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2 Der kritische Student
ОглавлениеEinmal in Marburg, lernt Weischedel viele theologische Koryphäen kennen. Man kann dabei an Menschen wie Rudolf Otto, Paul Tillich, Friedrich Gogarten, Karl Barth und vor allem Rudolf Bultmann (1884–1976) denken. Insbesondere Bultmann, bei dem Weischedel intensiv Seminare besucht, macht auf ihn einen bleibenden Eindruck. Noch viele Jahre nach seiner Studienzeit schreibt er über Bultmann: „Noch heute gedenke ich seiner als des Meisters im Bereich der Theologie“.6 Zweifellos lernt er über Bultmann dessen ‚Entmythologisierung‘ kennen, ein hermeneutisches Textverfahren, das mythologische Texte bzw. Aussagen auf ihren Wirklichkeitsgehalt hin überprüft. Bultmann meint, dass das mythische Weltbild aus dem Neuen Testament nicht mit unserem modernen, naturwissenschaftlichen Weltbild in Einklang zu bringen ist. Deshalb wäre eine wörtliche Übersetzung der Bibel vollkommen unsinnig. Die biblischen Mythen müssen nicht kosmologisch, sondern anthropologisch oder besser noch existenziell interpretiert werden. Sie beinhalten weniger ein bestimmtes Weltbild, sie wollen vielmehr die Art des menschlichen Selbstverständnisses innerhalb seiner Welt gestalten. Entmythologisiert man die Bibel, dringt man endlich zu ihrer wahren Bedeutung vor: die Gestaltung der menschlichen Existenz.
Obgleich Bultmann wegen seiner unorthodoxen Interpretation der Bibel auf den Widerstand der Kirche stößt, scheint er gerade bei deren nicht gläubigem Lehrling Weischedel ein offenes Ohr zu finden. Bultmann stellt kritische Fragen wie: Was möchte der Autor eines biblischen Mythos jetzt eigentlich im existenziellen Sinn zum Ausdruck bringen? Warum hat er den Text überhaupt geschrieben? Welchen Weg hat dieser Text bereits in der frühen Kirche zurückgelegt? Wo und unter welchen Bedingungen ist er entstanden? Diese Fragen sind nicht destruktiv, zur Entlarvung pertinenter Unwahrheiten, gemeint, sondern konstruktiv, zu dem Zweck, die verborgene Wahrheit hinter den biblischen Bildern aufzudecken. Aufgrund Weischedels skeptischen Vorhabens, zu untersuchen, warum seine christlichen Eltern so denken, wie sie denken, können wir annehmen, dass Bultmanns kritische Fragen genau das waren, wonach er suchte. So stößt man in der Philosophischen Theologie, die Weischedel später entwickelt, wieder auf die von Bultmann vertretene Entmythologisierung, sei es auch in modifizierter Form. Weischedel nimmt diesen Gedanken aus dem theologischen Zusammenhang, in welchem er von Bultmann entwickelt wurde, heraus und überträgt ihn auf das Verhältnis von Theologie und Philosophie. Dem reifen Philosophen zufolge ist „der Gott der christlichen Theologie […] nichts anderes als eine mythologische Fassung des reinen, nämlich des philosophischen Gottesbegriffes“.7 Ist die christliche Theologie damit dann vollkommen unwahr? Keineswegs, sie ist nur „die Wahrheit in ihrer vorläufigen Gestalt“.8
Weischedel schreibt, dass er sein Theologiestudium unter anderem mit zwei Probepredigten absolviert hat. Dem beeilt er sich hinzuzufügen, dass es hier lediglich um „die einzigen Kanzelreden, die ich bis heute gehalten habe“ geht.9 Zum Amt des Predigers hat er sich schließlich niemals wirklich berufen gefühlt. Dafür, bekennt er skeptisch, „fand ich zu wenig von dem in mir, was man landläufig ‚Glauben‘ nennt“.10 Was ihn hingegen – nicht wirklich zu unserem Erstaunen – durchaus anzieht, ist der uralte Sparringpartner der Theologie: die Philosophie. Dieser widmet er in Marburg mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit. Auch in dieser Hinsicht bietet diese Universitätsstadt mehr als genügend Möglichkeiten. Denn außer dem schon damals berühmten Nicolai Hartmann (1882–1950), der unseren kritischen Studenten allerdings „nicht überzeugen“ kann, lehrt dort auch ein gewisser Martin Heidegger.11 Zu ihm hat Weischedel ein ganz anderes Verhältnis. Heidegger unterrichtet zu dieser Zeit eine kleine Gruppe von fortgeschrittenen Studenten, in die er Weischedel sofort aufnimmt. Über dieses herausfordernde akademische Ereignis, das für Weischedels philosophische Entwicklung besonders anregend gewesen sein muss, vernehmen wir das folgende persönliche Zeugnis:
„Die Eindringlichkeit, mit der er [Heidegger] den Texten nachging und sie Schicht um Schicht abbaute, bis der Grundgedanke klar zum Ausdruck kam, fesselte mich aufs stärkste […]. Seine Seminare waren die strengsten, die ich je erlebt habe. Man dürfte nicht ‚heideggern‘, sondern mußte Aristoteles aus Aristoteles, Thomas aus Thomas, Kant aus Kant verstehen […]. Bei Heidegger habe ich gelernt, was Philosophieren heißt: sich der Sache des Denkens hingeben“.12
Aus diesem Zeugnis ist ersichtlich, dass Heidegger, genau wie Bultmann, alles andere als dogmatisch zu Werk geht. Während Bultmann sich einer wörtlichen und somit unkritischen Interpretation der Bibel widersetzt, spornt Heidegger seine Studenten an, zum Kern einer Sache vorzudringen, was nur möglich ist, wenn sie sich skeptisch verhalten. Anstelle eines sklavenhaften Gehorsams erwartet Heidegger von seinen Studenten „die Anstrengung eines Denkens […], das immer bei der Sache bleibt, keinem Problem ausweicht und jede voreilige Antwort verschmäht“.13 Diese äußerst kritische Annäherung übernimmt Weischedel von Heidegger. In den Kapiteln, die in der vorliegenden Einführung noch folgen, wird sich herausstellen, dass auch Weischedel eine sehr starke Neigung hatte, verschiedene Antworten auf philosophische Fragestellungen auf ihre Haltbarkeit hin zu prüfen und wenn nötig zu verwerfen. Im Marburg der zwanziger Jahre liegen daher die Wurzeln seines eigenen skeptischen Denkens.14
Eine bemerkenswerte Tatsache ist, dass Heidegger in derselben Zeit, in der Weischedel bei ihm studiert, sein Werk Sein und Zeit schafft. Leser, die dieses Werk kennen, wissen, dass darin die menschliche Existenz im Mittelpunkt steht. Heidegger schreibt in diesem Werk unter anderem über den Tod, die Angst vor dem Tod und die Flucht, die sich aus dieser Angst ergibt. Das Buch macht einen enormen Eindruck auf Weischedel und seine Kommilitonen. Ihm zufolge gelingt es seinem Lehrmeister, das Wesen der menschlichen Existenz treffend darzustellen. In seinem Vortrag Neue Wege der Metaphysik in der gegenwärtigen deutschen Philosophie aus dem Jahre 1957 (1965 veröffentlicht) denkt ein inzwischen bedächtig gewordener Weischedel noch immer mit Bewunderung an diese Zeit zurück:
„Als sein [Heideggers] inzwischen fast zu mythischer Berühmtheit gelangtes Buch ‚Sein und Zeit‘ erschien – es war das Jahr 1927 –, da schien es so recht der Ausdruck jener Jahre nach dem ersten Weltkrieg zu sein, in denen die Menschheit sich in vollem Umfange dessen bewußt wurde, wie erschüttert ihr Dasein, wie hinfällig all ihre Sicherheit, wie unterhöhlt der Boden ihrer Existenz war. Eben darin gründet der Ruhm, den dieses Buch um 1930 in Deutschland so rasch erlangte, und den es dann wieder im Frankreich nach dem Zusammenbruch erhielt; denn die aufgewühlten Zeiten sind die Zeiten der Philosophie als der Kunst des radikalen Fragens“.15
In diesem Zitat bezieht der Heidegger-Schüler sich auf die Zerbrechlichkeit des menschlichen Daseins, die in Sein und Zeit in den Vordergrund tritt. Diese Zerbrechlichkeit bildet später in seinem eigenen Denken die Grundlage für alles, was folgt. Daher werde ich in Kapitel III, wo ich tiefer auf dieses Denken eingehe, ausführlich auf sie zurückkommen. Weischedel bezeichnet sie als ‚Fraglichkeit‘ und meint ferner, dass es diese Fraglichkeit ist, aus der sich die Philosophie, d.h. radikale (skeptische) Fragen über die Wirklichkeit als Ganzes, entwickeln kann. Deshalb ist es kein Zufall, dass er in dem Zitat dieses radikale Fragen mit der Fraglichkeit in Zusammenhang bringt. Auch diesen Zusammenhang werde ich in Kapitel III noch näher betrachten. Vorläufig reicht es jedoch aus, wenn wir uns die Art und den Umfang von Heideggers Einfluss auf Weischedel bewusst machen.
Im Jahre 1928 erhält Heidegger das Angebot seinem Mentor, dem Begründer der sogenannten Phänomenologie, Edmund Husserl (1859–1938) – dem Heideggers Buch Sein und Zeit gewidmet ist – nach Freiburg zu folgen. Heidegger nimmt dieses Angebot an und Weischedel reist ihm nach, um bei ihm promovieren zu können. Dies erfolgt 1932 mit einer ethischen Abhandlung unter dem Titel Versuch über das Wesen der Verantwortung (später unter dem Titel Das Wesen der Verantwortung. Ein Versuch veröffentlicht). Erwartungsgemäß ist Heidegger sehr streng. Weischedel arbeitet drei Jahre lang an seiner Dissertation von gut 100 Seiten, einem Werk, das „bis in die Diktion hinein unter Heideggers Einfluß“ steht.16 Über diesen Einfluss legt Weischedel bereits in seiner Dissertation eindringlich Rechenschaft ab: „Die vorliegende Untersuchung dankt die wesentlichen Anstöße sachlicher wie methodischer Art den Forschungen Martin Heideggers, wie sie in Schriften, Vorlesungen und Übungen dem Verfasser zugänglich wurden“.17 So bildet Heideggers Philosophieren die „Grundlage“ für Weischedels Dissertation. Daraus wird deutlich, dass selbst Heidegger trotz seiner Bemühung, seine Studenten selbstständig denken zu lassen, „nicht über seinen Schatten springen“ kann.18
So ist es nicht übertrieben zu sagen, dass Heidegger für Weischedel das philosophische Vorbild war, welches Bultmann in theologischer Hinsicht für ihn darstellte. Während Bultmann laut Weischedel der Theologe schlechthin ist und bleibt, spricht er in vergleichbaren Worten über Heidegger als „dem Tiefsten und Wagendsten unter den Denkern“.19 Der Schüler ist zutiefst von der „Kraft und Tiefe“ des Denkens seines Lehrers beeindruckt.20 Und dies nicht nur als Schüler. Seit seiner Studienzeit ist Heidegger für ihn „ein dauerndes Vorbild geworden und geblieben“.21 Bemerkenswert ist ferner, dass der Theologe Bultmann und der Philosoph Heidegger im Marburg der Jahre 1923–1928, also in der Zeit, in der Sein und Zeit entsteht, eng zusammenarbeiten. Bultmanns alternative Betrachtung der Bibel, bei der schließlich die menschliche Existenz eine so evidente Rolle spielt, schließt von selbst an Heideggers Analysen aus Sein und Zeit an. Laut Bultmann muss die Theologie die Fragen des täglichen Lebens ernst nehmen, um wirklich fruchtbar sein zu können und deshalb Anschluss an die Philosophie suchen. In diesem Punkt reicht Heidegger ihm die helfende Hand. Es wird sich herausstellen, dass auch für den gemeinsamen Schüler beider Denker – Weischedel – die Kombination aus Theologie und Philosophie elementar ist, auch wenn bei ihm – im Gegensatz zu Bultmann – der Schwerpunkt nicht länger auf der Theologie liegt. Denn laut Weischedel kann die Wahrheit des Glaubens nur noch nachvollziehbar gemacht werden, wenn ihr Exeget ein Philosoph ist, und zwar ein skeptischer Philosoph.