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Am darauffolgenden Tag wurde Sophie endlich entlassen. Ihre Großmutter Erika holte sie aus dem Krankenhaus ab und brachte sie vorerst zu ihrem Vater. Zwar konnte sie auch sein Mitleid nur schwer ertragen, aber es war bei Weitem das kleinere Übel. Eines, das sie zumindest schon kannte. Sosehr sie ihre eigene Wohnung liebte, sosehr sie auch allein sein wollte – der Gedanke, dort ihren Nachbarn zu begegnen, war für sie unerträglich. Auch wenn inzwischen natürlich jeder wusste, was los war – das Haus hatte in jener Nacht nur so von Polizisten gewimmelt.

Zurück zum Anfang, zurück nach Hause, dachte sie, während sie und Erika Hand in Hand durch die Auffahrt zur Haustür gingen. Sie steckte den Schlüssel, den sie für Notfälle immer an ihrem Bund hatte, ins Schloss und betrat ihre Zuflucht.

Keiner der beiden Frauen war der dunkle Wagen aufgefallen, der schon seit Stunden vor dem Haus gewartet hatte. Ein Zündschlüssel wurde gedreht und er fuhr langsam davon.

»Ich habe dir Pancakes gemacht«, rief ihr Vater, als Sophie die Küche betrat, einen ausladenden und hellen Raum im Landhausstil. Sonnenlicht schien durch das Sprossenfenster über der Spüle, dahinter lag der große Garten des Hauses.

Peter war auch früher schon kein guter Koch gewesen, Erika hatte sich darum gekümmert, nachdem ihre Mutter gestorben war. Doch wenn er etwas konnte, dann Sophies Lieblingsgericht: Pancakes mit Zimt und Zucker. Der Duft hatte Sophie bereits empfangen, als sie durch die Tür gekommen war. Stolz auf sein Werk, grinste Peter sie inmitten mehlbestäubter Küchengeräte und schmutziger Schüsseln an.

»Du bist der Beste, Papa!«

»Da gebe ich dir recht, mein Schatz, es kann gleich losgehen.«

Der Nachmittag mit ihrer Familie war gemütlich und tat Sophie gut. Sie aßen gemeinsam und sahen sich »Der König der Löwen« an – ein kleines Stück Leben, in das sie zurückkehrte. Nach dem Essen verabschiedete sie sich in die Küche. »Ich mache den Abwasch, bleibt ihr nur sitzen.«

Geschirrspülen war für sie immer schon mehr Entspannung als Arbeit gewesen. Sie stand an der großen Spüle und betrachtete den Garten, über den sich langsam die Dämmerung senkte. Er war rundherum mit Rosensträuchern in allen Farben gesäumt. Natürlich blühten um diese Jahreszeit kaum noch welche – es war September und der Herbst senkte sich langsam über die Stadt. Ihr Vater ließ den Garten alle paar Monate von einer Gärtnerei auf Vordermann bringen – er selbst war beruflich bedingt so selten zu Hause, dass eher die Nachbarn etwas von dem Anblick hatten. Er tat das, weil Sophies Mutter Rosen so geliebt hatte. Auch wenn er nicht oft von ihr sprach und Sophie mittlerweile keinen Zweifel daran hatte, dass sie in der Nacht ihres Todes vor achtundzwanzig Jahren weggefahren war, um ihn zu verlassen: Seine Liebe zu Rosen stand für die Liebe zu seiner Frau. Nach all den Jahren.

Sie haben mich getötet, Mucha …

Gänsehaut kroch über ihren Rücken. Warum hatte sie das geträumt, ausgerechnet das? Niemand hatte je davon gesprochen, dass ihre Mutter getötet worden war. Es war ein Autounfall gewesen, richtig? Regen, ein Baum – keine Mutter mehr. So einfach.

Oder doch nicht?

Sie schob den Gedanken beiseite und nahm den nächsten Teller in die Hand.

Mucha.

Ihr Blick ging zurück zu den Büschen. War da etwas gewesen?

Sie löschte das Licht, damit sie den Garten besser erkennen konnte. Direkt gegenüber dem Küchenfenster befand sich eine klaffende Lücke inmitten eines der Sträucher.

Merkwürdig – normalerweise konnte sie von hier aus direkt auf die Terrasse ihrer Nachbarn blicken. Wie oft hatte sie ihnen schon zugewunken, wenn sie draußen gesessen hatten. Doch heute erkannte sie nur einen dunklen Schatten. Das passte nicht zusammen, etwas stimmte nicht.

Plötzlich bewegte sich der Schatten und die Aussicht auf die Terrasse war wieder frei.

Ein Stechen durchdrang Sophies Brust. Wie angewurzelt stand sie vor der Spüle und starrte nach draußen. Sie sah zu, wie sich der Schatten tiefer in den Garten der Nachbarn bewegte, bis er vollkommen vom Dickicht der Hecken verschluckt wurde.

»Der Typ war im Garten der Nachbarn und hat unser Haus beobachtet«, schnauzte Peter Finke die beiden Polizisten an, die eine halbe Stunde später in seinem Wohnzimmer standen.

Sophie saß zusammengekauert auf dem Sofa und fühlte sich, als würde sie nie wieder in der Lage sein, davon aufzustehen. Als würde sie sich nie wieder einem Fenster nähern oder das Haus verlassen können.

Die Polizisten hatten ein gönnerhaftes »Das haben wir schon hundertmal erlebt«-Lächeln aufgesetzt und sagten Dinge wie: »Völlig verständlich, dass Ihre Tochter so kurz nach dem Überfall noch glaubt, überall den Täter zu erkennen.« Oder: »Wir erleben oft, dass Opfer manche Geschehnisse und Eindrücke nach der Tat stark überinterpretieren.«

»Der Kerl läuft noch frei herum! Wenn er wusste, wo meine Tochter wohnt, war es doch kein Hexenwerk, herauszufinden, wo mein Haus ist. Ist doch klar, dass sie nach so einem schlimmen Erlebnis fürs Erste wieder zurück zu ihrer Familie geht. Ich will, dass dieses Haus überwacht wird!« Peter war außer sich vor Wut – so gelassen und bestimmt er sonst auch war, so sehr konnte er aufbrausen, wenn es um seine Tochter ging. Doch bevor sich die Wut, die sich in ihm aufgestaut hatte, vollends entladen konnte, klingelte es an der Tür.

»Guten Abend, ich bin Kommissar Markus Brandner.«

Der Mann, der fünfzehn Sekunden später die Runde im Wohnzimmer der Finkes erweiterte, machte einen ganz anderen Eindruck als die beiden ersten Beamten. Er trug keine Uniform, sondern eine dunkelgraue Windjacke, eine ausgebeulte Stoffhose und nagelneue weiße Nikes. Stil gehörte offensichtlich nicht zu seinen Stärken, Mitgefühl dafür schon. Es stellte sich heraus, dass er Beamter der Kripo und erst gestern aus dem Urlaub zurückgekommen war.

Wie viele große Kriminalfälle beginnen wohl mit einem Polizisten, der die ersten Ermittlungstage verpasst, weil er im Urlaub war, fragte sich Sophie.

Unweigerlich stellte sie sich vor, wie Markus Brandner mit dunklem Dreitagebart auf Mallorca am Strand gesessen und Mojitos mit seiner Frau getrunken hatte, während sie in ihrem Keller verprügelt und vergewaltigt worden war.

Doch Brandner wirkte ehrlich betroffen. Er nahm die beiden Streifenbeamten zur Seite, ein paar leise, aber merklich scharfe Worte fielen und das Duo machte sich auf den Weg in den Garten.

»Die Kollegen sehen sich draußen um, auch drüben bei den Nachbarn. Vielleicht haben wir Glück und finden eine Spur, außerdem habe ich auf dem Weg hierher schon eine Fahndung rausgegeben. Alle Einsatzwagen im Umkreis suchen nach dem Kerl, dessen Beschreibung Sie uns vor drei Tagen gegeben haben.«

Na super, dachte Sophie. Ihre Hoffnungen schwanden immer mehr. Sie wusste, dass ihre Täterbeschreibung fast wertlos war: groß, sehr kräftig gebaut, ungepflegt und der Stimme nach eher mittleren Alters. Kein Akzent, kein erkennbarer Dialekt. Clownsmaske. Damit kam für die Fahndung so gut wie jeder zweite Kerl aus dieser Stadt infrage.

Sophie las in Brandners Blick, dass er das Gleiche dachte.

»Glauben Sie bitte nicht, dass wir die Sache nicht ernst nehmen. Die Kollegen haben sich da vielleicht ein bisschen … unpassend ausgedrückt. Das tut mir wirklich leid. Hören Sie, ich kenne die Details natürlich schon aus den Akten, aber es würde mir sehr helfen, die Geschichte noch mal von Ihnen selbst zu hören, Frau Finke.« Er steckte sich einen Kaugummi in den Mund und hörte sich aufmerksam an, was Sophie ihm erzählte.

Es fiel ihr schwer, all das noch einmal zu wiederholen. Sie gab sich Mühe, so schnell und sachlich wie möglich zu sprechen, und war froh, dass Brandner nur wenige Nachfragen stellte.

»Es kann durchaus sein, dass der Täter noch einmal versucht, Ihnen nahe zu kommen«, folgerte er schließlich. »Das muss nicht unbedingt bedeuten, dass er Sie wieder angreifen will. Er kann davon ausgehen, dass Sie in nächster Zeit nicht allein sein werden und ein weiterer Angriff ihn leicht überführen könnte. Allerdings kommt es leider immer wieder vor, dass Täter ihre Opfer nach so einer Tat beobachten. Sie genießen, was sie ihrer Meinung nach erreicht haben. Angst und Machtgefühle spielen da eine große Rolle.« Er machte eine Pause, dann blickte er Sophie direkt an. »Er will möglicherweise wissen, wie Sie und Ihr Leben sich durch ihn verändert haben. Bei vielen Tätern hält dieses Verhalten das Hochgefühl, das die Vergewaltigung ausgelöst hat, noch etwas länger aufrecht.«

Sophie wurde schlecht bei dem Gedanken, dass der Mann sie nach wie vor benutzen könnte – sich auch auf eine nicht körperliche Art an ihr verging, die sie noch viel weniger kontrollieren konnte.

Erika baute sich vor Brandner auf. »Und was tut die Polizei dagegen? Ich meine, außer den Garten meines Sohnes zu durchwühlen und ein paar Polizeiwagen ziellos durch die Gegend fahren zu lassen? Nachdem erst noch ein zweites Mal etwas passieren musste? Wir haben seit drei Tagen nichts von Ihren Kollegen gehört, junger Mann, seit drei Tagen! Wie konnte dieser Verbrecher überhaupt wissen, wo meine Enkelin heute Abend ist?«

»Ich kann sehr gut verstehen, dass Sie aufgebracht sind. Dass er heute hier war – wenn er es denn war und nicht eben ein Trittbrettfahrer –, zeigt, dass er Informationen über Sophie haben muss. Das wäre ein gezieltes Handeln. Ist Ihnen in den letzten Tagen jemand in der Gegend aufgefallen oder haben Sie den Nachbarn erzählt, dass Sophie herkommen würde? Ich frage, weil es möglich wäre, dass der Täter das Haus beschattet hat – es ergibt ja durchaus Sinn, dass Frau Finke nach dem Überfall wieder zurück zu ihrem Vater zieht. Unser Mann könnte damit gerechnet und hier auf sie gewartet haben. Genauso gut kann er aber auch vor dem Krankenhaus Position bezogen haben, um zu sehen, wohin sie gehen würde. Kann jemand ihr auf dem Weg vom Krankenhaus hierher gefolgt sein?«

Erika leckte sich die Lippen, das tat sie immer, wenn sie nachdachte. »Ich habe mit niemandem aus der Straße über Sophie gesprochen, das geht keinen etwas an. Und ich habe sie selbst vom Krankenhaus abgeholt. Dabei habe ich keinen Verfolger bemerkt.«

Auch Peter und Sophie war nichts Ungewöhnliches aufgefallen.

»Okay, danke, ich weiß, dass es schwer ist, über all diese Sachen zu sprechen. Wir werden noch Ihre Nachbarn und das Personal in der Klinik befragen, vielleicht haben wir ja Glück und jemand hat den Kerl gesehen.« Brandner holte einen kleinen Notizblock aus seiner Jackentasche, schrieb etwas auf, das Sophie nicht lesen konnte, und steckte den Block wieder ein.

Erneut schaute er sie an. Diesmal trafen sich ihre Blicke. Erst in diesem Moment fiel ihr auf, wie jung Markus Brandner war. Der Bart und seine dunklen Augenringe hatten ihn älter wirken lassen. Ein moderneres Outfit hätte sehr wahrscheinlich auch dazu beigetragen, sein Alter richtig zu schätzen. Er konnte höchstens fünfunddreißig sein.

»Ich muss mich dafür entschuldigen, dass sich bisher keiner meiner Kollegen so richtig um Sie gekümmert hat. Natürlich laufen die Ermittlungen auf Hochtouren – das öffentliche Interesse über die sozialen Medien wird Ihnen ja sicher auch nicht entgangen sein. Ich werde ab sofort eine Zivilstreife vor Ihrem Haus postieren, zumindest erst mal für eine Woche. Sie müssen keine Angst haben, wir passen jetzt auf Sie auf.« Er griff in seine Tasche und legte eine Visitenkarte vor Sophie auf den Tisch. »Falls Sie planen, das Haus zu verlassen, rufen Sie mich bitte an.«

Brandners Kollegen verabschiedeten sich kurze Zeit später. Ihre Spurensuche hatte vorerst nichts ergeben, außer ein Kaugummipapier der Marke Big Red, das auf dem Rasen gelegen hatte.

Nachdem Brandner zwei Beamte zur Bewachung angefordert hatte, bat er darum, in Peters Arbeitszimmer noch ein paar Telefonate führen zu dürfen. Gegen einundzwanzig Uhr, als die Beamten endlich vor dem Haus postiert waren, verabschiedete er sich.

»Und denken Sie daran – meine Kollegen sind in Zivil unterwegs. Schenken Sie ihnen also keine Beachtung. Sollte Ihnen etwas verdächtig vorkommen, rufen Sie mich an. Sie erreichen mich rund um die Uhr.«

Sophie lag die ganze Nacht wach. In ihrem Kopf dröhnten so viele Gedanken, dass sie glaubte, nie wieder zur Ruhe kommen zu können. Der Mann, der sie vergewaltigt hatte, war noch irgendwo in ihrer Nähe. Die Vorstellung machte sie krank. Und sie warf eine Frage auf, die sie sich kaum zu denken traute: Würde er es wieder tun?

Sie schlief erst ein, als draußen schon die ersten Vögel zu hören waren. Und sie träumte von einer Stimme, die sie Mucha nannte.

Tanz in die Angst

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