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1. Die Geburt

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Als Kolbert Glaser geboren wurde, waren die Eltern schockiert. Wochenlang hatten sich beide auf das Erscheinen ihres Kindes gefreut. Monatelang. Die Mutter hatte ihre Ernährung umgestellt. Ausgerichtet an den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Hatte zusammen mit dem Vater Kurse besucht. Um sich bestens auf die Geburt vorzubereiten.

Als die Wehen dann einsetzten, der Vater das Taxi rief, beide gemeinsam zur Klinik fuhren, waren sie voll freudiger Erwartung. Alles verlief ohne Komplikationen. Schließlich erschien das rötlich schimmernde Köpfchen. Dann schob sich langsam der ganze übrige Körper nach.

Kaum war das Neugeborene von den ersten Blutresten gesäubert, wurde offensichtlich, was der Vater bereits vermutete, noch immer aber nicht glauben wollte: Der Haut des Babys schien jegliche Farbe zu fehlen. Man konnte das rohe Fleisch darunter deutlich erkennen. Und selbst das war teilweise transparent. Das Gewebe machte bei genauerem Hinsehen sogar die Umrisse der inneren Organe wahrnehmbar. Das Kind sah aus wie ein Klumpen Fleisch.

Der Vater unterdrückte seinen Aufschrei. Weil er die Mutter schonen wollte. Doch die verlangte nach dem Baby. Und so konnte es nicht ausbleiben, dass auch sie erkannte: Ihr Kind besaß offenbar keinerlei Hautfarbe. Schließlich fassten beide Eltern ihren Schock in einem kurzen gequälten Laut zusammen.

Eine Mimik im Gesicht von Kolbert war nicht zu bemerken. Die kräftige rote Farbe des Muskelgewebes verhinderte es, irgendwelche Zeichen von Gefühlsregungen auszumachen. Man musste schon näher hinschauen. Doch das wagten seine Eltern nicht.

Zudem hörten sie plötzlich Schreie. Sie klangen glasig und schrill. Ausgestoßen wie in höchster Not, gerufen wie durch einen metallischen Trichter.

Es waren also weniger die Strapazen der Geburt, die die Mutter mit einem Mal in eine tiefe Ohnmacht fallen ließen. Und auch den Vater ergriff ein Schmerz, der ihm die Tränen in die Augen und das Blut aus dem Kopf jagte. Er begann nun hemmungslos zu weinen, spürte die Versuche der Hebamme ihn zu trösten kaum. Während der Arzt sich um die bewusstlose Mutter bemühte.

Es dauerte nicht lange, da war die Mutter wieder aus ihrer Ohnmacht erwacht. Der Vater hatte bereits seine Tränen getrocknet. Und nun saß er da, am Bett seiner Frau. Hielt ihre Hand und versuchte zu lächeln. Was ihm jedoch nicht gelingen wollte.

Beide starrten sich mit großen Augen an, in denen tiefes Entsetzen zu lesen war. Beharrlich darauf bedacht, ihre Blicke nicht zu dem Kind wandern zu lassen, das gerade eben geboren war. Und dessen glasig-metallischen Schreie noch immer den Raum erfüllten.

»Es ist gesund«, versuchte die Hebamme schließlich die beängstigende Schweigsamkeit der Eltern zu durchbrechen, »die Apgar-Werte …«

Unschlüssig und hilflos sah sie zum Arzt hinüber: »Was ist mit seiner Haut?«, raunte sie ihm zu. Der Arzt kam näher und befühlte das Baby. Fuhr ihm vorsichtig über die glasig glänzende Haut. Sagte dann ohne aufzuschauen vor sich hin: »Null Punkte.« »Null Punkte«, wiederholte die Hebamme.

»Hören Sie«, wandte sich der Arzt den Eltern zu, »Ihr Kind ist an sich gesund – jedenfalls ...«

»Die Haut!«, stieß die Mutter nun hervor. Dann schrie sie: »Was ist mit seiner Haut?« »Die Haut«, wiederholte der Arzt langsam, »Wir werden Ihr Kind gründlich untersuchen.«

Dann winkte er der Hebamme zu. Die nahm das immer noch schreiende Baby auf und trug es zur Mutter: »Wollen Sie es anlegen?«, fragte sie.

Beide Eltern wandten ihre Blicke voneinander weg zur Hebamme hin. Vermieden noch immer ihr neugeborenes Kind anzuschauen. Nach einigem Zögern drehte sich die Mutter zu dem Baby hin. Und langsam bewegten sich ihre Arme darauf zu.

Die Hebamme legte das schreiende kleine Bündel behutsam in die Arme der Mutter. Die spürte sein geringes Gewicht, seine Wärme. Sie fühlte seine weiche Haut. Und sie begann ihr Kind mehr und mehr anzunehmen.

Wie in Zeitlupe bewegten sich ihre Arme auf ihren Körper zu. Sie schob ihr Nachthemd zur Seite, sodass die linke Brust völlig frei lag. Dann zog sie das Baby an sich, bis es mit seinem Mund die Brustwarze erreichen konnte.

Sobald Kolbert die Arme der Mutter spürte, hörte er ganz plötzlich auf zu schreien. Und nun, wo er an ihrer Brust lag und saugte, bemerkte sie, wie von seinem Körper nicht nur Wärme, sondern auch das Gefühl von Zufriedenheit und Geborgenheit ausging. Sie wurde davon sosehr erfasst, dass sie vermeinte, mit ihrem neugeborenen Kind wieder zu der Einheit zu verschmelzen, die sie vor seiner Geburt auch schon mit ihm gebildet hatte.

Während die Mutter Kolbert stillte, suchten ihre Blicke nach seinem Vater. Dabei fanden sie nicht den direkten Weg, sondern wanderten erst im ganzen Kreißsaal herum, ehe sie schließlich in seinem Gesicht landeten.

Der Vater sah seine Frau an. Er wirkte ermattet, als habe er selbst sein Kind geboren. Sein Kind – noch immer wollte und konnte er es offenbar nicht wahrhaben, dass dies sein Kind war. Ein Mensch, der aussah, als hätte er keine Haut. Und als bestünde er nur aus rohem Fleisch. Als der Mann jedoch bemerkte, wie seine Frau ihr Baby zufrieden in den Armen hielt, dieses sich ebenso zufrieden an ihrer Brust labte, ergriff ein leises Lächeln sein Gesicht. Und langsam wurde es stärker.

Sowohl die Mutter als auch der Vater schienen mit einem Mal vergessen zu haben, dass die Haut von Kolbert nicht weiß, rosig, gelblich oder bräunlich war. Sondern ganz offensichtlich überhaupt keine Farbe hatte. Und der Arzt wie auch die Hebamme nahmen verwirrt eine seltsame Harmonie wahr, die Eltern und Kind gemeinsam auszustrahlen schienen.

Plötzlich wurde dem Arzt bewusst, dass seine medizinische Pflicht von ihm verlangte, das Baby nochmals zu untersuchen. Und seine Haut einer genauen Prüfung zu unterziehen. Er nickte der Hebamme zu und wies dann mit dem Kopf zu Kolbert. Die verstand nicht sofort, was er meinte.

»Ich muss es untersuchen!«, betonte der Arzt nunmehr leicht unwirsch. Und die Hebamme reagierte nur unwillig. Vorsichtig löste sie das Baby von der Mutter. Nur wenn man sehr genau hinsah, konnte man erkennen, dass Kolbert mit einem Lächeln im Gesicht eingeschlafen war.

Sogleich war die Harmonie zwischen Mutter, Kind und Vater dahin. Doch während Kolbert weiterschlief, als hätte er die abrupte Trennung von seiner Mutter gar nicht bemerkt, wich das eben noch sanfte Lächeln aus den Gesichtern von Mutter und Vater, als hätte man es mit einer kräftigen Bürste weggefegt.

Die Hebamme versuchte den Mangel an Eintracht zu überdecken. Sie zog ihre Mundwinkel übertrieben nach außen und oben. Schnell drehte sie sich dann mit dem Baby herum und verließ mit eiligen Schritten den Raum.

Der Arzt folgte ihr bis zur Tür, blieb dann aber noch einmal stehen. »Sie kommen einen Moment allein zurecht?«, fragte er halb zu den Eltern von Kolbert gewandt. Um dann eilig hinzuzufügen: »Schwester Ilse ist gleich wieder da!«

Schon war er draußen. Und Kolberts Eltern blieben allein zurück. Die Mutter hatte sich halb im Bett aufgerichtet. Schweigend saßen sich beide Eltern nun gegenüber. Mit steinernen Gesichtern. Auf einmal wieder kinderlos.

Vielleicht würde alles noch einmal auf null gesetzt? Und die Geburt ihres Kindes stünde erst bevor: Noch waren sie zu zweit, doch schon bald würde ein gesundes Kind mit rosiger Haut und braunem Haar sie anlächeln.

Doch dann war die Hebamme wieder da. Versuchte mit ihrem erneut aufgesetzten Lächeln die Lage zu entschärfen. Und damit war auch die Wirklichkeit wieder gegenwärtig: Kolbert war nicht normal geboren worden, sondern hatte eine durchsichtige Haut.

Und jetzt wurde er in einem anderen Raum der Klinik untersucht. Womöglich litt er an einer schweren Krankheit. Die vielleicht unheilbar war und gar zum Tode führen konnte.

»Was ist mit unserem Kind?«, rief die Mutter. Die Hebamme versuchte tapfer weiter zu lächeln, als sie sagte: »Es kommt alles in Ordnung! Ihr Sohn wird gerade untersucht!«

»Nichts ist in Ordnung!«, meinte der Vater aufgeregt. »Wir tun was wir können!«, stotterte die Hebamme unsicher.

»Besteht Lebensgefahr?«, fragte der Vater. »Wird unser Sohn überleben?«, rief die Mutter.

»Er wird!«, hörten sie die Stimme des Arztes. Er trat an das Bett, in dem die Mutter immer noch aufgerichtet saß.

»Beruhigen Sie sich!«, sagte er leise, aber bestimmt. Er berührte sie mit beiden Händen an den Schultern und drückte sie sanft zurück, bis sie mit dem Kopf wieder im Kissen lag.

»Beruhigen Sie sich!«, wiederholte er dann und sah der Mutter ins Gesicht. »Ihr Sohn hat einen starken Mangel an Pigmenten in seiner Haut. Aber da ist nichts, weshalb er sterben müsste. Babys haben zwar ohnehin noch weniger Farbstoffe als Kinder und Erwachsene ...«

»Was heißt das jetzt für unser Kind?«, fragte der Vater.

»Vielleicht handelt es sich um Leuzismus oder Albinismus ...«, begann der Arzt zu erklären, doch die Mutter unterbrach ihn: »Ein Albino? Unser Sohn ist ein Albino?«

»Die Untersuchungen sind noch nicht abgeschlossen«, versuchte der Arzt zu beschwichtigen, »Sie haben ja gerade erst begonnen. Ihr Kind ist doch eben erst geboren ...«

»Albinos?«, warf der Vater nun ein, »Sind das nicht Missgeburten?« Energisch schüttelten Hebamme und Arzt die Köpfe.

»Albinismus bedeutet nur, dass die Haut des Betroffenen sehr wenig oder fast keinen Farbstoff hat«, versuchte der Arzt zu erklären, »Dadurch wirkt die Haut durchsichtig. Dieser Mangel an Pigmenten ...« »Pigmenten?«, fragte die Mutter.

»Pigmente sind Farbstoffe. Je mehr davon eine Haut hat, desto dunkler ist sie. Somit kann man sicher nicht von einer Missgeburt sprechen, nur weil Ihr Kind augenscheinlich nur wenige Pigmente hat!«

Beide Eltern schauten den Arzt schweigend an. »Urteilen Sie nicht zu vorschnell, wo wir alle doch noch gar keine klaren Erkenntnisse haben!«, fuhr der fort.

»Wir werden Ihr Kind gründlich untersuchen, und ziehen auch einige Hautspezialisten hinzu. Wenn eine genaue Diagnose feststeht, werden wir eine wirkungsvolle Behandlung einleiten. Bis dahin sollten Sie erst einmal abwarten. Es macht keinen Sinn, wenn Sie sich aufregen. Und sich dann herausstellt, dass es etwas Harmloses ist. Wir werden Sie bestimmt beizeiten ausführlich informieren.«

Der Chamäleonmann

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