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4 Der Philosophieprofessor
ОглавлениеNach dem Krieg kehrt Weischedel zu Fuß durch Frankreich und Deutschland wieder zu seiner Familie nach Tübingen zurück. Während dieser Fußreise, die als solche einige Zeit beansprucht haben muss, trägt er ein Exemplar von Pascals berühmten Pensées in der Tasche. Ihr Studium versetzt ihn in die Lage, seine akademische Laufbahn wieder aufzunehmen. Denn nach dem Krieg sucht die Tübinger Theologische Fakultät einen Philosophiedozenten mit politisch unbedenklicher Vergangenheit. Also hält der ehemalige Widerstandskämpfer am 7. August 1945 eine Probevorlesung; sie ist nach seinen eigenen Angaben wahrscheinlich der erste akademische Vortrag an einer deutschen Hochschule nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches. Der Titel dieses Vortrages lautet Pascal und der Abgrund des Menschen. Darin werden die Pensées behandelt, die Weischedel auf seiner Fußreise begleitet haben. Das Resultat ist eine Anstellung zunächst an der theologischen und später auch an der philosophischen Fakultät der Universität Tübingen, gefolgt von einer Berufung zum Hochschullehrer an derselben Universität im Jahre 1946. Dort wird er acht Jahre lang bleiben.
Infolge des Nazismus hat Weischedel sich über zehn Jahre lang mit vollkommen anderen Dingen abseits der universitären Lehre beschäftigen müssen, abgesehen vom Schreiben seiner Habilitationsschrift in den Abendstunden, und muss sich wieder gründlich einarbeiten. Außerdem stellt es sich nach dem Zweiten Weltkrieg als unmöglich heraus, die Studenten lediglich die im vorgeschriebenen Lehrplan enthaltenen Inhalte zu lehren. Die jungen Menschen sehen sich nämlich mit vielen existenziellen Fragen und Unsicherheiten konfrontiert. Deshalb nimmt sich Professor Weischedel seinen Studenten auf väterliche Weise an, ganz im Sinne seines Plädoyers für die deutsche Jugend in Der Mut zur Verantwortung. Über diese bewegte Nachkriegszeit an einer deutschen Universität legt er folgendes Zeugnis ab:
„In den ersten Jahren nach dem Ende des Krieges hätte es nicht genügt, die Studenten Philosophie zu lehren. Sie kamen in der überwiegenden Anzahl an die Universität in der vagen Hoffnung, für ihr durch den allgemeinen Zusammenbruch fraglich gewordenes Dasein eine Orientierung zu finden. Es gab daher unendliche Einzelgespräche. Auch versammelten sich mehrmals in der Woche in meinem Hause Gruppen von Studenten […]. Die Probleme an solchen Abenden […] waren fast immer die gleichen: Wie kann man nach den Ereignissen der unmittelbaren Vergangenheit und im Blick auf die Unmenschlichkeiten jener Zeit sich wieder ein sinnvolles Leben ermöglichen? Mit Kummer denke ich an manchen, dem dies trotz aller Bemühungen nicht gelang […]. So gehörte der größere Teil meiner Tage der Fürsorge für die Studenten“.45
Unser Philosophieprofessor ist also kein knochentrockener Akademiker, der sich gewissenhaft an die institutionellen Regeln hält, sondern er entpuppt sich als ein Mensch mit Herz. Und obwohl er zugibt, dass diese Zeit für ihn besonders schwer war, schaut er zugleich mit Genugtuung auf sie zurück. Sie hat ihn so stark geprägt, dass er sie als „die schönste meines akademischen Lebens“ bezeichnet.46 Den Überfluss an Enthusiasmus und Vertrauen, den ihm seine Studenten in dieser Zeit entgegenbringen, wird er so später nie mehr erleben.
Beflügelt scheint Weischedel auch zu sein, wenn er unterrichtet, denn dies tut er auf eine alles andere als schulmeisterliche und langweilige Art. Anstatt mit einer faden Wiedergabe von Tatsachen aus der Philosophiegeschichte konfrontiert er seine Studenten – genau wie Heidegger dies bei ihm tat – mit einer systematischen „Heraushebung des Grundgedankens, aus dem der jeweilige Philosoph denkt, und mehr noch der Grunderfahrung, aus der sein Grundgedanke entspringt“.47 Genau wie Heidegger begnügt Weischedel sich nicht mit oberflächlichen Informationen zu einem bestimmten Denker – beiden geht es vielmehr um den Kern der Sache. Dieser Kern kommt nur dann zum Vorschein, wenn man nicht aufhört, kritische, radikale/skeptische Fragen zu stellen. Diese anspruchsvolle Unterrichtsmethode bringt Weischedel mit an die Freie Universität Berlin, wo er 1953 als Hochschullehrer angestellt wird und wo er bis zu seiner Emeritierung 1970 bleiben wird. Einer seiner besten Schüler, der später bekannt gewordene Nietzsche-Forscher Wolfgang Müller-Lauter (1924–2001), verschafft uns aus retrospektiver Sicht einen schönen Einblick in Weischedels Hörsaal:
„Die bohrende Intensität, mit der Weischedel, auf seine Weise seinem Lehrer Martin Heidegger folgend, Texte auf das in ihnen ungesagt Vorausgesetzte hin befragte, zog die Anspruchsvollen unter den Jüngern mächtig an. Besonders Ende der 50er Jahre kamen viele Philosophiestudenten nach Berlin, um Weischedel zu hören. Es steht mir noch vor Augen, wie lebhaft es in seinen Doktorandenseminaren zuging. Ich brauche nur die Namen meiner damaligen Assistenten-Kollegen zu nennen, um einen Eindruck von der Vielfalt der in Weischedels Umkreis vertretenen Positionen zu geben: Margherita von Brentano, Norbert Hinske, Michael Theunissen.48 Man wird uns vier kaum auf einen Nenner bringen können, es sei denn auf den eines von persönlichem Betroffensein und existentiellem Engagement bestimmten Philosophierens, wie Weischedel es vertrat“.49
In Berlin schließt Weischedel unter anderem Freundschaft mit seinem Kollegen, dem Theologen Helmut Gollwitzer (1908–1993). Gemeinsam halten sie im Wintersemester 1963–1964 über mehrere Wochen hinweg einen öffentlichen Dialog an der Freien Universität, der aus insgesamt achtundzwanzig Vorlesungen besteht. Sie diskutieren tiefgreifend und kritisch über das genaue Verhältnis von Philosophie und Theologie. Während der Theologe meint, dass die Philosophie in Bezug auf Gott eine zwar nützliche, jedoch beschränkte Funktion erfüllt, glaubt der Philosoph im Gegensatz dazu, dass die christliche Theologie lediglich in oberflächlichem Sinne über Gott spricht. Dieser Kampf der Titanen um die allerhöchste Wahrheit erschien 1965 auf ausdrücklichen Wunsch des begeisterten Publikums in Buchform unter dem Titel Denken und Glauben. Ein Streitgespräch. Zu diesem in mehrerlei Hinsicht einzigartigen Werk bemerkt ein wichtiger Kommentator Weischedels 1969:
„Das Buch ist ungewöhnlich. Die beiden Autoren haben nicht, wie es üblicherweise geschieht, bloße Parallelvorlesungen zum gleichen Thema gehalten, sondern einen Weg eingeschlagen, der für den deutschen Universitätsbetrieb neuartig ist. Sie sind in ein engagiert geführtes ‚Streitgespräch‘ eingetreten, in dem einer auf den anderen hörte, und somit beide genötigt waren, ihre Meinungen und Argumente von Vorlesung zu Vorlesung zu überprüfen und gegebenenfalls zu modifizieren. Darüberhinaus ist die Tatsache bemerkenswert, daß Gollwitzer und Weischedel angesichts der gegenwärtigen Situation überhaupt den Versuch gemacht haben, ein theologisch-philosophisches Gespräch zu führen“.50
Weischedels Sicht auf den christlichen Glauben und die Theologie werde ich in Kapitel Veiner ausführlichen Betrachtung unterziehen.
1970, fünf Jahre nach dem Erscheinen von Denken und Glauben, wird der Berliner Philosoph emeritiert. In den fünfundzwanzig Jahren, die ihm nach dem Krieg endlich als akademischem Philosophen vergönnt sind, führt er ein besonders aktives Leben. Er veröffentlicht nicht nur zahlreiche eigene Schriften, sondern gibt auch vorhandene Texte (z.B. Texte von Parmenides, Heraklit, Pascal, Kant, Schelling und Jacobi) neu heraus, hält überall Lesungen und führt Diskussionen. In seinem autobiografischen Aufsatz gibt er freilich deutlich zu erkennen, dass ihn ein Thema stets besonders fasziniert hat: die Philosophische Theologie. Sein umfangreiches Buch Der Gott der Philosophen aus den Jahren 1971–1972, das man als sein erstes Hauptwerk betrachten darf, liefert hierfür einen überdeutlichen Beweis. Es ist ein Werk, das sowohl von Freund als Feind wertgeschätzt wird, sei es auch nur wegen seines enormen Reichtums an Gedanken und Zitaten aus der Philosophiegeschichte. So zeugt es zumindest von der umfassenden Bildung, über die sein Autor verfügt. Außerdem enthält es – in einer Zeit, die immer atheistischer zu werden scheint – eine Alternative, um über Gott nachzudenken. Trotz seines Abschieds vom Christentum seiner Jugend verabschiedet Weischedel sich also nicht von Gott selbst. Auch auf diesen Aspekt werde ich in Kapitel V der vorliegenden Einführung noch näher eingehen.
Außerdem vollendet Weischedel kurz vor seinem Tode am 20. August 1975 noch ein zweites Hauptwerk mit dem Titel Skeptische Ethik. Es erscheint postum im Jahre 1976. Genau wie seinem Buch Der Gott der Philosophen sind auch diesem Werk über die Moral bereits zahlreiche kleinere Texte über dasselbe Thema vorausgegangen. In diesem Sinne kann man sagen, dass Weischedel nicht nur von der Philosophischen Theologie, sondern auch von der Sittenlehre fasziniert war. Der Titel Skeptische Ethik weist schon darauf hin, dass es hier nicht um eine religiöse Ethik geht, denn die christlichen Werte, an denen sich die abendländische Kultur seit zwei Jahrtausenden orientiert, sind aufgrund des Verfalls dieses Glaubens nicht länger verbindlich, so Weischedel. Diese Erosion des Christentums zwingt uns, gemeinsam mit dem bleibenden Bedürfnis nach Richtlinien für das Handeln, neue, allgemein gültige moralische Prinzipien zu formulieren. Genau das ist es, was Weischedel in seiner Skeptischen Ethik tut. Während er jede Form von kulturellem Ballast so weit wie möglich vermeidet, verfolgt er das Ziel, eine für jedermann akzeptable Morallehre zu entwerfen, die einzig und allein auf philosophischem Denken basiert. An späterer Stelle, in Kapitel IV, werde ich hierauf noch ausführlicher eingehen.
Weischedels sehr geistreich geschriebene und leicht zugängliche Texte in Augenschein nehmend, darf man abschließend nicht vergessen, dass hinter diesem besonderen Mann eine starke Frau steht, nämlich seine Gattin Kät[h]e Grunewald (1903–1987). Grunewald, die über den Mystiker Johannes Tauler promoviert hat, wird ab den dreißiger Jahren jede Publikation ihres Mannes einer skeptischen Beurteilung unterziehen. Außerdem schenkt sie ihm zwei Töchter: Martina Elisabeth und Sabine Monika. Kein Wunder also, dass Weischedel Käte unter anderem sein Buch Der Gott der Philosophen widmet – ein Meisterwerk, das zum Glück manchmal im Nachdruck erscheint.