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Die Occupy-Wall-Street-Tour

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Michael Pellagatti ist seit sechs Jahren als Touristenführer in Manhattan tätig. Zwei bis drei solcher Bus-Rundfahrten absolviert er pro Tag, 17 Dollar beträgt der Stundenlohn. »Kein Vermögen, aber ich bin krankenversichert, das ist das Wichtigste.« Nebenbei jobbt er als freischaffender Pressefotograf. Doch Michaels Herzblut steckt in einem anderen Projekt, seiner sogenannten Occupy-Wall-Street-Tour. Bei dieser Spezialführung habe ich ihn 2016 kennengelernt und für eine ORF-Sondersendung zur Wahlnacht interviewt. Thema des damaligen Beitrags war die Frage, wie die junge Generation der unter 35-Jährigen, manchmal auch »Millennials« genannt, politisch tickt. Eine Frage, die untrennbar mit einer Protestbewegung verknüpft ist, die hier in New York City im Jahr 2011 ihren Ausgang genommen hat.

»Occupy Wall Street war so etwas wie die politische Geburtsstunde meiner Generation«, erzählte mir Michael Pellagatti bei unserem ersten Treffen. Er selbst stand im September 2011 an vorderster Front, als Tausende junge Menschen einen Straßenblock rund um die New Yorker Börse mit Zelten besetzt hielten, ein Protest gegen die Nachwehen des 2008 kollabierten Finanzsystems, gegen die Gier der großen Investmentbanken, gegen die Untätigkeit der Politik. Nach knapp zwei Monaten wurde das Protestcamp schließlich recht brutal geräumt – noch heute hat Pellagatti Videos auf seinem Mobiltelefon, die zeigen, wie die weitgehend friedlichen Demonstranten von übereifrigen Polizisten mit Pfefferspray eingekesselt wurden.

»Präsident Obama hat die Räumung des Protestcamps damals zugelassen – für uns ist er damit gestorben und damit auch die Hoffnung, dass sich dieses System durch Wahlen ändern lässt.«

Die Protestbewegung sei zwar mit ihren Zielen und Forderungen gescheitert, aber sie habe damals die Büchse der Pandora geöffnet und landesweit viele weitere Protest- und Bürgerrechtsbewegungen inspiriert, sagt Pellagatti. »Für mich wurde damals klar, dass ich mich politisch und vor allem aktivistisch engagieren muss – ich habe mein überteuertes und nutzloses Studium abgebrochen und mich mit Gleichgesinnten vernetzt. Ich habe mir damals unzählige Bücher gekauft und begonnen, die sozialrevolutionäre Geschichte meiner Heimatstadt zu studieren.«

Mit seiner Occupy-Wall-Street-Tour will der junge New Yorker den Geist der Protestbewegung am Leben erhalten und interessierten Besuchern aus aller Welt vermitteln – zuletzt etwa einer Studentengruppe aus dem deutschen Münster.

»Ich habe auch schon Schulklassen bei meiner Tour begrüßt, einige Schüler haben mir dann ein paar Wochen später geschrieben, dass sie nach meiner Tour zum ersten Mal selbst an einer Demonstration teilgenommen haben – das war ein echtes Erfolgserlebnis.«

Die Tourismusbranche sei ein idealer Ort für politischen Aktivismus, eine Sphäre, in der sozialrevolutionäre Theorie und Geschichte unterhaltsam und gleichzeitig bewusstseinsbildend vermittelt werden könne, so Pellagatti. »Und bei den Tour-Gästen kommt mein Stil überraschend gut an, den touristischen Einheitsbrei kann man ja ohnehin woanders nachlesen.«

Der rote Tour-Bus fährt an den Hudson Yards vorbei – einem kürzlich aus dem Boden gestampften und neu eröffneten Luxus-Stadtviertel entlang der 11th Avenue. Mehrere gläserne Wolkenkratzer beheimaten dort Nobelapartments – darunter befindet sich ein riesiges, steriles Einkaufszentrum mit Boutiquen namhafter Marken. Vor dem Eingang ragt eine etwas bizarr anmutende Kunstskulptur in den Himmel, das sogenannte »Vessel«. Sie besteht aus über 150 ineinander verzahnten und protzig verkupferten Treppenaufgängen, die, auf 16 Stockwerke gestapelt, Besucher zum kostenpflichtigen Erklimmen anregen sollen und vom Kritiker der »New York Times« spöttisch als »mistkübelförmiges Treppenhaus ins Nichts« bezeichnet wurde.

Der gesamte Hudson-Yards-Gebäudekomplex wird nach seiner Fertigstellung über 20 Milliarden Dollar gekostet haben – das teuerste privat finanzierte Immobilienprojekt der US-Geschichte. Viele New Yorker sehen darin aber vor allem eine architektonische Sünde und einen weiteren öffentlichen Ort, der alles bietet außer Sitzbänken und somit zum Konsum zwingt, statt zum Verweilen einzuladen.

»Hier sehen Sie eine weitere Oase der Superreichen«, richtet sich Mike Pellagatti an seine Tour-Gäste, ohne seine Abneigung gegenüber dem neuen Stadtviertel zu verbergen. »Ein weiterer Ort, an dem Menschen mit zu viel Einkommen ihr Geld in irgendwelchen gläsernen Wolkenkratzern anlegen können – ja, von denen haben wir hier in New York wahrlich mehr als genug.«

Die US-Immobilienbranche sei seiner Meinung nach überhaupt der größte Killer der US-Mittelklasse, erzählt mir Mike anschließend im Interview, »sogar noch schlimmer als die Finanzbranche«. Wundere es irgendjemanden, dass ausgerechnet ein Bauherr und Immobilienhai aus New York im Weißen Haus sitzt?

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