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Skeptizismus und Dogmatismus

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Es ist vermutlich nicht übertrieben, zu sagen, dass die Geschichte des Skeptizismus eng mit der Geschichte des Dogmatismus verknüpft ist. Das griechische Substantiv dogma bedeutet ursprünglich ‚Meinung‘ oder ‚Ansicht‘. Das griechische Verb dogmatizein bedeutet entsprechend ‚eine Meinung/Ansicht vertreten‘. Man glaubt, etwas zu wissen, nicht bis zu einem gewissen Grad, sondern mit absoluter Sicherheit. ‚Etwas meinen‘ und ‚eine Meinung haben‘ stehen also in der griechischen Antike im scharfen Gegensatz zu ‚nicht (mit Sicherheit) wissen‘ oder ‚keine Meinung haben‘. Ein Dogmatiker ist jemand mit festen Überzeugungen, während ein Skeptiker ein Mensch ist, der gerade solche Überzeugungen anzweifelt. Jedes Mal also, wenn jemand eine Meinung äußert, kann diese Meinung wieder Gegenstand des Zweifels werden. Diese fundamentale Dialektik zwischen Wissen und Nichtwissen, zwischen Dogma und Skepsis scheint die Grundlage unseres Wissenserwerbs zu sein. Wir lernen durch Hinfallen und Aufstehen. Wir bilden uns eine Meinung zu etwas, zweifeln diese Meinung dann aus welchem Grund auch immer an, bilden uns notfalls wieder eine neue Meinung und so weiter. Dogma und Skepsis scheinen untrennbar zu sein.

Und dennoch verfangen sich überraschend viele Menschen – unabhängig von Zeit oder Thema – in Dogmen, die sie als über jeden Zweifel erhaben erachten. Sie zerbrechen sich nicht den Kopf darüber, ob sie ihre Ansichten einmal kritisch überdenken sollten – ja, sie kommen noch nicht einmal auf diese Idee. Eine moderne Form dieses Dogmatismus ist der sogenannte Fundamentalismus. In ihrem leicht zugänglichen Buch Lob des Zweifels. Was ein überzeugender Glaube braucht widmen die beiden Soziologen Peter L. Berger und Anton C. Zijderveld diesem wichtigen Phänomen sogar ein ganzes Kapitel und auch an späterer Stelle kommen sie regelmäßig wieder auf dieses Thema zu sprechen. Fundamentalisten werden von Berger und Zijderveld auch – ziemlich sarkastisch – als „fraglos Gläubige“ typisiert.1 Eigentlich ist dies ein noch weiterer Begriff, denn während Fundamentalisten nur religiöse Gläubige sind, verstehen Berger und Zijderveld unter fraglos Gläubigen all jene, die ihre Sicherheiten in einer bestimmten kulturellen Strömung – wie im Glauben, in der Wissenschaft oder im postmodernen Relativismus – gefunden haben. Mit anderen Worten: Nicht nur religiöse Gläubige sind dogmatisch, auch Wissenschaftler und Intellektuelle können dies sein. Kennzeichnend ist, dass sie allesamt in gewisser Hinsicht der Skepsis radikal abgeschworen haben, um sich vermeintlichen Wahrheiten zuzuwenden.

Diese Verleugnung des Zweifels kann äußerst gefährlich sein, wie wir inzwischen aus eigener schmerzhafter Erfahrung wissen. Wir müssen nur an die zahlreichen, abscheulichen Terrortaten denken, die im Namen irgendeiner religiösen Überzeugung oder politischen Ideologie begangen wurden. Weniger dramatisch, aber auch nicht ganz unschuldig ist das dogmatische Verhalten einiger zeitgenössischer Wissenschaftler. Der Neurowissenschaftler Mario Beauregard und die Wissenschaftsjournalistin Denyse O’Leary zeigen in ihrer faszinierenden Studie The Spiritual Brain. A Neuroscientist’s Case for the Existence of the Soul, dass die Verteidigung des von den meisten tonangebenden Wissenschaftlern vertretenen materialistischen Weltbilds bisweilen wahrlich inquisitorische Formen annehmen kann. So müssen z.B. Wissenschaftler, die sich ernsthaft und ohne Vorurteile der Hypothese des ‚Intelligent Design‘ verschrieben haben, mitunter mit wahren Lästerkampagnen vonseiten ihrer materialistisch denkenden Kollegen rechnen.2 Jede Untersuchung, die die Möglichkeit einer dem Weltall zugrundeliegenden Zielgerichtetheit, eines Entwurfs oder einer Bedeutung in Aussicht stellt, wird als Bedrohung der Wissenschaft betrachtet. Nach Beauregard und O’Leary ist der Materialismus zweifellos ein Glauben, den viele Intellektuelle niemals in Frage stellen werden. Offensichtlich kann eine Verleugnung der Skepsis dort zu Dogmatismus führen, wo man es absolut nicht erwarten würde, nämlich ausgerechnet bei Menschen, die das kritische Denken zu ihrem Beruf gemacht haben.

Man kann den Spieß übrigens auch umdrehen. Wie soeben gezeigt, kann eine Fixierung auf Dogmen jedweder Art zu einem starren Blick auf die Wirklichkeit führen, der sich dann gegen Andersdenkende richtet. Aber man kann sich auch umgekehrt auf die Skepsis fixieren und dabei einen vernichtenden Relativismus entwickeln. Nach Ansicht der bereits erwähnten Soziologen Berger und Zijderveld ist der sogenannte Postmodernismus ein deutliches Beispiel hierfür. Postmodernisten verwerfen die Vorstellung einer objektiven Wahrheit. Die großen, religiösen Geschichten verlieren ihre Autorität; die Tradition wird äußerst zweifelhaft. Selbst Tatsachen können nicht objektiv verifiziert werden. Es gibt nur diverse Kommentierungen der Wirklichkeit, die alle gleichwertig sind. Der Leser merkt, dass dieser postmodernistische Relativismus viel Ähnlichkeit mit dem im letzten Abschnitt besprochenen absoluten Skeptizismus hat. Vorläufer des Postmodernismus sind Karl Marx (1818–1883), Friedrich W. Nietzsche (1844–1900) und Sigmund Freud (1856–1939); Nachfolger sind Michel Foucault (1926–1984), Jacques Derrida (1930–2004) und Richard Rorty (1931–2007).

Insbesondere Derrida ist radikal und schlägt vor, den gesamten Prozess der Wahrheitsfindung mittels des Verstandes und der empirischen Wissenschaft einfach aufzugeben, so Berger und Zijderveld. Diese beiden Soziologen hingegen betonen die Wichtigkeit empirischer, also auf Erfahrung beruhender Tatsachen, die ihrer Meinung nach durchaus eine Form von Objektivität zulassen. Dabei spielt ihnen zufolge das Prinzip der Evidenz eine wichtige Rolle. So schreiben sie unter anderem: „Was ist eine Sache? Alles, was unseren Wünschen Widerstand leistet und sich uns aufdrängt, ob wir das mögen oder nicht“.3 Und: „Wenn sich ein Beobachter von den Belegen gezwungen sieht, Aussagen über Fakten zu machen, die seinen Interessen oder Vorurteilen zuwiderlaufen, ist dieser Beobachter höchstwahrscheinlich objektiv“.4 An späterer Stelle der vorliegenden Einführung wird sich herausstellen, dass sich auch ein Skeptiker wie Weischedel dieses Prinzip der Evidenz auf die Fahne geschrieben hat. Er verliert sich daher nicht in einem blinden Relativismus infolge eines übertrieben angewandten Skeptizismus, sondern versucht eine Art Mittelweg zwischen Dogma und Skepsis zu finden. Für ihn stehen Wissen und Nichtwissen nicht länger im krassen Gegensatz zueinander; sie sind vielmehr – auf die oben dargelegte Weise – zwei Seiten derselben Medaille, nämlich des Wissenserwerbs.

Im Schlusswort seines magistralen, aber für Laien nicht gerade zugänglichen Werks Der Skeptizismus in der Philosophie und seine Überwindung aus dem Jahre 1908 (Fortsetzung des 1904 erschienenen ersten Bandes) weist Raoul Richter bereits auf dieses subtile Verhältnis zwischen Skeptizismus und Dogmatismus hin. Ihm zufolge darf man in systematischer Hinsicht niemals in Begriffen wie Dogmatiker oder Skeptiker denken, denn während des Vorgangs des Wissenserwerbs ist jeder in gewisser Hinsicht dies beides. Es gibt schließlich immer Grade des Wissens, bei denen man zwar immer etwas, aber noch lange nicht alles weiß. Ein gewisser Grad an Zuversicht ist deshalb genauso gerechtfertigt wie ein gewisser Grad an Zweifel. Man schwankt immer zwischen Wissen und Nichtwissen. Die auch in der jüngsten Geschichte des Denkens vorkommenden Exzesse von Skeptizismus und Dogmatismus stellen infolgedessen nichts anderes dar als eine einseitige Versteinerung eines bestimmten Standpunkts, der zwar nicht gänzlich unwahr, jedoch auch nicht gänzlich wahr ist. Eine vergleichbare Auffassung findet man, wie noch zu zeigen sein wird, auch bei Weischedel, wenn er sich gegen einen ‚dogmatischen Skeptizismus‘ absetzt und für einen ‚offenen Skeptizismus‘ plädiert. Nur diese letzte Form bewahrt ihm zufolge den richtigen Mittelweg zwischen Dogma und Skepsis.

Wilhelm Weischedels skeptische Philosophie

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