind geröteten Wangen. Als wäre das alles noch nicht genug, war sie auch noch der liebenswerteste Mensch, den Sophie kannte.
Allerdings traf sie nicht immer die klügsten Entscheidungen. Patrick, der erst seit ein paar Wochen in der Agentur arbeitete, lief nicht nur direkt hinter ihr, sondern trug auch noch ihre Laptoptasche um die Schulter. Er war frisch von der Uni gekommen und gehörte zu diesen wahnsinnig netten Kerlen, die für die meisten Frauen nie mehr als gute Freunde sein würden.
Sophie schüttelte den Kopf. Es war Zeit für eine kleine Pause. Unter einem Vorwand zog sie ihre Freundin in die Kaffeeküche.
»Vicky, du weißt, ich mag dich, aber damit tust du dir gerade echt keinen Gefallen.« Sie gab sich Mühe, so streng wie möglich auszusehen, doch als Vicky schelmisch zu grinsen begann, musste sie vor Lachen losprusten.
»Schon klar.« Vicky räusperte sich, offensichtlich in der Bestrebung, sich das verräterische Grinsen aus dem Gesicht zu wischen. »Er hat gestern noch mal bei mir gepennt. Wir saßen über einer Präsentation und ich brauchte ein bisschen Abwechslung. Du weißt genau, ich bin nicht gern einsam. Ich tue es auch nie wieder, großes Ehrenwort.«
»Das hast du schon öfter gesagt.« Sophie zog demonstrativ ihre Brauen nach oben – ein weiterer Versuch, Vicky ein schlechtes Gewissen zu machen – und fuhr dann schmunzelnd fort: »Im Grunde kann es mir ja total egal sein. Aber ich sage dir, der arme Kerl ist drauf und dran, sich in dich zu verlieben, und du weißt ja, wie kompliziert so was werden kann.«
»Tja, vielleicht verknalle ich mich ja auch in ihn«, entgegnete Vicky, doch der Klang ihrer Stimme verriet, dass sie selbst nicht daran glaubte.
»Dazu müsste er nur noch zwanzig Zentimeter wachsen, sich ein paar Muskeln zulegen und schnell den Motorradführerschein machen. Hast du ihm das schon gesagt?« Sophie wusste genau, auf welchen Typ Mann Vicky stand, und der schmal gebaute, freundliche Patrick passte leider nicht in dieses Schema.
»Ich brech ihm schon nicht sein kleines Herz, keine Sorge. Und jetzt lass mich endlich an die Kaffeemaschine, sonst schlafe ich noch im Stehen ein.«
Zwischen neuen Texten, Meetings und einem schnellen Mittagessen mit ihren Kollegen verging der restliche Tag wie im Flug. Es hatte sich so viel Arbeit angestaut, dass Sophie gar nicht merkte, wie spät es wurde. Erst gegen neunzehn Uhr fuhr sie ihren Laptop herunter, zog ihren roten Wollmantel über und verließ das Gebäude.
Es war mittlerweile dunkel geworden, doch auf der belebten Straße war so viel los, dass es Sophie nichts ausmachte. Im Gegenteil, allein an den beleuchteten Geschäften und an all den Menschen vorbeizulaufen, gab ihr eine gewisse Souveränität. Sie kümmerte sich um sich selbst, passte selbst auf sich auf – ein Gefühl, das ihr schon immer wichtig gewesen war.
Unwillkürlich machte sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht breit. Hätte sie gewusst, dass jemand dieses Lächeln beobachtete, wäre es mit Sicherheit schnell erstorben.