Читать книгу Niemand schweigt für immer - Hannes Wildecker - Страница 9
4. Kapitel
ОглавлениеAls das Telefon läutete, konnte Albert Lehnau noch nicht ahnen, dass dieser Anruf sein Leben bedeutend verändern würde.
Es war kurz nach 13 Uhr, als er gesättigt vom Mittagstisch den Teller von sich schob und seiner Frau Anna ein verhaltenes Zeichen gab, dass ihm die Mahlzeit geschmeckt hat. Alleine dieses Lächeln, das Aufblitzen seiner Augen war ihr Lob und Anerkennung genug, heute, da sie alt waren und auf engem Raum miteinander lebten.
Sie erinnerte sich bei solchen Gelegenheiten gerne daran, wie es früher gewesen war. Früher, als er noch Komplimente machte und sich für eine gute Mahlzeit überschwänglich bedankte. Ja, heute reichte ihr schon dieses dankbare Aufblitzen in seinen Augen und Anna lächelte zufrieden, während sie begann, das Geschirr vom Tisch wegzuräumen.
Das Telefon läutete zum zweiten Mal und Lehnau erhob sich schwerfällig zu seiner Größe von fast einem Meter neunzig, um die wenigen Meter zur Anrichte gemächlich zurückzulegen. Als es zum dritten Mal läutete, hatte er das Telefon erreicht, hob den Hörer ab und meldete sich.
Bevor er irgendetwas sagen konnte, vernahm er die hektische Stimme seines Sohnes. Klaus Lehnau war Waldarbeiter und nicht Landwirt, wie es sich sein Vater eigentlich gewünscht hatte. Den Betrieb übernehmen, das war für seinen Sohn keine Option gewesen und so schloss Albert Lehnau die Akte Landwirtschaft vor einigen Jahren aus Altersgründen und mangels einer Nachfolge für immer. Heute war er 71 Jahre alt, zwei Jahre älter als Ehefrau Anna und genoss mit ihr gemeinsam seinen Ruhestand.
Seinem Sohn war er nicht mehr gram ob dessen Entscheidung. Es kommt alles, wie es kommen muss, pflegte er immer zu sagen und es war so gekommen, wie es offensichtlich am besten war. Am besten für seinen Sohn, seinen einzigen, der heute auch bereits seine 49 Lenze zählte.
Albert Lehnau hörte schweigsam zu, was ihm sein Sohn zu berichten hatte, während er sich einen Stuhl herbeizog und sich langsam darauf niederließ. Sein Gesicht unter den spärlichen grau Haaren schien fahl geworden und als er schließlich die Stimme anhob, klang sie selbst in seinen eigenen Ohren fremd.
„Bist du sicher?“, fragte er und musste sich räuspern, weil der Kloß, den er im Hals verspürte, anzuwachsen schien.
Dann hörte er noch eine Weile zu und nickte langsam mit dem Kopf, dessen Kinnspitze sich langsam in Richtung seiner Brust bewegte.
„Einmal musste es ja so kommen“, hauchte er in die Muschel. „Er will nach so vielen Jahren noch seine Rache haben.“
Offensichtlich wurde er durch die Stimme seines Sohnes unterbrochen, denn er lauschte wiederum zu, was dieser ihm zu sagen hatte. Dann nickte er und atmete tief durch.
„Vielleicht hast du Recht. Wenn wir weiter schweigen, kann uns nichts geschehen. Wir werden uns nicht von diesem … von ihm beherrschen lassen.“
Lehnau hörte ein Geräusch hinter sich und fuhr herum. Anna stand vor ihm und machte ein besorgtes Gesicht. „Gibt es Probleme?“, fragte sie freundlich und Lehnau fragte sich, ob sie etwas von dem, was er sagte, verstanden hatte. Er wischte den Gedanken jedoch schnell beiseite, wusste er doch, wie es um das Hörvermögen seiner Frau stand.
„Klaus hat angerufen“, begann er die Lüge mit einer wahren Behauptung. „Ich soll dich grüßen. Vielleicht kommt er nach der Arbeit noch auf ein Bier zu uns.“
„Das wäre schön.“
Anna lächelte und die Freude über den Besuch ihres Sohnes war ihr anzusehen. Allzu selten ließ er sich bei den Eltern blicken, obwohl er mit seiner Familie im selben Dorf wohnte. So dachte Anna, die ihn am liebsten jeden Tag um sich gehabt hätte. Wenn er einmal die Woche zu ihr kam, alleine oder mit seiner Frau Ilse, hielt sie das eben für eine Seltenheit. Hätte Klaus doch nur Kinder, sagte sie sich insgeheim, dann würden sich diese wenigstens ab und zu bei ihren Großeltern blicken lassen, auch wenn sie dann bereits im Erwachsenenalter sein würden. Aber das war leider nicht der Fall. Die Ehe war bislang kinderlos geblieben und wahrscheinlich würde es auch so bleiben. Die Jahre waren eben nicht stehengeblieben.
„Hat er von der Arbeit aus angerufen?“, fragte Anna beiläufig, während sie das Geschirr in die Spüle stellte und heißes Wasser einlaufen ließ und ohne eine Antwort abzuwarten: „Er wird sich noch den Tod holen, bei diesem Wetter.“
„Er ist die Arbeit gewohnt, Anna“, antwortete Lehnau. „Sie reparieren den Knüppeldamm“, fügte er geistesabwesend hinzu. Ihn plagten im Moment andere Sorgen als die unbegründeten Ängste seiner Ehefrau. Was sein Sohn ihm soeben mitgeteilt hatte, ließ die Geschichte einer ganzen Generation in seinem Kopf wiederaufleben. Das, was er seit zig Jahren aus seinem Gedächtnis verbannt hatte, konfrontierte ihn mit aller Vehemenz mit der Gegenwart.
Lehnau beobachtete gedankenverloren seine Frau, während sie in gebeugter Haltung das Geschirr spülte. Sie sieht älter aus, als sie in Wirklichkeit ist, dachte Lehnau. 69 Jahre, aber ihrem Körper sieht man die Arbeit der vergangenen Jahrzehnte an, ihr Gehör hatte mit der Zeit nachgelassen und manchmal hatte Lehnau den Eindruck, auch die Freude am Leben sei ihr irgendwie verlorengegangen.
Anna trocknete sich mit einem Lächeln in seine Richtung die Hände mit einem kleinen Handtuch, das sie anschließend sorgfältig über die Lehne eines Stuhles hängte. „Wir sehen uns später“, sagte sie leise und schlurfte zur Küchentür. „Ich werde mich noch ein wenig hinlegen.“
Als sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, griff er zum Telefonhörer und wählte die erste von drei Nummern im Ort Forstenau. Man würde sich treffen müssen, schon bald. Es galt, eine Absprache zu treffen, ein Übereinkommen, und irgendwie kam es ihm genauso vor wie damals, als sie im Geheimen aufeinandertrafen, damals den Blick nach vorne gerichtet im Gegensatz zum derzeitigen Zeitpunkt. Nun wurde der Blick in die Vergangenheit gelenkt, einer Vergangenheit, der sich niemand von ihnen würde entziehen können.