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3 Der Widerstandskämpfer

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Bereits während seiner Studienzeit beschäftigt sich Weischedel neben seinem eigentlichen Studium am Rande auch mit Politik. In der Marburger Zeit verbringt er zwei Zwischensemester in Leipzig, wo er näher mit den politischen Fragen der damaligen Zeit in Berührung kommt. Gemeinsam mit anderen Studenten sowie einigen Gelehrten versucht er, „einen humanen Sozialismus zu entwerfen, frei von Entfremdung und Ausbeutung“.22 Dieses Thema bleibt nicht nur ein Papiertiger, sondern zieht tatsächlich konkrete Folgen „in der Betreuung von Jugendlichen sowie in der Tätigkeit in Arbeiterunterrichtskursen und Jugendheimen“ nach sich. Einmal in Freiburg, setzt Weischedel dieses politische Engagement tapfer fort, und zwar sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Er beschäftigt sich dann mit „der Abfassung und Verteilung von verhältnismäßig zahmen Flugblättern“.23 Das Ergebnis dieser unschuldigen Versuche bleibt jedoch dürftig.

Kurz nach Weischedels Promotion bei Heidegger im Jahre 1932 beginnt die Zeit des Dritten Reichs. Ab diesem Zeitpunkt tritt zwischen dem Schüler und dessen Lehrmeister „eine Entfremdung ein, die nach dem Kriege nur schwer zu überwinden war“.24 Ebenso wie Weischedel ist nämlich auch Heidegger politisch interessiert, aber dies auf ganz andere Art. Er wird Mitglied der NSDAP, denn er glaubt, wie übrigens viele seiner deutschen Zeitgenossen, in dieser Partei eine Antwort auf das Elend der zu diesem Zeitpunkt herrschenden Wirtschaftskrise, auf das Chaos der in Auflösung begriffenen Weimarer Republik sowie auf die drohende Gefahr des Kommunismus zu finden. Heidegger begrüßt den Nationalsozialismus als einzigartige Möglichkeit für einen Neubeginn. Er verknüpft Hitlers politische Revolution sogar mit seiner eigenen philosophischen Sicht auf das Schicksal der Menschheit: der Nazismus als erster und notwendiger Schritt in einer Art spirituellen Begegnung mit dem, was er als ‚das Sein‘ bezeichnet, dessen Folge die Rettung aus dem von Kapitalismus und Kommunismus verursachtem Nihilismus ist.

Heideggers Sympathie für die Nazis bringt ihm 1933, nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar, die Position des Rektors der Universität Freiburg ein. Hierzu wird er so gut wie einstimmig von den Hochschullehrern dieser Universität ernannt – freilich erst, nachdem allen jüdischen Kollegen das Stimmrecht entzogen worden war. In seiner Eigenschaft als Rektor unterstützt Heidegger die nationalsozialistische Revolution und entpuppt sich als unverkennbarer Propagandist von Hitlers Politik. Nichtsdestotrotz reicht Heidegger 1934, enttäuscht vom Nazismus, seine Entlassung ein und beginnt sich nun gegen den Nazismus zu wenden. Dennoch hat er auch nach dem Krieg seine eigene Sicht auf diese politische Bewegung nie aufgegeben; über den Holocaust hat er selbst so gut wie kein Wort verloren.

Obgleich Weischedels Philosophie stark unter dem Einfluss Heideggers steht, gilt dies keineswegs für seine politischen Überzeugungen. Man darf sogar annehmen, dass der Schüler sich in dieser Hinsicht außergewöhnlich skeptisch gegenüber seinem Lehrmeister verhält. Auch aufgrund seines politischen Engagements wird Weischedel sich, genau wie Heidegger, der ungünstigen Umstände bewusst gewesen sein, die um das Jahr 1930 in Deutschland herrschten. Aber die beiden Philosophen reagieren hierauf vollkommen gegensätzlich: Während Heidegger den aufkommenden Nazismus als erlösende Antwort begrüßt, wodurch sich ihm verschiedene Türen öffneten, führen Weischedels alternative politische Ideen und Aktivitäten gerade zum gegenteiligen Ergebnis: „Mir [waren] alle Möglichkeiten in der akademischen Welt, in der öffentlichen Vortragsarbeit und in Presse und Rundfunk versperrt“.25 Als Alternative zu einer Position in der Wissenschaft arbeitet Weischedel zunächst in der Musikbibliothek der Universität Tübingen und anschließend in einem kaufmännischen Büro. Nach drei Jahren tritt er bei der Wirtschaftsberatung Deutscher Gemeinden AG in Dienst. Er hat sich zu diesem Zeitpunkt bereits weit von seinen persönlichen, von der Philosophie geprägten Ambitionen entfernt, wie die folgende, ziemlich verloren wirkende Aussage zeigt:

„Die Arbeit war mir, der ich nicht Wirtschaftswissenschaften studiert und in diesem Gebiet kaum Praxis hatte, neu, und ich mußte mich tüchtig einarbeiten. Statt Hegels ‚Phänomenologie des Geistes‘ las ich an den freien Abenden ‚Das Bankwesen‘ von Obst, statt Kants ‚Kritik der reinen Vernunft‘ ‚Die dynamische Bilanz‘ von Schmalenbach. Tagsüber war ich im besonderen mit den Problemen der Rentabilität von Krankenanstalten, mit den Fragen der Bewertung von Betrieben sowie mit Preisprüfungen beschäftigt“.26

Weischedel verkehrt also in einer ganz anderen Welt als der akademischen, aus der er kommt und in die er eigentlich gehört. Zudem wird er gegen Ende des Krieges in eine Filiale nach Paris versetzt. Sein Auftrag dort ist es, zwischen der französischen Industrie und den deutschen Behörden zu vermitteln. Über diesen Auslandsauftrag kommt er jedoch zugleich mit der französischen Widerstandsbewegung in Berührung. Eigensinnig beschließt er, seine offizielle Vermittlungsarbeit durch eine nicht-offizielle zu ergänzen: „Ich arbeitete zwischen dieser [d.h. der französischen résistance] und der deutschen Widerstandsbewegung mit“.27 Diese Widerstandsarbeit ist alles andere als risikolos; einige Freunde Weischedels werden verhaftet, andere sogar getötet.

Wunder über Wunder gelingt es Weischedel, in der Zeit des Dritten Reiches eine Habilitationsschrift über Johann G. Fichte (1762–1814) zu verfassen. Diese Arbeit ermöglicht es ihm 1936 doch noch, seine wissenschaftliche Karriere durch die Annahme einer ihm angebotenen Dozentenstelle auszubauen. Die Annahme dieser Stelle ist jedoch mit gewissen Bedingungen verknüpft, die sich als äußerst problematisch erweisen: Weischedel muss einer Gliederung der NSDAP beitreten und sich in einem Dozentenlager politisch schulen lassen. Er weigert sich vehement, dies zu tun. Ja mehr noch, seine erst 1939 erschienene Habilitationsschrift bekommt den provozierenden Titel Der Aufbruch der Freiheit zur Gemeinschaft. Hinter diesem Titel, so verrät er später, verbirgt sich eine „vorsichtige Kritik am Zeitgeist“, denn die Botschaft sowohl des Titels als auch der Arbeit selbst ist, „daß die Gemeinschaft nur aus der Freiheit entspringen könne“.28 Aus diesem Grunde enthält bereits der Haupttitel seiner Arbeit die beiden zentralen Begriffe ‚Freiheit‘ und ‚Gemeinschaft‘; in der späteren Ausgabe von 1973 tauchen diese erst im Untertitel auf. Selbst auf wissenschaftlichem Gebiet widersetzt Weischedel sich also, allen Versuchungen zum Trotz, dem Nazismus – eine vollkommen andere Reaktion als die, die wir bei Heidegger sehen, der Philosophie und Nationalsozialismus miteinander verknüpft.

Während Weischedel in seiner Dissertation (1932) die Selbstverantwortlichkeit thematisiert, erklärt er in seiner Habilitationsschrift (1936), dass diese moralische Haltung sich notwendigerweise zur Mitverantwortlichkeit entfaltet. Noch kurz danach, im Februar 1946, hält er – im Rahmen der Vortragsreihe Besinnung, veranstaltet vom Innenministerium für Württemberg und Baden – eine Rede, die den vielsagenden Titel Der Mut zur Verantwortung trägt. Es scheint, als ob er damit nachträglich das Verantwortungsgefühl seiner Landsleute wachrütteln will. So spricht er z.B. von einer „Flucht vor der Verantwortung“.29 Verantwortung ist ihm zufolge eine Art Antwort auf eine Frage – und diese Frage bzw. dieser Ruf ist notwendig, weil die Menschen die Neigung haben, vor ihrer Verantwortung zu fliehen. Sie hören schlecht zu und können infolgedessen den Ruf zur Verantwortung überhören. Dieser Mangel ist laut Weischedel in den dreißiger und vierziger Jahren auf schmerzhafte Weise wahrnehmbar:

„Hören ist eine Kunst, die man lernen und wieder verlernen kann. Das gilt nicht nur für den einzelnen, sondern auch für ganze Zeiten; es gibt hörende und nichthörende Zeiten. Betrachten wir unsere Gegenwart, so ist sie ohne Zweifel eine Zeit des verlernten Hörens. Das leise Wort und der leise Ton erreichen uns kaum mehr, alles muß laut sein, muß schreien, muß das Ohr betäuben. Die wortreichen Reden, die wir in vielen Jahren bis zum Überdruß zu hören bekamen, haben es vermocht, uns für das wesentliche Wort stumpf zu machen. Wir haben weithin vergessen, daß die Stimme des Wesenhaften fast unhörbar ist, und daß es ein bereites Ohr braucht, sie in ihrer Lautlosigkeit zu vernehmen“.30

Offenbar bezieht sich Weischedel hier auf die von Hitler und seinen Handlangern verbreitete Propaganda. Wenn man heute die alten Bilder vom schreienden ‚Führer‘ betrachtet, der das deutsche Volk von seinen Wahnideen überzeugen will, wird deutlich, was Weischedel meint. Dieses Geschrei übertönt die stille Aufmerksamkeit für die wahre Besinnung auf die Wirklichkeit. Die ungetrübte Wahrheit wird durch falschen Schein verdrängt. Übrigens fällt auf, dass Weischedel in seiner Rede von ‚wir‘ und ‚uns‘ spricht: Trotz oder vielleicht gerade wegen seiner alternativen Haltung als Widerstandskämpfer fühlt er sich, übereinstimmend mit seiner Habilitationsschrift, für das deutsche Volk mitverantwortlich. Theorie und Praxis gehen hier Hand in Hand.

Wie ist es dennoch möglich, so kann man fragen, dass sich das deutsche Volk in dieser Zeit von einem derartigen „Lärm“ imponieren und indoktrinieren ließ?31 Weischedel erklärt: „Was uns in Umtrieb und Hast hineintrieb, das war letztlich die Angst vor dem Alleinsein mit uns selbst. Darum mußte alles in Massen geschehen: man marschierte in Massen auf, man organisierte sich in Massenverbänden, man begeisterte sich im Taumel des Massenapplauses“.32 Das Alleinsein mit uns selbst konfrontiert uns laut Weischedel – und darin scheint er dem französischen Denker Blaise Pascal zu folgen (vgl. II.3) – mit der einengenden Erkenntnis, dass unser Leben endlich ist. Die Einsamkeit bietet uns schließlich mehr als genug Gelegenheit, hieran zu denken. Deshalb suchen die Menschen laut Pascal Zerstreuung (divertissement). In Analogie zu Pascals Begriff der Zerstreuung meint auch Weischedel, dass der Mensch vor sich selbst flieht, um nicht an seine Fraglichkeit denken zu müssen. Der Lärm, mag er auch noch so pervers sein, lenkt die Aufmerksamkeit vom Nihilismus ab, ohne eine substanzielle Antwort darauf zu geben.

Anschließend ist in Der Mut zur Verantwortung von der Freiheit die Rede, denn Verantwortung ist nur dann möglich, wenn man sich frei für diese entscheiden kann. Ein Mensch kann (fast) immer ja oder nein zu etwas sagen. So erklärt es sich, dass Weischedel auch diesen Aspekt der Freiheit in unmissverständlichen Worten mit dem Dritten Reich in Zusammenhang bringt. Wiederum fällt auf, dass er, seine Mitverantwortlichkeit erkennend, jedes Mal von ‚wir‘ und ‚uns‘ spricht:

„Man klagt so häufig darüber, daß man in den vergangenen Jahren keine Freiheit gehabt habe. In der Tat, die Freiheit war über das erträgliche Maß hinaus beschnitten. Aber ist es wirklich richtig, daß daran nur die Herrschsucht eines Tyrannen oder die unmenschliche Konsequenz eines Herrschaftssystems schuld waren? Oder ist es nicht vielfach so, daß diese uns nicht hätten so radikal die Freiheit beschneiden können, wenn wir nicht selber allzu leicht geneigt gewesen wären, uns der Freiheit zu begeben? […] Wovor man floh, und wovor wir uns auch heute noch so oft auf die Flucht machen, das ist die Verpflichtung, die Sorge für das, was geschehen soll, selber übernehmen, uns im Für und Wider selbst entscheiden zu müssen. Statt uns in die Verantwortung zu stellen, haben wir uns weithin in die Verantwortungsscheu begeben“.33

In Der Mut zur Verantwortung liefert Weischedel eine Erklärung für das Verhalten des deutschen Volks in der Zeit von 1933–1945 – eine Erklärung, in die er auch sich selbst unablässig mit einbezieht. Er scheut nicht davor zurück, alle heiklen Punkte ehrlich zu nennen. Daher thematisiert er auch die Schuldfrage. Inwieweit sind die Deutschen schuldig? Weischedel erklärt ausdrücklich: Nicht jeder ist schuldig. Er weigert sich, eine allgemeine Verurteilung zu akzeptieren, bei der alle Deutschen ausnahmslos über einen Kamm geschoren werden. Eine solche Verurteilung wäre purer Dogmatismus. Ein Individuum kann sich ohnehin nur dann schuldig machen, wenn es über genügend Verstand und Freiheit verfügt, um seine Verantwortung auf sich zu nehmen, also, um ja oder nein zu sagen. Das bedeutet laut Weischedel, dass die deutsche Jugend keine Schuld an den Schrecken des Nazismus trägt. Zwar hat die gehorsame Jugend sich überwiegend dem Vorbild der Erwachsenen angepasst, „aber gleichwohl kann man sie nicht mit verantwortlich machen; denn sie hatte weithin weder die Klarheit der Einsicht in das, was gespielt wurde, noch die Möglichkeit, sich zwischen dem Für und Wider zu entscheiden“.34 Weischedel hält es daher auch für schlecht, ja sogar schädlich, der Jugend die Schuld für eine Sache aufzuerlegen, an der sie im Grunde nicht schuld ist. Deshalb ist er viel eher bereit, eine Lanze für die Jugend zu brechen, in der Hoffnung, dass diese „unbeschwert durch fremde Schuld für Vergangenes, den Mut zu ihrer eigenen Zukunft habe“.35

Obgleich Weischedel die deutsche Jugend ausdrücklich in Schutz nimmt, gilt dies nicht für die erwachsene Bevölkerung. Diese unterzieht er einer deutlich skeptischeren Betrachtung. Denn die Tatsache, dass die naiven Jugendlichen unschuldig sind, stellt noch „keinen Freibrief“ für ihn selbst und alle anderen Erwachsenen dar, die über den Verstand und die Freiheit verfügen, um wohlüberlegt ja oder nein sagen zu können.36 Entschieden urteilt er: „Manche unserer Freunde haben ihre Erkenntnis und ihre Entschlossenheit mit dem Tode besiegelt. Wir sind mit verantwortlich, und keiner kann uns diese Verantwortlichkeit abnehmen. Für uns gibt es nur eins: daß wir uns endlich ehrlich und aufrichtig mit unserer Schuld auseinandersetzen“.37 In dieser Hinsicht scheint Weischedel niemanden freizusprechen, auch nicht sich selbst. Denn sogar diejenigen, die sich tapfer widersetzt haben, wie er selbst, „können der Frage nicht ausweichen, wie es denn kam, daß in ihrer Generation, in den Jahren also, in denen sie für die Gestaltung der Zukunft verantwortlich waren, das geschehen konnte, was geschah“.38 Ein derartiges Schuldbekenntnis bedeutet jedoch keineswegs endlose Selbstkasteiung. Die Schuld darf das deutsche Volk nicht lähmen, weder die Jugend, noch die Erwachsenen. Das Bekennen von Schuld bedeutet für Weischedel vielmehr „vermeiden, daß künftig das gleiche Unheil entstehe, das jetzt über uns hereingebrochen ist“.39 Eine Lehre aus der Vergangenheit ziehen mit Blick auf die Zukunft – diese Pflicht erlegt er sich selbst und seinen Landsleuten auf.

Weischedel erkennt, dass diese Aufgabe nicht einfach ist. Im Banne der Indoktrination und sozialen Kontrolle hat sich das deutsche Volk im Dritten Reich in gewisser Weise selbst verloren. „Wir mußten uns alle, mehr oder minder, tarnen und haben diesen Zwang zum Verstecken schon fast als zweite Natur übernommen“.40 Der Deutsche muss nach dem Zweiten Weltkrieg wieder lernen, er selbst zu sein. Deshalb darf er sich nichts von anderen vorschreiben lassen, sondern muss selbst seine Verantwortung übernehmen. Im Grunde spornt Weischedel sich selbst und andere dazu an, eine selbstkritische Lebenshaltung einzunehmen: „Wir müssen begreifen, daß es nicht gleichgültig ist, was wir tun oder denken, sondern daß wir bereit sein müssen, jedes auch noch so geringfügige Tun oder Denken zu verantworten“.41 Eine derartige Lebenshaltung ist jedoch nicht ungefährlich. Sie kann schnell zu Konflikten mit der öffentlichen Meinung führen. Ja, sie kann sogar Hass und Hohn nach sich ziehen. Sie ist deshalb „ein Wagnis“.42 In diesem Wagnis muss man sich nur gegenüber der Wahrheit verantworten. Denn nur mit diesem wahrheitsliebenden (d.h. dem philosophischen/skeptischen) „Mut der Verantwortlichkeit […] kann vielleicht unsere zerbrochene Welt noch einmal wieder aufgebaut werden“, so Weischedel.43

Verantwortung, so hat sich gezeigt, ist laut unserem Widerstandskämpfer eine Antwort auf eine Frage oder einen Ruf. Im letzten Abschnitt von Der Mut zur Verantwortung untersucht er, woher dieser Ruf eigentlich kommt. Er gibt zwei Möglichkeiten an, die er beide für plausibel hält und auf die ich hier nicht näher eingehen werde: Gott und das Gewissen. Zwei andere Möglichkeiten schließt er jedoch mit großer Bestimmtheit aus, nämlich die „Verantwortlichkeit vor einem Führer“ und die „Verantwortlichkeit vor dem Volke“.44 Ein Anführer ist nur ein sterblicher Mensch, der irren kann und daher ganz gewiss nicht die Wahrheit verkörpert. Dasselbe gilt für das Volk, das lediglich aus sterblichen, ständig umherirrenden Menschen besteht. Die Tatsache, dass wir uns für das Volk mitverantwortlich fühlen, bedeutet deshalb nicht, dass wir den Ruf hierfür von demselben Volk erhalten: Wir sind nicht vor dem Volke verantwortlich.

Eine Katastrophe wie der Zweite Weltkrieg stellt zweifellos eines der eingreifendsten Geschehnisse der abendländischen Geschichte dar. Wenn das wahre Wesen und die wahre Haltung eines Menschen überhaupt jemals auf die Probe gestellt werden, dann ist dies bei einem solchen Ereignis der Fall. Über seine Widerstandsarbeit und über den rückblickenden Vortrag Der Mut zur Verantwortung lernen wir Wilhelm Weischedel als einen Mann aus einem Stück kennen. Die moralischen Prinzipien, die er in theoretischen Traktaten wie seiner Dissertation und Habilitationsschrift verteidigt, nämlich Selbstverantwortung und Mitverantwortung, setzt er selbst in die Praxis um – sogar dann, wenn die Umstände besonders widrig sind. Die äußerst kritische Haltung, die Weischedel schon als Student von Bultmann und Heidegger gelernt hat und bei der nichts als die Wahrheit zählt, wirkt sich bei Weischedel auch auf das konkrete Leben aus. Seine ethischen Wahrheiten stehen absolut nicht im Einklang mit der von Hitler auferlegten Politik, Selbst- und Mitverantwortung stehen in direktem Gegensatz zu der Parole „Führer befiehl, wir folgen!“.

Durch all dies präsentiert sich Weischedel als prinzipientreuer Mann, der seinen persönlichen Überzeugungen treu bleibt. Aber er ist mehr als nur das. So zeigt sich bspw. seine Integrität an der Tatsache, dass er in dem erwähnten Vortrag jeweils die erste Person Plural benutzt, wodurch er zeigt, dass er Selbstkritik und Schuld vollkommen akzeptiert. Außerdem lernen wir Weischedel durch seine nuancierte Beurteilung des deutschen Volkes – insbesondere durch seine beschützende, fast väterliche Haltung gegenüber der Jugend – als milden und gerechten Menschen kennen, realistisch und frei von Groll. Letzteres zeigt sich auch an seiner optimistischen Einschätzung der Zukunft. Denn obgleich er gemachte Fehler an den Pranger stellt, ist er auch der Ansicht, dass man nicht bei diesen Fehlern stehenbleiben darf, sondern aus ihnen lernen muss. Kritik bleibt bei ihm nicht destruktiv, sondern bekommt eine konstruktive Funktion. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Wechsel zwischen destruktivem und konstruktivem Denken für seine gesamte Philosophie kennzeichnend ist.

Wilhelm Weischedels skeptische Philosophie

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