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5. Kapitel
ОглавлениеWie ein Mahnmal ragte die teilweise skelettierte Hand aus dem feuchten Erdreich und die gekrümmten Finger schienen sich zu einer Faust ballen zu wollen, gerade so, als wolle sie jemanden festhalten und daran zu hindern, von diesem Ort zu verschwinden.
Helmut Franzen von der Spurensicherung hatte auf Anweisung seines Chefs, Heinz Peters, die Hand freigelegt und dabei festgestellt, dass sie mit weiteren Knochenteilen verbunden war, es sich also unter Umständen um eine komplette, skelettierte oder aber um eine teilweise mumifizierte Leiche handeln konnte.
Und so hatte Peters angeordnet, erst einmal den Fundort weiträumig abzusperren und dann eine Ausgrabung vorzunehmen, die auf keinen Fall zu irgendeiner Beschädigung der Leiche führen würde. Franzen begann mit der Ausgrabung und fluchte insgeheim darüber, dass er für diese Schufterei auserkoren worden war. Aber er hatte gleich eingesehen, dass Hilfskräfte wie Feuerwehr oder Leichenbestatter hier fehl am Platz waren. Das hier war Polizeiarbeit, die das Vernichten eventueller Spuren nicht zuließ.
Es dauerte nahezu eine halbe Stunde, bis Franzen das Erdreich um den Toten herum beseitigt hatte und nur noch der Bereich mit Erde versehen war, unter der sie den Körper, oder das, was von ihm übriggeblieben war, vermuteten.
Durch die Ausgrabung hatte sich ein Graben rund um das Objekt gebildet, in welchen nun auch Peters stieg und gemeinsam mit Franzen vorsichtig mit kleinen Schabeisen nach und nach, soweit es möglich war, den Fund vom Erdreich befreiten.
„Das ist kein Skelett“, rief Franzen seinem Chef zu.
Der Körper der Leiche ist verhältnismäßig gut erhalten. Teilweise mumifiziert, würde ich sagen. Schau dir das einmal an.“
Peters stieg zu Franzen in den Graben, der sich langsam mit Wasser zu füllen begann. Franzen hielt ihm ein Schabeisen hin und Peters begann vorsichtig, etwas Erde abzutragen, bis er auf den Umriss der Leiche stieß.
„Du hast Recht, Kollege. Wir werden den gesamten Block am Stück sichern und auf dem Weg unterhalb des Moores bringen lassen“, entschied er und stieg aus dem Graben. Franzen folgte ihm und Erleichterung stand in sein Gesicht geschrieben.
„Ich benötige dazu Ihre Hilfe, Herr Kresser“, wandte er sich an den Förster. „Könnten Sie mir eine Arbeitsmaschine besorgen, die zum einen bis zu diesem Ort durchdringt und zum anderen den Block, ohne ihn zu zerstören vorerst bis zum Weg bringen kann?“
Kresser schien zu überlegen, dann nickte er. „Ich glaube, das lässt sich machen, wenn die Kosten gedeckt werden.“
Er sah Peters fragend an.
„Natürlich werden die Kosten erstattet, was glauben Sie?“
Peters schien verärgert ob dieser Bemerkung. „Sie haben also jemanden an der Hand mit so einer ... Maschine?“
Kresser nickte. „Nicht weit von hier hat sich eine Gartenbau-Firma außerhalb der Ortschaft angesiedelt. Eine der Arbeitsmaschinen von dort wird schon in Frage dafür kommen.“
Kresser zückte sein Handy, doch Peters gab ihm ein Zeichen, zu warten.
„Das Gerät muss den kompletten Block sichern können, sagen Sie ihm das“, verlange er und Kresser nickte erneut.
„Warten Sie!“ Peters winkte mit der Hand ab, so dass Kresser sein Telefon erneut sinken ließ. „Diese Leiche ist noch einigermaßen gut erhalten, zumindest hat es den Anschein. Fragen Sie in der Firma nach, ob die Möglichkeit besteht, sie mit ihrer moorigen Hülle nach Trier in die Gerichtsmedizin zu bringen. Hier können wir nur mehr falsch als richtigmachen.“
Kresser wählte eine Nummer und kurz darauf konnte er Peters bestätigen, dass ein Traktor mit einem großen Frontlader auf dem Weg zu ihnen sei.
„Ein Bagger wäre zu schwer für das Gelände hier, hat mir Merxheimer, so heißt der Inhaber der Firma, versichert. Ein Traktor käme da schon eher infrage.“
Dann sah er Peters an. „Aber was ist, wenn auch das nicht funktioniert? Ich meine, falls der Traktor auf diesem Boden keinen festen Stand bekommt?“
„Dann müssen wir eben selber ran“, knurrte Peters und er glaubte zu wissen, dass es auch so kommen würde.
„Rufen Sie noch einmal bei der Firma an. Sagen Sie denen, sie sollen eine große stabile Plane mitbringen, möglichst eine, die mit Griffen versehen ist. Ich habe die Befürchtung, dass wir diesen Erdblock mit seinem traurigen Inhalt mit unseren Händen bis zum Weg tragen müssen.“
***
„Was meinst du, wie der Tote ins Moor gelangt ist?“, fragte Leni mit Blick auf die Bergung, die reibungsloser verlief, als sie sich das vorgestellt hatten. „Es ist ja noch gar nicht gesagt, ob eine Straftat vorliegt. Vielleicht ist es ein Soldat aus dem Zweiten Weltkrieg, wer weiß.“
„Ich glaube ja auch nicht, dass hier jemand im Moor versinken kann, jedenfalls nicht so tief, dass ein kompletter Körper im Erdreich verschwindet“, antwortete Overbeck. „Im Übrigen habe ich darüber mal eine Studie gelesen. Die besagt, dass ein Mensch nicht einfach so im Moor versinken kann. Ein physikalischer Vorgang verhindert das.“
„Das hast du gelesen?“, zeigte sich Leni erstaunt. „Wie kommt es dann, dass immer wieder mal Leichen, Skelette oder Mumien aus dem Moor geborgen werden?“
Overbeck beobachtete den Frontlader, der langsam aus dem Moorbereich auf den befestigten Weg zurücksetzte und zuckte mit den Schultern.
„Also, soweit ich mich erinnern kann, hängt das mit dem Auftrieb zusammen. Was ich damit sagen will: Ein Mensch versinkt zu einem Teil und wird dann durch den Auftrieb des Wassers, das in dem Moor auch nur eine gewisse Tiefe hat, an weiterem Versinken gehindert.“
„Das ist mir zu kompliziert.“ Leni schüttelte verständnislos den Kopf. „Auftrieb in der Luft, das kenne ich, aber in der Erde ...?“
Der Frontlader hatte den Weg erreicht und stellte sich in Fahrtrichtung zur Ortschaft. Die Schaufel mit seinem Inhalt ließ er nun langsam abwärts gleiten und legte sie schließlich auf dem Weg ab.
„Also ich will dir keinen Vortrag halten, aber soweit ich mich erinnere, hat der Moorschlamm ein spezifisches Gewicht, das über dem von Wasser liegt. Ein eingetauchter menschlicher Körper also, dessen Dichte etwa der von Wasser entspricht, geht nicht unter, sondern er erfährt schon dann einen Auftrieb, wenn er nur teilweise eingetaucht ist. Wir werden mit dem Pathologen darüber reden. Kann sein, dass ich da auch etwas verwechsle. Ist schon zu lange her.“
Doch Leni gab sich mit der Antwort nicht zufrieden. „Aber man hat doch schon oft Moorleichen gefunden. Also müssen sie doch versunken sein.“
„Früher hat man im Moor Bestattungen vorgenommen. Das ist die eine Sache“, meinte Overbeck. „Oder aber man hat Opfer von Verbrechen im Moor verbuddelt, weil man der Meinung war, das Moor verschlinge alles.“
Die Stimme Franzens rief sie aus ihren Überlegungen. „Was machen wir mit dem … Fund?“ rief Franzen Peters zu, der sich mit dem Fahrer des Treckers unterhielt. Dann nickte Peters und gab dem Fahrer die Hand, der seinen Trecker bestieg und ihn startete.
„Er kommt nachher wieder“, sagte Peters. „Mit einem Klein-Lkw. Dann können wir uns die Leiche in aller Ruhe in der Gerichtsmedizin ansehen.“
Als der Traktor hinter der nächsten Biegung verschwunden war, traten Leni und Overbeck zu den beiden Spusi-Kollegen.
„Wir werden uns mal im Ort umhören. Vielleicht gibt es dort ja noch jemanden, der sich an die vergangenen Zeiten erinnern kann. Vielleicht gab es hier oben ja Kämpfe im 2. Weltkrieg, obwohl ich mir das nicht vorstellen kann. Im Moor? Andererseits: warum nicht? Braucht Ihr Unterstützung?“, fragte Overbeck schließlich, doch er erhielt ein Kopfschütteln.
„Wir bleiben in Verbindung.“
„Meinst du das tatsächlich erst, das mit dem Umhören im Ort?“, fragte Leni ungläubig, als sie die Gruppe verlassen hatten und zum Auto gingen.
„Wen willst du da fragen? Du weißt nicht einmal, wie alt der da hinten ist.“
Leni zeigte mit dem Daumen nach hinten, ohne sich umzudrehen, wo Peters und Franzen mit kleinen Traufeln begannen, das Skelett freizulegen.
„Es wird sich doch noch irgendwo ein Veteran finden, der uns Auskunft darüber geben kann, ob hier oben Kämpfe stattgefunden haben. Wir werden uns auf die Dorfältesten beschränken oder einige Altersklassen darüber oder darunter.“
„Na, dann viel Spaß“, lachte Leni. „Am besten beginnen wir dann im Forstenauer Seniorenheim. Da dürfte der Erfolg garantiert sein.“
„Warum nicht?“ Overbeck nickte und als Leni ihn ansah, konnte sie keine Häme in seinen Gesichtszügen erkennen. „Wer im Seniorenheim lebt, muss ja nicht unbedingt jenseits von Gut und Böse sein.“
Als sie sich auf dem Rückweg befanden und die Ortschaft Forstenau erreichten, meldete sich Leni, die auf der Fahrt bis dahin geschwiegen hatte, zu Wort.
„Wie wäre es denn, wenn wir Lauheim befragten? Er ist doch hier der Heimatforscher und wenn einer darüber Bescheid weiß, dann doch er.“
„Eine gute Idee, Leni, hätte von mir sein können. Fahren wir also in sein Domizil: zum Historischen Bahnhof.“
Overbeck trat das Gaspedal durch und meinte scherzhaft: „Würde mich nicht wundern, wenn er bereits wüsste, wer sich hinter dem Toten im Hochmoor verbirgt.“