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5. Die Entführung

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Im Laufe der Zeit war Kolbert drei Jahre alt geworden und besuchte den Kindergarten. Lena war noch immer sein Kindermädchen. Ihr Aufgabenbereich war inzwischen erweitert worden. Sie hatte Kolbert morgens im Kindergarten abzuliefern und mittags dort wieder abzuholen. Um dann den Nachmittag bis zum Abend mit ihm zu verbringen.

Und weil Lena auch bereit war, einen Großteil des Haushalts der Familie Glaser zu übernehmen, hatte sie seit einiger Zeit eine Stelle, die sie zeitlich so ausfüllte, dass sie ihren Vater morgens gar nicht und abends nur betrunken und meist schon schlafend antraf. Lediglich an den Wochenenden war sie mit ihm zusammen, allerdings hielt sich die Kommunikation in Grenzen.

Für sie war es zunehmend unerträglich geworden, seinen täglichen Verfall mitzuerleben, ohne etwas dagegen ausrichten zu können. Zudem hielt ihr Vater die vereinbarten Regeln immer weniger ein. Nun hatte Lena täglich die leeren Flaschen fortzuschaffen und die Alkoholflecken wegzuwischen, und – was weitaus unangenehmer war – alle paar Tage Erbrochenes von Möbeln und Boden zu entfernen sowie immer wieder das Bad zu putzen.

Deshalb war Lena mittlerweile dabei, sich eine eigene kleine Wohnung zu suchen, sogar ein Zimmer würde ihr genügen. Hauptsache, sie müsste nicht mehr ansehen, wie ihr Vater sich allmählich völlig aufgab, obgleich er gerade mal ein paar Jahre über 40 war.

Dazu kam, dass Lukas Wagner in letzter Zeit immer wieder einen »guten Kumpel« bei sich zu Besuch hatte, wie er diesen Mann bezeichnete. Der war Lena jedoch nicht ganz geheuer, auch weil er ihr immer recht nah kam, wenn er zu ihr redete. Ähnlich wie ihr Vater sprach auch Bruno – wie er sich nannte – dem Alkohol zu, nur wurde er im betrunkenen Zustand oft recht laut und konnte bisweilen auch ausfällig werden.

Und weil Lena Angst vor Zudringlichkeiten hatte, war sie oft spät unterwegs, bis die beiden endlich im Suff eingeschlafen waren. Dann schlich sie leise in ihr Zimmer, das sie inzwischen immer abschloss, ehe sie ins Bett ging.

Es dauerte nicht lange, bis Lena endlich etwas anderes gefunden hatte, ein möbliertes Zimmerchen mit Badbenutzung. Es war nicht allzu teuer. Zwar recht klein, aber die Fläche reichte ihr aus, da sie ohnehin nur Handgepäck mitnahm: erst einmal zwei Koffer und dann das, was sie nach und nach aus der Wohnung ihres Vaters hinausschaffen konnte.

Eines Abends hatte sie gerade ihre letzten Habseligkeiten gepackt. Ihre Möbel mussten eben dableiben. Oder sie würde sie vielleicht irgendwann einmal nachholen. Lena legte den längst geschriebenen Abschiedsbrief auf den Küchentisch. Schaute sich noch einmal in ihrem alten Zimmer um. Und verließ dann die Wohnung, in der sie so viele Jahre mit ihrem Vater zugebracht hatte. Lena war davon überzeugt, dass dies für immer sein sollte (und musste).

In dem Brief, den sie zum Abschied hinterlassen hatte, schrieb sie, dass es ihr leidtäte. Aber sie wolle von jetzt an ihren eigenen Weg gehen. Sie würde sich ab und zu melden. Ihre neue Adresse hatte sie natürlich nicht angegeben. Denn keinesfalls war sie daran interessiert, dass ihr Vater allein oder gar mit diesem Bruno bei ihr auftauchte.

Diese Gefahr schien zunächst nicht allzu groß. Doch irgendwann würde ihr Vater sicher beginnen nach ihr zu suchen. Und schon tat er Lena wieder leid. Doch wer konnte schon wissen, wie lange er noch mit seinem Saufkumpan zusammenblieb?

Welche Pläne Bruno wirklich hegte, wusste Lena nicht. Der hatte in langen Gesprächen mit Lukas Wagner einiges über seine Tochter und ihre Tätigkeit als Kindermädchen erfahren. Was Bruno nicht weiter interessierte.

Einmal jedoch hatte Lena ihrem Vater auch etwas über Kolberts Fähigkeit erzählt, seine Hautfarbe zu ändern. Es war ihr einfach so herausgerutscht. Lukas glaubte das nicht, doch er gab es an Bruno weiter. Und der begann sich für Kolbert zu interessieren.

Bruno hatte auch schon eine Idee. Von Lukas wusste er, wo Lena arbeitete. Damit kannte er Kolberts Wohnort. Und er wusste ebenfalls von Lukas, dass beide Eltern »gebildet und berufstätig« waren. Daraus schloss er, dass sie auch gut verdienten. Und bei so einem besonderen Kind würden sie sicher etwas von ihrem Geld springen lassen.

Er teilte seinen Plan Lukas mit. Der lehnte ihn entrüstet ab. Doch Bruno war hartnäckig, und es gelang ihm schließlich in langen Gesprächen mit viel Alkohol, Lenas Vater von seinem Plan zu überzeugen, den kleinen Kolbert zu entführen.

»Das bedeutet für dich das Ende deines langjährigen Elends. Es gibt ein ansehnliches Lösegeld. Und das teilen wir uns.«

»Und wie stellst du dir das vor?«, fragte Lukas. Bruno wusste von ihm, dass Lena Kolbert täglich zum Kindergarten brachte und von dort auch wieder abholte.

»Ich hab mir den Weg schon mal angeschaut«, sagte Bruno, »Es gibt da ein kurzes Waldstück. Ich verstecke mich dort und du quatschst deine Tochter an. Damit lenkst du sie ab und ich schnappe mir den Kleinen und verschwinde.«

»Und ich?« »Du tust erstaunt und spielst den Empörten.« Lukas schüttelte den Kopf. »Nein, halt Lena da raus!«

»Nach allem, was deine Kleine dir angetan hat? Haut einfach so ab und lässt dich im Stich!« Den Brief von Lena hatte Lukas Bruno gezeigt, nachdem er ihn gefunden und gelesen hatte.

»Wenn du sie ansprichst und mit ihr redest«, meinte Bruno, »hast du ne Chance, dass sie wieder zurückkommt.« »Aber nicht, wenn der kleine Junge entführt wird«, entgegnete Lukas und fuhr fort: »Nein, zieh da meine Tochter nicht mit rein.«

»Okay«, änderte Bruno seinen Plan, »wir machen es anders. Ich kidnappe den Kleinen allein. Und du bleibst in der Nähe. Wenn ich dich brauche, kommst du mit und hilfst mir.«

Damit war Lukas einverstanden. Er hinterfragte auch nicht weiter, welchen Plan Bruno nun verfolgte. Er war froh, wenn er nichts direkt mit der Entführung selbst zu tun hatte.

Und so bekam er auch nicht mit, wie Bruno seiner Tochter von hinten einen betäubenden Schlag versetzte, sich Kolbert griff und den ebenfalls einschläferte. Allerdings etwas weniger hart, indem er ein mit Äther getränktes Tuch verwendete.

So war Lena eine Weile außer Gefecht. Und das Kind würde hoffentlich erst wieder aufwachen, wenn es sicher in dem Versteck untergebracht war, das Bruno vorher ausgewählt hatte.

Lukas hockte derweil weiter entfernt in einem Gebüsch. Als Bruno mit einem Bündel kam und ihn heranwinkte, folgte er ihm ohne nachzudenken. Bis sie endlich in einem verlassenen baufälligen Haus angelangt waren.

Bruno ging zielstrebig die Stufen zum Keller hinunter, er kannte sich hier offenbar gut aus. Alles schien vorbereitet, denn Bruno öffnete eine rostige Eisentür, die zu einem leeren Raum mit rotbraunen Ziegelsteinmauern und zwei kahlen Fenstern führte. Darin stand als einziges Möbelstück ein alter Kleiderschrank, von dem die weiße Farbe zu einem Großteil abgeblättert war.

Während Bruno das noch immer betäubte Kind in den Armen hielt, wies er Lukas an, den Schrank zur Seite zu schieben. Dahinter wurde eine Lücke in der Mauer frei, durch das beide Männer mit dem entführten Kolbert stiegen.

Im nächsten Raum war es so dunkel, dass Bruno seine Taschenlampe anknipsen musste, die er bei sich führte. Zuvor schubste er Lukas im Dunkeln an: »Nimm du mal das Kind! Schließlich musst du dir deinen Anteil auch verdienen.«

Lukas fühlte die Wärme von Kolberts Körper, spürte sein langsames Atmen. Er klammerte den Jungen fest an sich, aus Angst ihn sonst fallen zu lassen. Unterdessen leuchtete Bruno mit der Taschenlampe den Raum ab.

Die Wände waren hellgrau verputzt, der Boden bestand aus braungelbem Lehm, ein engmaschiges Gitter lag in einer Ecke, daneben stand ein niedriger Tisch. In der Raummitte befand sich ein Loch. Es war jeweils gut einen Meter breit und lang.

Lenas Vater sah zu, wie Bruno in das wohl knapp zwei Meter tiefe Loch sprang und es mit seiner Taschenlampe erleuchtete. Unten lagen eine zurechtgeknickte Matratze sowie eine Decke. Lukas konnte einige Flaschen sehen, die anscheinend mit Wasser gefüllt waren. Daneben stand ein größeres Gefäß.

Bruno zeigte darauf und auf die Flaschen. »Zu essen und zu trinken hat er genug«, meinte er, »Und nun gib mir den Jungen!«

Lukas schwankte ein wenig, als er mit Kolbert im Arm in die Knie ging. Vorsichtig reichte er ihn Bruno, der ihn mit gestreckten Armen aufnahm. Und ihn dann unten absetzte.

Bruno schaute sich kurz noch einmal um, dann kletterte er wieder aus dem Loch. Er verschloss es mit dem Gitter und stellte den Tisch darüber, dem er die Beine ein Stück abgesägt hatte.

»Lass uns gehen«, sagte er zu Lukas und klopfte ihm auf die Schulter, »Es gibt noch mehr zu tun.« Er zog ihn mit sich in den anderen Raum, schob dann den Schrank wieder vor das Mauerloch, und verließ mit Lukas die Bauruine.

»Es wird nicht lange dauern, bis deine Tochter den Eltern von diesem Balg gesteckt hat, dass er verschwunden ist«, grinste Bruno.

»Mir ist schlecht!«, stöhnte Lukas, ließ sich auf die Knie fallen und übergab sich.

»Mach nicht schlapp!«, schimpfte Bruno, »Wir müssen hier weg!«

Er zog Lukas in den Stand und klopfte ihm auf die Schulter: »Du gehst jetzt schnell nach Hause und legst dich hin.«

Er grinste ihn an: »Und wenn dich jemand fragt, spielst du den Ahnungslosen. Sagst nur, dass du den ganzen Tag zu Hause warst und deine Wohnung nicht verlassen hast.«

»Wenn mich jemand fragt?« Lukas war verwirrt. »Mann«, sagte Bruno, »Deine Tochter ist das Kindermädchen von dem Kerl. Und da fragt die Polizei als erstes die Verwandten aus.«

»Ausfragen?«, sagte Lukas gedehnt. Seine Verwirrung wuchs.

»Nun mach dir nicht in die Hosen! Die kommen vielleicht gar nicht. Ich ruf gleich bei den Eltern an und sag denen, dass sie die Polizei aus dem Spiel lassen sollen. Ist ja nur für alle Fälle, falls sie's nicht tun.«

Lukas wollte nichts mehr hören. Er hatte sich bereits auf den Weg in seine Wohnung gemacht. Es war ja nicht lange her, seit Lena ihn verlassen hatte. Doch ihm schien die Welt jetzt noch grauer als zuvor.

Andererseits hatte das Verschwinden seiner Tochter ihm deutlich gemacht, dass es so nicht mehr weitergehen konnte. Vielleicht kam da der Plan von Bruno gerade recht. Mit einer Entführung könnten sie auf einen Schlag soviel Geld haben, dass er sich für einige Jahre keine finanziellen Sorgen mehr zu machen brauchte.

Er würde sich also in seiner Wohnung verkriechen, bis Bruno mit dem Lösegeld auftauchte. Und sollte jemand an der Tür klingeln, so würde er es einfach ignorieren. Bruno hatte ja einen Schlüssel zu seiner Wohnung.

Der stand mittlerweile in einer Telefonzelle und hatte gerade Kolberts Vater am anderen Ende der Leitung. 20.000 Mark Lösegeld forderte Bruno. Übermorgen Mittag um Zwölf sollte eine Plastiktüte mit dem Geld in einem Abfallkorb neben der Parkbank deponiert werden, die direkt unter dem Mariendenkmal stand.

Diese Methode hatte Bruno schon mehrere Male im Film gesehen und sie erschien ihm auch für seine Zwecke ganz passend (zumal er sich keine eigene neue ausdenken musste).

»Die Polizei bleibt in jedem Fall aus dem Spiel«, betonte Bruno, »Sobald ich das Geld bekommen und gezählt habe, ist Ihr Kind wieder frei.«

Der Mann am anderen Ende der Leitung schien schockiert. »Ich will Beweise«, hörte Bruno ihn auf einmal sagen, »Sonst glaube ich das nicht. Und zahle auch nichts.«

Bruno hatte sich den Ablauf unkomplizierter vorgestellt. Da fiel ihm Kolberts Eigenschaft ein, seine Hautfarbe ändern zu können. »Er verfärbt sich«, sagte er deshalb ins Telefon, und hörte den Vater am anderen Ende schwer atmen.

Vielleicht würde das als Bestätigung genügen, dass sein Sohn wirklich entführt worden war? Noch kam keine Antwort. »Ich will einen echten Beweis, dass Sie ihn haben!«, forderte Kolberts Vater dann erneut.

»Okay«, meinte Bruno verärgert, »ich besorge ein Stück seiner Kleidung.« Er schlug vor, es in denselben Abfallkorb zu legen, den er für das Lösegeld ausgewählt hatte. Und Kolberts Vater erklärte sich damit einverstanden.

Als Bruno den Hörer aufgelegt hatte, rieb er sich die Hände. Nun musste er nicht einmal zwei Tage warten, und dann war er um zwanzig Riesen reicher. Sicher hätte er mehr verlangen können, aber dann hätte es weitaus länger gedauert, das Geld zusammen zu kriegen. Auch könnten die Eltern dieses Jungen bei einem zu großen Betrag auf die Idee kommen, doch die Polizei einzuschalten.

Und 20.000 Mark waren für diese Leute wohl zu verschmerzen. Für Bruno aber eine ganze Menge im Vergleich zu dem Geld, das er sonst durch Betteln, kleine Diebstähle und Gelegenheitsdienste zusammenbekam.

Vielleicht würde er Lukas davon ein paar Scheine abgeben, aber ganz gewiss nicht mehr als einen Tausender. Denn eigentlich hatte Bruno fast alles allein gemacht. Es war sogar ausgesprochen gönnerhaft von ihm, dass er seinem ehemaligen Kumpel etwas Geld in den Briefkasten steckte, ehe er sich aus dem Staub machte.

Bei Lukas selbst sollte er jetzt ohnehin nicht auftauchen. Es könnte sich vielleicht dort Polizei herumtreiben. Denn es war ja nicht sicher, ob der Vater des Jungen die Bullen aus dem Spiel ließ.

Deshalb hatte Bruno vorgesorgt und sich bereits eine andere Wohnmöglichkeit gesucht. Es waren ja nur zwei Nächte, die er im Obdachlosenheim zubringen musste. Dann würde er diese verdammte Stadt als reicher Mann verlassen.

Während Bruno sich auf den Weg machte, war Kolbert längst aufgewacht. Zuerst hatte ihn panische Angst ergriffen: Er konnte nichts sehen! War er blind geworden? Wieso war er überhaupt eingeschlafen? Das war ihm auf dem Weg vom Kindergarten noch nie passiert. Und wo war Lena?

»Lena!«, hörte Kolbert sich rufen. Es klang seltsam dumpf. Um ihn herum war alles dunkel. Und er spürte die kühle Feuchtigkeit. Er stand auf und schwankte ein wenig, der Boden war seltsam federnd weich. Kolbert ging langsam ein paar kurze Schritte, bis er an die Wand stieß. Er betastete sie. Diese Haut war unangenehm rau und glitschig. Sosehr Kolbert seine Augen anstrengte, er konnte keine Farben erkennen.

»Lena!«, rief er wieder und wieder. Schließlich schrie er: »Lenaa! Leenaa! Leeenaaa!«

Als seine Stimme heiser wurde, spürte er die Erschöpfung. Er hatte Durst. Mittlerweile hatten seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt. Und es war ihnen gelungen, doch ein wenig Licht aufzusaugen. Kolbert sah, dass dicht um ihn herum Wände waren, offenbar aus Erde. Wie es schien, befand er sich in einem kleinen fremden Zimmer. Ohne Fenster und ohne Tür.

Unter sich bei seinen Füßen erkannte er einige Flaschen. Er wusste, dass darin etwas zu trinken sein konnte. Und Kolbert ließ sich auf seinen Po fallen. Ergriff eine der Flaschen und versuchte sie zu öffnen. Es kostete ihn einige Mühe, bis er den Verschluss aufgeschraubt hatte.

Er schnupperte an der Flasche. Sie roch nicht nur nach nichts, was er kannte. Sie roch nach überhaupt nichts. Vorsichtig hob er die Flasche an den Mund und ließ etwas von ihrem Inhalt in seine Mundhöhle laufen. Sein Geschmackssinn registrierte die Flüssigkeit als Wasser. Und Kolbert begann zu trinken, erst langsam, dann immer schneller. Bis ihm das Wasser aus den Mundwinkeln und am Hals herunterlief.

Endlich war er satt. So satt, dass er auch kein Hungergefühl verspürte. Er verschloss die Flasche wieder und stellte sie auf den Boden. Das danebenstehende Gefäß mit dem Essen beachtete er gar nicht.

Er war sehr müde. Unter sich spürte er den Boden, der sich ähnlich weich anfühlte wie die Matratze, auf der er in seinem Bett schlief. Kolbert ließ sich zur Seite gleiten und es dauerte nicht lange, da war er auch schon eingeschlafen.

Als er wieder aufwachte, war es weiterhin dunkel. Außerdem war es reichlich schwül und stickig in dieser für Kolbert tiefen und engen Grube geworden. Das Atmen fiel ihm schwer, er begann zu schwitzen. Nach und nach zog er alle Kleider aus, bis er sich als letztes auch seiner Windel entledigte.

Wenn da keine Tür war, so musste es dennoch einen Ausweg geben. Kolbert schaute nach oben. Und weil seine Augen sich lange schon an die Dunkelheit gewöhnt hatten, erkannte er ein Muster aus grauem Licht und schwarzen sich kreuzenden Linien. Dort musste so etwas wie eine Öffnung sein. Dass der Ausgang eines Zimmers hier oben und nicht wie üblich an einer der Wände war, schien Kolbert nur kurz zu verwundern.

Wichtig für ihn war es, dieses Gitter zu erreichen und zu öffnen. Er tastete die Wände ab und fand an einigen Stellen Vertiefungen. Die hatte Bruno (selbst nicht allzu sportlich) an einer Wandseite der Grube in kürzeren Höhenabständen für sich angelegt. Und die nutzte nun Kolbert, nachdem er sie entdeckt hatte, um selbst nach oben zu gelangen. Was Bruno ganz offensichtlich nicht einberechnet hatte.

Kolbert begann die feuchtkalte Wand hinaufzuklettern, stürzte in der Mitte jedoch wieder herunter. Und landete unbeschadet auf der Matratze. Erst mehrere Versuche brachten ihn dem Gitter immer näher, bis er es berühren konnte.

Es war zum Glück nicht allzu schwer für Kolbert, es mit einer Hand ein wenig zu verschieben. So entstand mit der Zeit ein Spalt, der breit genug für ihn war, um hindurch zu schlüpfen. Und endlich diese ihm unheimliche Grube zu verlassen. Bis es allerdings so weit war, musste Kolbert noch einige Male herunterfallen und wieder hinaufsteigen, wobei er sich Ellbogen und Knie aufschürfte.

Kaum war er endlich aus der Grube geklettert und unter dem darüber gestellten niedrigen Tisch hervorgekrochen, da hörte er ein Geräusch. Es war Bruno, gerade auf dem Weg zum Versteck, um nach dem Jungen zu sehen und eines seiner Kleidungsstücke mitzunehmen.

Kolbert hatte die Wände als graufarbig erfasst, weil hier etwas mehr Licht vorhanden war. Was sollte er tun? Orientierungslos wie er war, rannte er auf eine der grauen Wände zu, um seinen schmächtigen Körper dort anzupressen.

Im ersten Moment war es furchtbar kalt, aber die Angst hielt Kolbert an dieser Wand fest. Dann tastete er sich an ihr entlang bis in eine der Ecken. Das Herz schien ihm stillstehen zu wollen, als er hörte, wie jemand sich näherte. Dabei neutralisierten sich seine Chromatophoren, sodass seine Haut eine Farbe annahm, die dem Grauton der Wände täuschend ähnelte. Dazu kam der Umstand, dass sein kurzgeschorenes Haar ohnehin grau war.

Als Bruno den Schrank zur Seite geschoben hatte und durch das Loch in der Wand gestiegen war, richtete er seine Taschenlampe auf die Grube und knipste sie an. Sofort bemerkte er den leicht verschobenen Tisch und das versetzte Gitter. Der Schrecken fuhr ihm durch alle Glieder, sein Fuß trat den Tisch und das Gitter zur Seite. Mit der Lampe leuchtete er die Grube ganz aus, konnte aber nur Kolberts Kleider und seine Windel entdecken, die dort verstreut herumlagen.

Wild fluchend sprang Bruno in die Grube. Er wollte nicht glauben, dass ihm sein Opfer entwischt war. Unterdessen klebte Kolbert mit heftigem Herzklopfen in seiner Ecke, schien regelrecht mit ihr verwachsen, als ob er und die Wand eins wären.

Kurze Zeit später hatte Bruno die Grube wieder verlassen – mit Kolberts Pullover in der Hand. Er spähte die Wände entlang, während Kolbert ihm den nackten Rücken zukehrte. Selbst viel zu erregt kam Bruno nicht auf die Idee, Wand für Wand genau abzuleuchten.

Im Glauben, Kolbert sei bereits aus dem Raum geflüchtet, rannte er in Panik hinaus, das offene Wandloch hinterlassend. Natürlich konnte er Kolbert auch in der Umgebung der Hausruine nicht finden. Wenn aber dieses Kind frühzeitig zu seinen Eltern zurückkehrte, war alles umsonst! Und Bruno müsste zurück zu Lukas und seinen Flaschen, weiter mit ihm das öde ziellose Leben teilen, das jener führte – und immerzu führen würde.

Seine anfängliche Verzweiflung wandelte sich zunächst in maßlose Wut, um dann aber einer gewissen Zuversicht zu weichen. Warum sollte er nicht versuchen, früher an das Lösegeld zu kommen? Obwohl Kolbert ihm ganz offensichtlich entwischt war. So könnte er längst mit den Scheinen über alle Berge sein, wenn Kolbert irgendwo aufgegriffen würde. Schnellstmöglich sollte er daher eine Telefonzelle aufsuchen, um bei Kolberts Eltern auf eine frühere Geldübergabe zu drängen.

Lange Zeit, nachdem Bruno wieder von Kolberts Aufenthaltsort verschwunden war, wagte es dieser, sich aus seiner Ecke weg zu rühren. Er drehte sich um, erkannte das Loch in der Wand, bewegte sich darauf zu und stieg vorsichtig hindurch. Kam dabei zu Fall, aber landete sicher auf der anderen Seite der Mauer neben dem Schrank, der in diesem Raum als einziges Möbelstück stand.

Hier war auch mehr Licht, sodass Kolbert sich besser orientieren konnte. Als er schließlich draußen vor dem verlassenen baufälligen Haus stand, das bis vor kurzem sein Gefängnis gewesen war, blendete ihn das grelle Tageslicht.

Aber Kolbert war das gleichgültig. Er wollte nur noch zu Lena und nach Hause. Verwirrt eilte er in Richtung Straße, wo er Geräusche von Autos hörte. Nach Lena zu rufen wäre hier wohl sinnlos gewesen.

Zuerst fuhren nur Autos an ihm vorbei, es waren nur wenige, denn die Straße war nahezu unbelebt. Keiner der Insassen schien ihn weiter zu beachten.

Als ihm die ersten Passanten begegneten, rief Kolbert ihnen zu: »Hallo! Nach Hause!« Doch die Vorübergehenden – ein paar Jugendliche – starrten ihn nur an und kicherten, blieben aber nicht stehen. Dann kam eine ältere Frau, kreischte entsetzt und ging eilig weiter.

Kolbert war verstört. Warum reagierten die Menschen so? Seiner Nacktheit war er sich zwar bewusst, aber er fand nichts Schlimmes daran. Bei all der Aufregung hatte er jedoch bis jetzt gar nicht bemerkt, dass seine Hautfarbe noch immer grau war. Doch das ließ sich leicht korrigieren. Innerhalb kurzer Zeit hatte seine komplette Haut ein wieder unauffälligeres Orangerosa angenommen.

Bald darauf hielt ein Auto und zwei Männer in Uniform stiegen aus. Sie fanden einen kleinen Jungen vor, der vollkommen nackt war und »Nach Hause!« sagte.

Die kreischende Frau von vorhin war plötzlich wieder da und rief: »Die Haut! Seine Haut!« »Was ist mit seiner Haut?«, fragte einer der Polizisten. »Grau!«, bekam er zur Antwort, »Sie war grau!« »Aber jetzt ist sie rosa!«, betonte der Polizist. »Vorhin war sie grau!«

Kopfschüttelnd nahm sein Kollege Kolbert an der Hand und brachte ihn zum Auto. Dort umwickelte er ihn mit einer Decke. »Was ist passiert? Hast du dich verlaufen? Wie heißt du denn?«, fragte er. Drei Fragen auf einmal. Kolbert beschloss, nur die letzte zu beantworten und sagte brav seinen Vor- und Nachnamen auf.

Inzwischen hatte der eine Polizist die Frau nochmals befragt. Und die blieb bei ihrer Behauptung, dass die Haut dieses Jungen tatsächlich grau gewesen sei. »Wenn das stimmt«, meinte der Mann zu seinem Kollegen, »dann haben die Ärzte einen neuen Fall!«

Ohne lange zu überlegen, fuhren die beiden Polizisten mit Kolbert in die nahegelegene Klinik. Erst von dort aus benachrichtigten sie seine Mutter. Die war am anderen Ende der Leitung hörbar erleichtert, dass ihr Sohn in Sicherheit war.


Der Chamäleonmann

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