Читать книгу Der ungeliebte Mann - Ханс Фаллада - Страница 11
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ОглавлениеNachdem Ilse ihn mit der schnöden Empfehlung, nun brav ins Bett zu gehen, verlassen hatte, war der blinde Mann auf dem Hof stehengeblieben. Je mehr die Wirkung des Alkohols in ihm verflog, um so trauriger wurde er. Bella schmeichelte um ihn herum und bettelte um ihren Abendspaziergang, sie umkreiste ihn und bellte ihn aufmunternd an, aber er konnte sich nicht entschließen. Immer nur ein Tier zum Gefährten – er war doch ein Mensch, warum nur hielt es kein Mensch mehr bei ihm aus?
Er hatte dagegen getobt, gegen seine ganze Umwelt hatte er getobt. Die Ärzte waren Nichtskönner, nur Beutelschneider, die Freunde hatten kein wahres Interesse und nicht die Spur von Hilfsbereitschaft, seine Frau – nun seine Frau mußte für alle bezahlen! Das war ja auch nicht mehr als recht – sie hätte sich schon ein bißchen Gedanken um ihn machen dürfen, als diese rasenden Kopfschmerzen bei ihm einsetzten, die Vorboten des Erblindens. Er hörte noch ihre gereizte Stimme: »Du bist heute wirklich wieder ganz unerträglich, Peter! Nimm doch noch ein Pyramiden!«
Und dann, später, als seine Blindheit nicht mehr zu leugnende Tatsache war, kam ihre läppische Art zu trösten: »Du mußt dich eben damit abfinden, Peter! Es ist doch nun einmal nicht daran zu ändern. Keiner trägt die Schuld – es ist eben Schicksal! Trage dein Schicksal wie ein Mann, Peter!«
Er konnte sich noch recht gut an die Zeit vor seiner Krankheit erinnern: Eigentlich war er ein ganz normaler, gut gelaunter, tatkräftiger und arbeitslustiger Mann gewesen. Die Blindheit hatte ihm alles genommen: Arbeit und Frohsinn, Freude, Freunde und Frau. Er war nur noch ein kläglicher Überrest, etwas ganz anderes, als er gewesen, angewiesen auf die bezahlte Hilfe fremder Menschen, die ihn entweder bestahlen oder lieblos behandelten. Er war allen – und sich selbst – bloß noch lästig.
Und es gab keinen Ausweg! Es gab keine Rettung für ihn …
Lola Bergfeld ist unterdes auch an ihm vorübergegangen; sie gab ihm nicht einmal Gelegenheit, seine Bitte um einen Abendspaziergang anzubringen, so schnell huschte sie an ihm vorbei. Nun steht er ganz allein auf dem Hof, auch Bella hat ihn verlassen, sie ist wohl hinter Lola dreingelaufen. Eine endlose Nacht hat er vor sich, das heißt, seine Nacht ist ja immer endlos, aber auch die Zeit bis zum nächsten Frühstück, da wieder Menschen in seiner Nähe sind, scheint ihm endlos.
Traute Kaiser, die dritte im Hause, die einzige, die es gut mit ihm meint, liegt nun schon im Bett und schläft. Plötzlich fällt ihm ein, warum er heute nachmittag getrunken hat: Er hörte sie die Treppe so heimlich hinabschleichen. Ja, nun war auch sie für ihn verloren, hatte keine Gedanken und Gefühle mehr für ihn übrig – und sie war noch so jung, gerade erst siebzehn!
Der blinde Peter Siebenhaar steht noch immer am Fuß der Treppe.
Dann tut er das, um das er die ganze Zeit schon innerlich mit sich gerungen hat, er tut das Würdelose, er geht zu seiner Haustochter betteln. Er steigt leise und rasch die Treppe zum ersten Stockwerk hinauf, klopft an die Tür und tritt sofort ein.
»Guten Abend, Traute«, sagt er leise. »Ich störe dich sicher. Die andern sagten mir, du wolltest gleich schlafen gehen.«
»Nein«, sagt Traute Kaiser, ein wenig verwirrt, denn es ist ja gerade dies Alleinsein mit dem Blinden, vor dem sie sich gefürchtet hat. Zu dumm von ihr, daß sie vergaß, die Tür abzuschließen. Dann könnte sie jetzt ruhig behaupten, sie läge schon im Bett. Aber so – sagt sie lieber die Wahrheit!
»Nein«, antwortet sie darum, »ich habe mich noch nicht hingelegt. Ich schreibe gerade an meine Mutter …«
»Dann will ich dich nicht länger stören, Traute«, sagt Herr Siebenhaar. »Grüße deine Mutter schön von mir. Zu Haus ist doch alles wohl?«
»Danke, Herr Siebenhaar.«
»Es ist nur – ich bin nur darum hier heraufgekommen, weil ich dich fragen wollte, ob du nicht ein Viertelstündchen mit mir spazierengehen möchtest? Ich bin heute noch gar nicht an die Luft gekommen. Und Bella ist mir auch untreu geworden. Ein Viertelstündchen würde nicht sehr lange sein, nicht wahr?«
»Gewiß, Herr Siebenhaar, ich gehe gern mit Ihnen noch einen Augenblick. Vielleicht nach dem Dorf zu, bis zum Spritzenhaus …«
»Selbstverständlich! Es ist furchtbar nett von dir, Traute!«
Aber als sie aus dem Hof traten, wollte Herr Siebenhaar doch lieber in die andere Richtung gehen, den Weg in die Felder, den Traute heute mittag zornrot gegangen war, an der Sandgrube vorbei, bis zur kleinen Brücke.
»Es ist frischer dort, Traute. Und du weißt doch, im Dorf sind um diese Stunde immer noch Leute vor den Türen …«
Sie kennt seine Menschenscheu. Er mag nicht, daß die Leute, die ihn als aufrechten Mann gekannt haben, ihn nun am Arm geführt dahinschleichen sehen. So stimmt sie zu, trotzdem sie jeden andern Weg lieber ginge als gerade diesen, der unangenehme Erinnerungen in ihr wachruft. (War sie nicht doch zu scharf gewesen?) Ein wenig bangt ihr auch vor dem völlig menschenfernen Beisammensein mit dem blinden Mann. Sie spürt es doch, wie gespannt und erregt er ist!
Eine Weile gehen die beiden schweigend nebeneinander, seine Hand ruht leicht auf ihrem Arm. Sie geht langsam und vorsichtig, ihm die besseren Wegstellen überlassend. Sie spürt – mit neuem Mitleid – seinen schiebenden, tastenden Schritt.
›Ach Gott!‹ denkt sie. ›Es ist unrecht von mir, vor ihm Angst zu haben. Er ist ja ganz hilflos – wenn ich ihn hier stehenließe, er fände vielleicht gar nicht mehr nach Haus!‹
Sie denkt an die vielen Seen, die hier rundum liegen, an all das Wasser, in das der Ahnungslose geraten kann. Sie schaudert, und rasch lenkt sie den Blick zum Himmel, der voll ausgestirnt ist.
Plötzlich zuckt sie zusammen, sie bleibt stehen, schweigt erst atemlos und ruft dann: »War das aber eine herrliche Sternschnuppe – haben Sie die gesehen, Herr Siebenhaar? Ach Gott, verzeihen Sie doch …«
»Hast du dir denn auch etwas gewünscht bei der Sternschnuppe, Traute?«
»Aber klar! Sie fuhr doch so lange über den Himmel, da konnte man sich alles wünschen, was das Herz begehrt!«
»Komm, nimm wieder meine Hand, Traute! – Ich frage mich«, fragte Herr Siebenhaar fast fröhlich im Weitergehen, »was sich so ein junges Mädchen wie du wohl von Herzen wünscht?«
»Das ist wohl nicht schwer zu raten, Herr Siebenhaar!«
»Nein? Was ist es denn? Schöne Kleider? Schmuck?
Nein? Einen recht guten Freund? Es war mir doch so, als hörte ich heute nach dem Essen jemanden ganz leise die Treppe hinunterschleichen?«
»Da bin ich aber bestimmt zu keinem guten Freund gegangen! Außerdem, wenn ich schon einen hätte, brauchte ich mir ja keinen mehr zu wünschen, Herr Siebenhaar!«
»Du hast dir also doch einen gewünscht, Traute?«
»Ach! – Nun, wenn es Sie wirklich interessiert: Ich habe mir einen netten, anständigen Mann gewünscht und eine gute Ehe mit vielen Kindern und dann – aber nein, das kann ich nun doch nicht erzählen, Herr Siebenhaar!«
»Mir kannst du alles sagen, Kind!«
»Nein, das geht nicht. Es geht auch nur mich allein an.«
»Sag es schon, Traute, bitte! Denk mal, ich habe mit keinem Menschen rechten Umgang mehr. Es wäre wirklich eine Freude für mich, wenn ich wieder mal ein Geheimnis mit einem Menschen teilte!«
»Also, ich habe mir gewünscht, daß … Aber nein, ich kann es doch nicht sagen!«
Und sie brach in ein verlegenes Lachen aus.
»Nun sag schon! Mach mir einmal die kleine Freude!«
»Also, ich habe mir gewünscht, daß meine Knöchel ein ganz klein wenig schlanker sind!«
»Deine Knöchel sind ganz bestimmt nicht zu dick! So was erzählen dir bloß deine Freundinnen. Glaube denen nur nicht zuviel!«
»Aber Sie können das doch gar nicht wissen, Herr Siebenhaar!« rief sie verblüfft aus. »Es ist wirklich so! Manchmal sehen meine Knöchel direkt plump aus!«
»Das hast du dir bloß dreinreden lassen. So etwas habe ich im Gefühl: Du hast keine plumpen Fesseln. Dann würdest du einen ganz andern Gang haben. Wenn sie plump aussehen, liegt es oft nur am Schuhwerk, oder wie die Strümpfe gemustert sind …«
Es beruhigte sie sehr, daß er nicht verlangte, ihre Beine zu betasten. Jeder zweite junge Mann hätte solch ein Verlangen geäußert. Sie ging jetzt sicherer neben ihm. Sie kamen an der Sandgrube vorüber und gingen nun bergab zur Kleinen Brücke hinunter. Sie konnte die Haselwildnis im Hohlweg wie ein riesiges, geducktes Tier in all dem Nachtdunkel liegen sehen …
»Also einen guten Mann und eine glückliche Ehe wünschst du dir«, fing er auf einmal wieder an. »Das ist viel und wenig gewünscht. Es fragt sich eben, was du unter Glück verstehst, Traute?«
»Ach, Glück – jeder weiß es doch, wenn er glücklich ist.«
»Ob du lieber glücklich machst oder dich lieber glücklich machen läßt?«
»Ich bin am glücklichsten, wenn alle andern zufrieden sind«, sagte sie nach einigem Nachdenken.
»Das habe ich auch nicht anders erwartet«, nickte er. »Und also hast du wenig gewünscht und kannst hoffen, daß deine Wünsche sich erfüllen.«
»Hoffen und Harren hält manchen zum Narren, Herr Siebenhaar!«
»Dich nicht, Traute! Dich nicht!«
Herr Siebenhaar sprach immer weiter.
»Aber ich muß nicht so bleiben, Traute«, sagte er jetzt. »Ich könnte noch wieder werden wie früher – ich fühle, es ist noch nicht zu spät. Es müßte sich nur eine finden, die mir ernstlich helfen wollte, die ein Interesse an mir nähme … Zu Anfang brauchte sie mich noch gar nicht so gern zu haben – das würde schon von selbst kommen, wenn ich mich zurückverwandelte, ich meine, wenn ich wieder ein fröhlicher Mensch würde. Das verstehst du doch auch, Traute?«
»Ja«, sagte sie ängstlich.
Und: »Wollen wir jetzt nicht lieber zurückgehen, Herr Siebenhaar? Es ist schon viel länger geworden als eine Viertelstunde.«
»Einen Augenblick noch, Traute. – Du denkst vielleicht, ich könnte einem solchen Mädchen, das sich meiner erbarmte, nichts bieten? Aber das könnte ich vielleicht doch. Ich rede nicht von Geld und Reisen und schönen Kleidern und Autos – das alles wäre für sie selbstverständlich, denn alles, was mir gehört, wäre dann ihr Eigentum, und ich bin ein sehr wohlhabender Mann. Ich rede auch nicht davon, daß dieses Mädchen dann die Macht hätte, allen, die um sie sind, zu helfen, vielleicht eine Mutter glücklich zu machen, der es nicht so gut geht, wie sie es eigentlich verdiente. Nein, von all diesen Dingen rede ich nicht, denn ich will das Mädchen ja nicht kaufen, dann wäre es ja auch nur eine bezahlte Hilfe …«
Herr Siebenhaar schwieg einen Augenblick. Das Mädchen hatte zuerst an seinem Arm gezogen, als wolle es durchaus fort. Aber nun stand es still neben ihm und lauschte wie gebannt seinen Worten. Noch nie, schien es Traute, hatte ein Mann so freundlich und freimütig mit ihr gesprochen. Dieser Mann wollte sie nicht überlisten und bestehlen …
Er strich einmal rasch über ihre Hand.
»Komm, Traute«, sagte er jetzt. »Wir wollen nun nach Haus gehen. Hoffentlich habe ich dich nicht zu sehr erschreckt. Nein, du sollst mir gar nichts antworten, ich will dich doch nicht überrumpeln. Du sollst dir alles in Ruhe überlegen. Du bist ja auch noch sehr jung, ich glaube erst siebzehn, wir müßten auch erst mit deinem Vater oder mit deiner Mutter sprechen, ob sie es für richtig halten … Mit wem möchtest du lieber, daß ich spräche – mit deinem Vater oder mit deiner Mutter?«
»Mit Mutti …«
»Nun, siehst du, das habe ich mir gleich gedacht: Du bist die Tochter deiner Mutter! Ich denke, wir lassen sie am besten hierherkommen, wir schicken ihr den Wagen …«
»Ich möchte ihr aber lieber erst schreiben, sonst erschrickt sie.«
»Natürlichl Alles, wie du willst! Von nun an alles, was du willst. Schlaf schön, Traute – und vielen, vielen Dank für alles! – Und denke daran, du hast mir noch nichts versprochen, du bist noch ganz frei …«