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1.Kapitel

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Forstenau 60 Jahre später

Es war einer dieser Tage, an denen man glauben mochte, der Himmel würde einem auf den Kopf fallen. Die dunklen Wolken hatten sich verdichtet und eine deprimierende dunkle Glocke über den Hunsrück gelegt.

Eigentlich hatte sich das Völkchen auf der rechten Moselseite mehr von einem Goldenen Oktober versprochen, doch trotz aller Wetterprognosen, die für den November zwar Kälte, dafür aber gesunde Trockenheit vermeldeten, vermochte niemand so richtig an das Vorhergesagte zu glauben.

Die Arbeiten in der freien Natur stagnierten an diesem Mittwochmorgen, das Sägen und Äxteschlagen, dessen Hall aus den Wäldern bis in die Ortschaft Forstenau getragen wurde, war weitgehend vorübergehend verstummt.

Einer allerdings trotzte dem Wetter und machte sich mit einer gesunden Portion Optimismus auf zur Höhe des Osburger Hochwalds: Förster Herbert Kresser. In seiner Begleitung befanden sich fünf Arbeiter, teils Waldarbeiter, teils Männer, die von sozialen Unterstützungen lebten und sich etwas zu ihrem Lebensunterhalt dazuverdienen wollten.

„Das Wetter reißt bald auf“, hatte Kresser vor wenigen Stunden noch zu den Männern gesagt. „Während diesen regenfreien Phasen werden wir unsere Arbeiten voranbringen.“

Was er mit Arbeiten meinte, wusste jeder der fünf. In den vergangenen Tagen hatten sie bereits an dieser Stelle, meist unter den gleichen Umständen, die sie auch heute wieder vorfanden, Reparaturarbeiten an einer Touristenattraktion, dem sogenannten Knüppeldamm, der den Gästen der Region erlaubte, trockenen Fußes das Hochmoor zu durchqueren, ausgeführt.

Die Planken des 410 Meter langen hölzernen Dammes waren nass und boten den Arbeitern kaum einen Halt. Das Moos, das sich mit der Zeit auf dem Holz angesiedelt hatte, setzte alles daran, den Fuß, der es betrat, haltlos werden zu lassen. Insbesondere dort, wo sich die Planken aufgrund ihrer Altersschwäche verzogen und teilweise eine schiefe Ebene gebildet hatten, war die Gefahr für Passanten dieses Knüppeldamms zu groß, um nicht endlich einer umfangreichen Reparatur zugeführt zu werden.

Rund 20.000 Wanderer kamen nach Angaben der Tourist-Information jedes Jahr hierher, denn die Gegend um Forstenau mit dem 708 Meter hohen Rösterkopf, dem höchsten Punkt im Schwarzwälder- und Osburger Hochwald, war Naturschutz- und Erholungsgebiet zugleich.

Das, was Tourist- Information und der Forst als die Attraktion des Hunsrücker Hochwalds bezeichneten, bestand eigentlich aus zwei für diese Gegend eher seltenen geologischen Gebilden. Da war zum einen das Moorgebiet, mehrere Kilometer von der Ortschaft Forstenau entfernt an der Verbandsgemeindegrenze, wobei man immer wieder mal gerne mit dem angrenzenden Gemeindeverband zwecks Bestimmung der genauen Liegenschaftsverhältnisse in den Ring stieg. Da sich dieser rund sieben Hektar große Bereich des rheinischen Schiefergebirges leicht abschüssig auf den bewaldeten Höhen befand, wurde er im Volksmund auch Hochmoor genannt.

Die Leute vom Forst runzelten angesichts dieser Namensgebung durch die Nicht-Insider die Stirn. Für sie lautete die richtige Bezeichnung Quellmoor. Den Unterschied erklärte Förster Kresser mit eindringlicher Vehemenz jedem, der dieses Thema auch nur peripher anschnitt.

„Ein Hochmoor erhält seine Feuchtigkeit durch das Regenwasser. Ein Quellmoor hingegen wird überwiegend von den unterirdischen Wasserläufen, also dem Grundwasser gespeist, was zur Folge hat, dass die für ein Quellmoor typischen Pflanzen hier bewundert werden können.“

So schwärmten die Herren in Grün immer gerne mal wieder vom Torfmoos, dem Pfeifen- und Wollgras, Prosera und Bärlapp. Vor allem aber die typische Moobirke ließ das Herz der Forstmänner höherschlagen, ein Baum, der sich seit Jahrhunderten in den Mooren der hiesigen Region gehalten hatte. Während das Quellmoor eine der Sehenswürdigkeiten in dieser Gegend darstellte, fand man hier ebenfalls den zweiten Teil der Attraktivität, den zuvor erwähnten Knüppeldamm, der das Ziel der angeordneten Arbeiten darstellte.

Um den Menschen die Möglichkeit zu geben, das gesamte Moor zu durchqueren, hatte man bereits vor 1970 diesen 410 Meter langen Damm quer durch den Sumpf gebaut. Dreißig Jahre später wurde er renoviert und just hier und heute erhielt er nun wiederum, der Sicherheit halber, eine Rundumerneuerung.

Die Treffer der Hämmer in den starken Händen der Arbeiter hallten im Wald wider und wenn ein Schlag danebenging, spritzte den Männern das Wasser, das sich auf den Holzdielen sammelte, um die Ohren.

„Wir sollten eine Pause einlegen!“ rief Förster Herbert Kresser den Leuten nach geraumer Zeit zu. Es waren fünf an der Zahl, die, auf Knien rutschend, die maroden Planken gegen neue austauschten. Der Himmel hatte für kurze Zeit vergessen, warum er die starken Regenwolken über dem Hunsrück angeordnet hatte und gestattete einen kurzen Blick auf den dahinter erkennbaren blauen Himmel, doch genauso schnell konnte sich diese Lücke auch wieder verschließen.

„Kaum haben wir begonnen, macht uns das Wetter schon wieder einen Strich durch die Rechnung“, ließ Kresser ärgerlich verlauten und schlug sich mit beiden Händen das Wasser von seiner imprägnierten Jacke.

Die Leute nickten und erhoben sich schwerfällig. Sie sahen zu Kresser hinüber, der über die Fläche des Hochmoors in Richtung Westen zeigte.

„Es wird bereits heller, dort hinten. Lasst uns solange zu den Birken am Bach dort hinten hinübergehen, da sind wir etwas geschützt. Zu den Autos ist es zu weit. Ich glaube, das lohnt auch nicht mehr. Das Wetter scheint langsam besser zu werden. Wir werden bald weiterarbeiten können.“

Die Männer beobachteten, wie Kresser, der mit seinen nahezu sechzig Lebensjahren einen gelenkigen Schritt vom Knüppeldamm auf die Hochmoorfläche machte, um anschließend bis zu den Knöcheln im Morast einzusinken. Es ertönte ein schmatzendes Geräusch aus dem nassen Boden und Kresser lachte. Sein glattrasiertes Gesicht strahlte dabei eine große Freundlichkeit aus, die sich immer mal wieder auch auf seine Mitarbeiter übertrug.

„Hier ist der Untergrund ziemlich fest. Kommt mir nach. Das Moor wird uns schon nicht verschlingen.“

Nacheinander sprangen die Arbeiter zu ihm hinüber und folgten dem Förster, der weiter in das Moor hineinging, dorthin, wo sich ein kleiner Weiher angestaut hatte, der von einigen größeren Bäumen umgeben war.

„Hier bleiben wir die nächsten Minuten“, sagte Kresser und zeigte auf die Wasseransammlung.

„Dort werden wir in den nächsten Tagen auch mal klar Schiff machen, den Damm beseitigen und das angeschwemmte Holz beiseiteschaffen. Dann wird es auch in der Umgebung des Baches wieder trockener.“

Zu den Arbeitern gewandt sagte er: „Es muss sein, sonst spült uns der Bach die Oberfläche noch mehr weg. Hier hat er ja schon fast dreißig Zentimeter der Moorabdeckung abgetragen.“ Zur Bestätigung rammte er den rechten Fuß seines mit Stahlkappen verstärkten Stiefels mehrmals in den durchweichten Boden und verspürte plötzlich Widerstand. Er scharrte weiter mit der Fußspitze und als er genauer hinsah, glaubte er im ersten Moment, dürres Geäst zum Vorschein gebracht zu haben. Doch ein genauer Blick darauf belehrte ihn eines Besseren.

„Tierknochen“, bemerkte er desinteressiert und zog den Kragen seiner wasserdichten Jägerjacke enger um seinen Hals. Von der Krempe seines grünen Jägerhutes, die sich vom Grün des mittleren Kopfteils mit einem helleren Farbton unterschied, lief ein kleines Rinnsal Wasser vor ihm zu Boden. Kresser ging in die Hocke und griff nach einem dürren Birkenzweig, von jenen Bäumen, die hier wuchsen und auf deren Existenz er stolz war. Die Moorbirken. Seine Moorbirken.

Er dachte mit Schrecken daran, dass man hier vor langer Zeit mit Fichten aufgeforstet hatte, ein Fehltritt sondergleichen, wie er es jedem, der mit ihm über die Botanik des Hochmoors diskutierte, vorwurfsvoll mitteilte. Doch bereits 1998 hatte man unter seiner Leitung das ganze Nadelholz entfernt und den Neubewuchs mit der Pflanzung von 800 Moorbirken beschleunigt.

Damals, im 18. Jahrhundert, hatte man zur Entwässerung des Quellmoors umfangreiche Grabensysteme angelegt, deren Entwässerungsgräben immer noch deutlich zu erkennen waren und die ihm immer wieder Arbeit bereiteten. Denn sie brachten mit ihrem Wasser Geäst und Moos bis zu dem Wehr am Weg und verstopften den Weiterfluss. Es würde eine der nächsten Arbeiten sein, diese Gräben für den Wasserablauf wieder funktionstüchtig zu machen.

Mit dem Zweig hob Kresser den vermeintlichen Tierknochen um einige Zentimeter an, um ihn schließlich aus dem Erdreich zu lösen. Die Form des kleinen Knochens ließ ihn nachdenklich werden und er beugte seinen Oberkörper vor, um ihn einer genaueren Betrachtung zu unterziehen.

Das ist kein Tierknochen, dachte er. Nein die Form passte nicht zu einem Tier. Für ihn als Förster und Jäger war die Anatomie von Tieren, insbesondere von Waldtieren das kleine Einmaleins der Jägerei.

„Das hier ist kein Tierknochen“, wandte er sich zu den Waldarbeitern und scharrte mit dem Stock die Erde um den Knochen beiseite. Ein weiterer Knochen kam zum Vorschein und dann noch einer. Kresser schreckte zurück. Das, was er dann sah, war ein Etwas, überzogen mit einer lederartigen Haut.

„Das ist eine Hand … verdammt, eine menschliche Hand. Nein, bleibt, wo Ihr seid. Wir dürfen keinen Fehler machen“, mahnte er die Männer, die nach seiner Bemerkung sofort herantreten und einen Blick auf den Fund werfen wollten.

„Vielleicht ist es ein Soldat aus dem letzten Krieg. Vielleicht aber auch nicht.“ Kresser nestelte sein Handy aus der Seitentasche seiner grünen Dienstjacke. „Ich werde die Polizei verständigen. Wenn es tatsächlich Menschenknochen sind, und danach sieht es aus, ist ein Verbrechen zumindest nicht auszuschließen.“

Niemand schweigt für immer

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