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1 Der junge Rebell

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Es gibt nur wenige publizierte Schriftstücke, die Einsicht in Weischedels Lebenslauf ermöglichen. Abgesehen von einigen losen Bemerkungen von Kommentatoren gibt es lediglich einen einzigen Artikel zur Biografie Weischedels – und das ist ausgerechnet ein autobiografischer Artikel. Dieser trägt den Titel Wilhelm Weischedel und wurde in die dreiteilige Reihe Philosophie in Selbstdarstellungen, herausgegeben in den Jahren 1975–1977 von Ludwig J. Pongratz, aufgenommen. Diese Reihe umfasst unter anderem große Namen wie Ernst Bloch und Hans-Georg Gadamer. Dieser Aufsatz Weischedels aus dem Jahr 1975 ist in gewisser Hinsicht als dessen Testament zu lesen, in dem er Rechenschaft über sein Leben als Philosoph ablegt; denn er stirbt noch im selben Jahr. Aller Wahrscheinlichkeit nach befinden sich in seinem leider noch unveröffentlichten Nachlass viel mehr Schriftstücke, die Informationen über sein Leben enthalten. Man kann dabei schon allein an den Briefwechsel denken, den er mit verschiedenen Denkern geführt hat, darunter eine umfangreiche Korrespondenz mit seinem großen Lehrmeister, Martin Heidegger. Wir können, was diesen Punkt betrifft, nur hoffen, dass dieser Nachlass, der sich heute in der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz befindet, irgendwann einmal auf eine wissenschaftlich zu verantwortende Weise herausgegeben wird.

Einstweilen müssen wir uns mit dem autobiografischen Bericht zufrieden geben. Dennoch kann man diesem mehr als genügend Angaben entnehmen, um ein gutes Bild vom Menschen Weischedel zu bekommen. Dabei fällt auf, dass der später bei ihm so explizit in den Vordergrund tretende Skeptizismus in gewisser Hinsicht in seiner Persönlichkeit angelegt zu sein scheint. Mensch und Philosoph bilden also eine natürliche Einheit. So lernen wir zunächst, dass Weischedel bereits in seiner Jugend über eine gewisse Dosis Skepsis verfügt zu haben scheint. Er ist nicht das, was man einen Mitläufer nennt. Während seiner Schulzeit zeigt er, wie er selbst sagt, „einen ausgesprochenen Hang zur Rebellion und ein fragwürdiges Betragen“.1 Zwar erbringt er, begabt wie er ist, in der Schule gute Leistungen, aber – was man vielleicht häufiger bei kreativen Geistern antrifft – nicht ohne dabei von den allgemein gängigen Regeln abzuweichen. „Kurz: Ich war kein schlechter, aber ein schwieriger Schüler“.

Weischedel wird am 11. April 1905 in Frankfurt am Main geboren. Seine Eltern stammen beide aus Schwaben – eine Gegend, in die sie zwei Jahre nach der Geburt ihres wissbegierigen Sohnes zurückkehren. In seiner umfangreichen Biografie Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit lernen wir von Rüdiger Safranski, dass Weischedels berühmter Lehrmeister, Martin Heidegger (1889–1976), in Meßkirch geboren wurde, einer zwischen dem Bodensee, der Schwäbischen Alb und dem Oberlauf der Donau gelegenen Provinzstadt. Safranski beschreibt diese Region als eine karge und früher arme Gegend an der Grenze vom Alemannischen zum Schwäbischen. Anschließend weist er auf einen Zusammenhang zwischen dieser Gegend und Heidegger hin – einen Zusammenhang, den wir gleich auch bei Weischedel finden werden. Safranski schreibt:

„Das alemannische Naturell ist eher schwerfällig, hintersinnig, auch grüblerisch. Das schwäbische ist heiterer, offener, auch verträumter. Die einen neigen zum Sarkasmus, die anderen zum Pathos. Martin Heidegger hatte von beidem etwas, und es sind Johann Peter Hebel, ein Alemanne, und Friedrich Hölderlin, ein Schwabe, die er sich zu Schutzpatronen erwählte. Für ihn sind beide geprägt von der Region und ragen doch in die große Welt hinein. So hat er auch sich selbst gesehen: der Weite des Himmels sich öffnen und zugleich in das Dunkel der Erde wurzeln“.2

Diese offenbar von Heidegger selbst gezogene Parallele zwischen Volkscharakter und geistiger Aktivität wird auch von dessen Lehrling gezogen. Ähnlich wie Heidegger sinnt Weischedel: „Ich bin […] ganz und gar ein Schwabe. Vielleicht kommt daher der Hang zum Grübeln, der sich mit einer Lust am Paradox verbindet, und zugleich eine leicht schwermütige Veranlagung. Das alles hat mich vermutlich am Ende zur Philosophie gebracht“.3 Zwar setzt Weischedel die Akzente vielleicht etwas anders als Safranski, aber die Botschaft ist im Prinzip die gleiche.

Die Umgebung, in welcher der junge Weischedel lebt, ist allerdings nicht nur schwäbisch; sie ist auch, und sogar in höherem Maße, christlich. Mit dem Christentum hat Weischedel zeit seines Lebens gekämpft. Sein Skeptizismus verträgt sich – wie sich im Abschnitt V.2.1 noch zeigen wird – kaum mit dem christlichen Glauben. Aber bereits in seiner Jugend erfährt er diesen Glauben als eine Last, gegen die er ankämpfen muss, da diese ein ernstes Hindernis für seine psychosoziale Entwicklung darstellt. Er legt hierüber das folgende, schmerzvolle Bekenntnis ab:

„Mein Elternhaus war durch den Geist eines strengen Pietismus geprägt; mein Vater war Prediger der Evangelischen Gemeinschaft, später dann geistlicher Direktor einer Diakonissenanstalt in Elberfeld. Es ging in unserem Hause höchst alttestamentlich zu. Sechsmal in der Woche hatte man den Gottesdienst zu besuchen, jeden Tag wurde dreimal Hausandacht gehalten. Die Welt zerfiel in Gläubige und Ungläubige; es war selbstverständlich, daß man, wenn irgend möglich, zum gläubigen Bäcker, zum gläubigen Metzger, zum gläubigen Zahnarzt ging. Alles, was hätte Freude machen können, war verpönt: Romane, Theater, Kino, Tanzen, selbst der harmlose Spaziergang mit einem Mädchen. Ich habe lange gebraucht, bis ich die daraus erwachsenen Hemmungen, so früh in mich gelegt, überwinden konnte“.4

Zu allem Unglück studiert unser frustrierter Schüler nach seiner rigiden Erziehung auch noch Theologie. Jedoch tut er dies keineswegs, um in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Genau das Gegenteil ist der Fall. Der junge Rebell studiert nämlich nicht aufgrund evangelischer, sondern vielmehr aufgrund skeptischer Motive Theologie. Seine Berufung ist nicht die eines Gläubigen, sondern die eines Zweiflers. Im Wesentlichen möchte er mit seinem Theologiestudium der Frage nachgehen, wie er sich selbst ausdrückt, „was denn an dem Geiste meines Elternhauses eigentlich daran war“.5 Mit dieser, und allein dieser Mission vor Augen, geht er nach Marburg.

Wilhelm Weischedels skeptische Philosophie

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