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6. Verlieren und finden?

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Gleich nach dem ersten Telefonat mit Bruno hatte Kolberts Vater die Polizei davon in Kenntnis gesetzt. Etwas später war ein Mann zu den Eltern nach Hause gekommen, der sich als Kommissar Herbst vorstellte.

Noch während der mit den Eltern das weitere Vorgehen besprach, rief jemand aus einer Klinik an und berichtete, dass Lena auf dem Weg vom Kindergarten einen Schlag auf den Kopf erhalten habe und Kolbert verschwunden sei.

Bald darauf erhielten die Glasers einen erneuten Anruf von Bruno, der es plötzlich auffallend eilig hatte. Er wollte das Lösegeld nun sofort, also noch heute. In Absprache mit dem Kommissar stimmte der Vater von Kolbert zu, schnellstmöglich zum vereinbarten Treffpunkt zu fahren, sobald er das Geld von der Bank geholt hatte.

Der Plan von Kommissar Herbst sah vor, dass einige Polizisten dem Entführer unauffällig folgen sollten, sobald er das Lösegeld übernommen hatte. Zuschnappen würde man erst, wenn Kolbert außer Gefahr sei.

Moritz Glaser war längst auf dem Weg zu Bruno, als ein weiterer Telefonanruf kam, den Kolberts Mutter entgegennahm. Sie erfuhr, dass ihr Sohn wohlbehalten in einer Klinik angelangt und damit dem Entführer entkommen war. »Er wird von den Ärzten noch untersucht«, meinte der Polizist am Telefon, »auch weil da irgendwas mit seiner Haut gewesen sein soll«.

Nachdem Johanna Glaser dem Kommissar die aktuelle Lage geschildert hatte, gab der die Information sofort über Polizeifunk weiter. So konnte Bruno direkt am Mariendenkmal festgenommen werden, und bekam das erwartete Lösegeld nicht einmal zu sehen.

Bereits in der Klinik hatte Kolbert von einem »Zimmer mit Ausgang oben« berichtet, in dem er eingesperrt war. Die Polizei nahm dort die Suche auf, wo sie Kolbert angetroffen hatte. Nicht weit davon war das verlassene baufällige Haus, in dem man dann auch auf die Grube stieß. Darin wurden außer einer Matratze nebst Decke einige Wasserflaschen, ein Gefäß mit Essen und Kinderkleidung gefunden.

Bei seiner ersten Vernehmung erzählte Bruno Kommissar Herbst, dass er nur ein Mittelsmann sei, der das Lösegeld abholen sollte. Er wusste, dass die Sache verloren war und wollte möglichst glimpflich davonkommen. Als Haupttäter belastete er Lenas Vater Lukas. Der hätte die Entführung geplant und ausgeführt.

Lukas Wagner zeigte sich reumütig und gestand sofort seine Mittäterschaft, die darin bestand, den bewusstlosen Kolbert eine Weile zu halten und dann an Bruno zurückzureichen, damit der ihn in die Grube einsperren konnte.

Zuerst wollte er seinen Kumpel nicht verraten, doch als Lukas erfuhr, dass Bruno seine Tochter brutal niedergeschlagen hatte, schob er die Hauptschuld auf ihn.

Es dauerte nicht lange, bis die Polizei ermittelt hatte, dass die Entführung vorwiegend auf Brunos Konto ging. Lukas jedoch war als Mitläufer auch nicht unschuldig. Er wurde auf Bewährung verurteilt. Während Bruno im Gefängnis landete.

Die materielle Lage von Lenas Vater hatte sich also nicht geändert, wohl aber seine Lebenseinstellung. Mit einem Mal nämlich kam Lukas auf die Idee, sich doch wieder um eine Arbeitsstelle zu bemühen. Immerhin war er ja noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen.

Möglicherweise tat er es auch seiner Tochter zuliebe, weil er sich besonders ihr gegenüber weiterhin schuldig fühlte: Seinetwegen war sie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, und nur weil er sich mit diesem Bruno abgegeben hatte, war es zu der ganzen Katastrophe mit Lenas Verletzung und Kolberts Entführung gekommen.

Mehr als eine Woche lag Lena mit einer Gehirnerschütterung in der Klinik – zufällig war es dieselbe, in die auch Kolbert gebracht worden war. Ihr Vater hatte sie in dieser Zeit einmal besucht. Um ihr zu sagen, dass ihm alles leidtäte, was passiert sei. »Ich werde mich um einen neuen Job bemühen. Und keinen Alkohol mehr anrühren. Und ich mache eine Therapie.«

Lena wünschte ihm alles Gute. Mehr hatten sich beide nicht zu sagen. Und Lukas spürte, dass ihre Beziehung sich erst wieder bessern konnte, wenn er tatsächlich einen festen Job hatte und wirklich vom Alkohol losgekommen war.

Auch Kolberts Mutter hatte Lena kurz aufgesucht. »Es tut mir leid, was geschehen ist«, hatte sie gesagt, »aber wir müssen dich entlassen. Du kannst nicht mehr Kolberts Kindermädchen bleiben, schließlich ist dein eigener Vater in die Sache verwickelt.«

Lena war betroffen, konnte es Kolberts Mutter aber nicht verdenken. »Kann ich ihn denn noch einmal sehen?«, fragte sie bittend. Johanna Glaser schüttelte den Kopf: »Er wird es schwer genug haben, sich an ein neues Kindermädchen zu gewöhnen.«

Nun würde Lena wieder arbeitslos sein. Wie sollte sie ihr Zimmer bezahlen? Sobald sie aus der Klinik draußen war, musste sie sofort zum Amt. Vielleicht würde sie wenigstens Sozialhilfe oder Wohngeld bekommen, bis sie einen neuen Job gefunden hatte. Sollte sie nicht lieber endlich mit einer Ausbildung anfangen? Das war etwas, das sie nun schon seit mehr als zwei Jahren vor sich herschob. Da gab es doch auch finanzielle Hilfe, die sie beanspruchen konnte.

Lena wusste, dass sie noch eine Weile hier würde liegen müssen. So hatten es ihr die Schwester und der Arzt gesagt. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte das mit dem Geld gleich geklärt. Jemanden, der ihr da helfen würde, hatte sie ja nicht. Ihr Vater kam ohnehin nicht mehr infrage, mit dem wollte sie vorläufig nichts mehr zu tun haben.

Vielleicht sollte sie mit ihrer Mutter darüber reden? Die wohnte in einer anderen Stadt und hatte mit Lena nur wenig Kontakt. Und wie sollte ihre Mutter ihr helfen? Mit Geld? Das wollte Lena nicht.

Am folgenden Tag bekam sie unerwarteten Besuch. Es war derselbe Journalist, der ihr schon einmal über den Weg gelaufen war. Oder besser hinterher. Diesmal erschien er auf einmal an ihrem Bett, hatte einen Strauß Blumen in der Hand und grüßte sie freundlich.

»Die sind für Sie«, lächelte er und schaute sich nach einer Vase um. Als er eine fand, packte er die Blumen aus und stellte sie hinein. Dann ging er direkt ins Bad und ließ Wasser in die Vase laufen.

Als er zurückkam, trug er noch immer sein Lächeln und stellte die Blumenvase auf das Schränkchen neben Lenas Bett. »Darf ich?«, fragte er dann und setzte sich auf einen Stuhl, ehe Lena Ja gesagt hatte.

Es störte sie, dass dieser Mensch einfach so hereinkam und dablieb. Als wäre es selbstverständlich, dass sie damit einverstanden war. Na gut, er hatte um Erlaubnis gefragt, aber er hatte nicht wirklich ihre Einwilligung abgewartet.

»Wie geht es Ihnen?«, fragte er jetzt. Das letzte Mal hatte er sie doch noch geduzt. Und Lena antwortete mehr oder weniger wehrlos: »Inzwischen wieder ganz gut.«

»Ich recherchiere wegen der Entführung«, sagte Amadeus, »Ich habe schon mit der Mutter des Jungen gesprochen.«

Lena zuckte mit den Schultern. »Dann wissen Sie ja auch, dass mein Vater was damit zu tun hatte.« Das wusste Amadeus zu dem Zeitpunkt noch nicht, deshalb war er überrascht.

»Ich möchte Sie nicht wegen Ihres Vaters ausfragen«, sagte er schnell, weil er befürchtete, Lena könnte ihn wieder wegschicken. »Doch Sie werden verstehen, dass ich versuche möglichst viel über diese Entführung zu erfahren.«

Lena nickte stumm. Was sollte sie diesem Mann erzählen? Würde er wieder versuchen, etwas über Kolberts Fähigkeit zu erfahren, seine Hautfarbe zu ändern?

»Erzählen Sie mir, wie sie den Überfall erlebt haben?«, hörte sie den Journalisten fragen. Lena nickte, denn sie sah keinen Grund es nicht zu tun. Aber viel hatte sie nicht zu berichten.

Sie war mit Kolbert unterwegs, hielt ihn an der Hand, als sie plötzlich einen furchtbar schmerzenden Schlag am Kopf spürte und dann sofort bewusstlos wurde. Als sie aufwachte, hatte sie starke Kopfschmerzen. Und brauchte eine Weile, um wieder klar zu denken. Dann sah sie sich nach Kolbert um.

Als sie merkte, dass er verschwunden war, wankte sie zur Straße und hielt eine Frau an, die gerade vorbeikam. Die sah die blutende Lena und klingelte sofort an einer Haustür. Lena hatte sich inzwischen auf den Boden des Gehwegs gesetzt und zu weinen begonnen.

Etwas später kam ein Krankenwagen und brachte sie in die Klinik. »Der Junge ist weg!«, heulte Lena. Und erzählte von Kolbert. Die Sanitäter schienen sie zuerst nicht zu verstehen. Dann beruhigte sie der eine: »Wir sagen den Eltern Bescheid, aber erst müssen Sie ins Krankenhaus.«

Als Lena mit dem Reden fertig war, sah Amadeus sie schweigend an. »Der Junge ist ja wieder da«, sagte er dann, »die ganze Sache ist für ihn offenbar gut ausgegangen.« Lena nickte.

»Aber für Sie wohl weniger«, sagte Amadeus. »Sie haben mit der Mutter gesprochen?«, fragte Lena, »Was hat Sie gesagt?« »Nicht viel, nur dass Ihr Sohn wohlbehalten zu Hause sei. Er war ja anfangs auch in dieser Klinik hier, wusste Sie das?« Lena schüttelte den Kopf.

Der Mann stand auf. »Dann will ich Sie nicht weiter belästigen«, meinte er und zog einen Geldschein aus der Tasche. »Das ist für Ihre Informationen«, sagte er und legte 50 Mark auf den Nachttisch neben die Blumenvase.

»Nein«, sagte Lena, »das ist nicht nötig.« Doch sie wusste, dass sie jede Mark gebrauchen konnte. »Sie können es sicher gebrauchen«, bestätigte sie nun auch Amadeus, »ich kann mir nicht denken, dass Sie dort weiterarbeiten werden.«

Er zögerte einen Moment, ehe er fortfuhr: »Da gibt es natürlich noch einiges mehr zu verdienen, wenn Sie mit mir über die Hautfarbe des Jungen reden wollen. Von den Ärzten und Schwestern hier kriege ich keine Informationen, die mir weiterhelfen. Aber Sie dürfen sich doch dazu äußern. Jetzt, da sie mit dem Jungen nichts mehr zu tun haben.«

Also doch! Der Kerl ließ nicht locker, er glaubte weiterhin daran, dass Kolbert etwas mit seiner Hautfarbe anstellen konnte. Lena überlegte kurz: Kolberts Mutter hatte sie arbeitslos gemacht. Weil sie ihr nicht mehr vertraute. Sie hatte tatsächlich mit Kolbert nichts mehr zu tun. Warum also sollte sie da noch Rücksicht nehmen? Warum erzählte sie nicht diesem Mann einfach, dass Kolbert seine Hautfarbe sehr wohl ändern konnte?

»Er ist ein normaler Junge mit normaler Haut«, gab Lena zur Antwort, »Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.« Das tat sie Kolbert zuliebe. Es ging um ihn, nicht um seine Eltern. Ihm würde es schaden, wenn dieser Journalist daraus eine große Story machte.

Amadeus zuckte mit den Schultern. »Okay«, sagte er gedehnt, »Dann gehe ich mal. Vielleicht sehen wir uns irgendwann wieder.« Er verließ das Zimmer, ohne die Tür zu schließen.

Schon in der Klinik hatte Kolbert wiederholt nach Lena gefragt, ja sogar nach ihr gerufen. Er wusste natürlich nicht, dass sie sich im selben Haus nur zwei Stockwerke tiefer aufhielt. Nachdem ein Unfallarzt ihn ausgiebig untersucht und festgestellt hatte, dass alles mit ihm in Ordnung war, konnte Kolbert wieder entlassen werden.

Natürlich war der Arzt der Aussage des Polizisten über Kolberts Haut nachgegangen. Er fand heraus, dass dieses Kind früher schon mehr als einmal in der Dermatologischen Abteilung gewesen war. Und dass tatsächlich die Farbe seiner Haut veränderlich war. Zuerst wurde einer der dortigen Hautärzte hinzugezogen. Er schaute sich Kolbert an und erkannte ihn wieder.

Doch es gelang ihm nicht, die Eltern dazu zu bewegen, ihren Sohn erneut in der Dermatologie untersuchen zu lassen. Beide Glasers bestanden darauf, ihr Kind möglichst bald wieder abzuholen. Und weil Kolbert während des Klinikaufenthaltes seine Hautfarbe ständig in einem recht unauffälligen Orangerosa hielt, gab es für den Unfallarzt keinen Grund, Kolbert noch länger dazubehalten.

Nun war mehr als eine Woche vergangen und Lena nicht mehr aufgetaucht. Und Kolbert begann zu begreifen, dass Lena für ihn verloren war. Seine Mutter hatte ihn recht schnell an einem anderen Kindergarten anmelden können, der eine Ganztagsbetreuung bot. So konnte sie Kolbert selbst morgens hinbringen und am späten Nachmittag wieder abholen.

Allerdings war es Johanna Glaser erst nach einigen Verhandlungen mit ihrem Chef geglückt, ihre Arbeitszeiten entsprechend anzupassen. Außerdem musste sie nun mehr Zeit einplanen: Auf dem Weg zu Kolberts neuem Kinderhort hatten sie die ganze Stadt zu durchqueren. Der frühere Kindergarten dagegen war leicht zu Fuß zu erreichen (und diese Gänge hatte Lena erledigt).

Es dauerte viele Wochen, bis Kolbert sich endlich damit abfand, dass er künftig gänzlich ohne Lena auskommen musste.

In dem neuen Hort, in dem er gelandet war, fand er schon bald einige Spielkameraden. Zweifellos hatte Kolbert keine Kontaktprobleme, mit vielen Kindern verstand er sich gut. Was nicht jedem gefiel.

Elmar war ein dicker kräftiger Junge und setzte seine körperliche Überlegenheit ein, um sich immer wieder Vorteile zu verschaffen. Natürlich nur, wenn die Betreuerinnen gerade nicht hinschauten. Widersetzte sich jemand, fand er fast immer eine spätere Möglichkeit, seine unter den Kindern im Hort schon berüchtigt gewordene »Panzerfaust« einzusetzen: Ein kurzer derber Schlag mit der zur Faust geschlossenen Hand zwischen die Schulterblätter.

Dass dieser Neue – Kolbert – ohne ihn zu beachten mit anderen Kindern so gut auskam, passte Elmar gar nicht. Und so machte auch Kolbert schon bald seine erste schmerzhafte Bekanntschaft mit der »Panzerfaust«.

Elmar setzte seine destruktiven Kräfte nicht nur ein, um seine Macht zu demonstrieren. Es schien ihm regelrecht Spaß zu machen, anderen wehzutun und sie zu erniedrigen. Elmar war bald sechs Jahre alt und viele (einschließlich der Betreuerinnen) sehnten den Tag herbei, an dem er zur Schule wechseln würde.

Zwar hatte Kolbert mittlerweile mehr als ein halbes Jahr Kindergartenerfahrung. So wusste er, dass dort Konflikte durchaus üblich waren. Und auch dass der Umgang mit manchen Kindern äußerst schwierig sein konnte. Doch am liebsten vermied er Auseinandersetzungen, und noch mehr einen Kampf.

Als Kolbert Bekanntschaft mit Elmars »Panzerfaust« machte, war das für ihn so schmerzhaft, dass er spontan seinen Ellenbogen als Abwehr benutzte und Elmar dabei mehrmals im Bauch traf. Damit hatten die Kinder nicht gerechnet – am wenigsten Elmar selbst. Der war völlig verblüfft und musste sich erst einmal setzen.

Bisher hatte dieser Junge niemals daran gedacht, dass sich einmal eines der Kinder ernsthaft wehren würde. Es war einfach nie passiert. Daher kannte er auch kein Verhaltensmuster, wie er in einem solchen Falle reagieren sollte. Elmar fühlte sich überfordert. Wobei die Gegenwehr von Kolbert ihm nicht einmal sonderlich wehtat. Aber Elmars Ruf als Hortdiktator war gefährdet.

»Was ist los?« Das war die Stimme von Denise. Sie stand vor Elmar und Kolbert und schaute vom einen zum anderen: »Gibt es Probleme?«

Während Kolbert langsam den Kopf schüttelte, entfuhr es Elmar: »Der hat mich gehauen!«. Aber gleich darauf merkte er, dass er mit dieser Klage selbst seinem Ruf geschadet hatte.

Denise lachte. »Der kleine Kolbert schlägt den großen Elmar?« »War nur ein Witz«, meinte der daraufhin. Bei nächster Gelegenheit würde der Neue mehr als nur eine »Panzerfaust« zu spüren bekommen.

Kolbert schwieg dazu. Und Denise lächelte ihn an und wandte sich dann wieder anderen Kindern zu. Dabei behielt sie Elmar im Auge.

Der wusste, dass die Kinder im Hort mit einem Angriff von ihm auf Kolbert rechneten. Das war er ihnen schuldig, schon um seine Machtposition wieder zu festigen. Aber auch weil es ihm Spaß machen würde, dieser halben Portion den Garaus zu machen. Und Elmar war nicht nur mehr als einen Kopf größer, sondern bestimmt doppelt so schwer wie Kolbert.

Die Gelegenheit für Rache bot sich schnell, denn nur kurze Zeit später war Denise in ein Streitgespräch mit zwei Kindern verwickelt, und Kolbert machte sich auf den Weg zur Toilette. Als er diese wieder verlassen wollte, versperrte ihm Elmar den Weg.

»An mir kommt keiner vorbei!«, sagte er zu Kolbert, der ihn hilflos ansah. »Du hast mich geschlagen«, fuhr Elmar fort, »Das bekommst du jetzt zehnfach zurück!«

Kolbert wusste, dass er in einem Kampf gegen diesen Koloss keine ernsthaften Chancen hatte. Ihn überkam eine lähmende Angst, und seine Chromatophoren starteten unmittelbar ihr Neutralprogramm. Langsam wich er zurück und presste sich an die weißgekachelte Toilettenwand.

Als Elmar sah, wie grau Kolberts Gesicht geworden war, hielt er inne. Schon wieder tat dieser Kerl etwas, für das es kein Verhaltensmuster gab. Ob er das Problem mit Prügeln lösen konnte?

Schnell erkannte Kolbert, dass Elmars Zögern auf seine nunmehr graue Haut zurückzuführen war. In seinem Gehirn raste es, dann kam von dort der Befehl für eine Flucht nach vorn.

Ohne weiter zu überlegen, trimmte Kolbert blitzschnell seine Türkiszellen auf volle Kraft und fuhr die anderen beiden Farbzellgruppen herunter. Dazu verzog er sein Gesicht zu einer Grimasse und hob seine Hände. Dabei hoffte er, dass Elmar nicht sah, wie viel Angst in ihm steckte.

Der wusste mit dieser Situation nichts anzufangen. Hatte er nicht etwas Ähnliches mal in einem Film gesehen? Es war gar nicht lange her, doch er erinnerte sich nicht mehr, ob die betreffende Person nun gut oder böse war. Wohl eher böse.

Vielleicht war dieser Kolbert gefährlich? Womöglich sogar eine Art Alien? Elmar spürte auf einmal, dass er Angst hatte. Und ohne weiter zu überlegen drehte er sich um und rannte mit einem kurzen Aufschrei aus dem Toilettenraum.

Die anderen Kinder unterbrachen erstaunt ihr Spiel, denn so ängstlich hatten sie Elmar noch nie erlebt.

»Er – ist…«, stotterte Elmar und rannte auf Denise zu, um bei ihr Schutz zu suchen. »Wer ist was?«, fragte die und sah ihn erstaunt an.

»Er, er...«, stotterte Elmar und zeigte auf die Tür zum Toilettenraum, »... ein Alien!«

Nun schauten alle zur Toilettentür, die sich langsam öffnete. Heraus trat Kolbert, sein Gesicht und seine Hände hatten eine inzwischen wieder orangerosa Farbe.

»Aber«, begann Elmar, »erst war er irgendwie grau, dann war er irgendwie blau!«

Die anderen Kinder lachten, zunächst nur einzelne, aber schließlich alle. Sie fühlten sich erleichtert. Und in ihr Lachen mischte sich Schadenfreude, dass endlich Elmar einmal der Gedemütigte war, und nicht eines von ihnen.

Der wusste nicht recht, wie er sich künftig Kolbert gegenüber verhalten sollte. Er hatte nicht übel Lust, ihn kräftig zu vermöbeln. Aber das mit der Hautfarbe irritierte ihn. Vielleicht sollte er diesen Kerl lieber meiden? Und Elmar beschloss, sich vorläufig von Kolbert fernzuhalten. Bis ihm etwas Besseres einfiel.

Ein weiteres Mal hatte Kolbert nun diese Erfahrung gemacht: Wenn er seine Hautfarbe änderte, konnte ihn das schützen. Es konnte einen Feind davon abhalten, dass er ihn fand. Und es konnte einen Feind davon abhalten, dass er ihn verletzte.

Als seine Haut in seinem Gefängnis grau wie die Wand wurde, hatte ihm das geholfen, von seinem Entführer nicht entdeckt zu werden. Und die Hautverfärbung im Toilettenraum hatte ihn vor Elmars weiteren Attacken gerettet.

Doch hatte seine besondere Eigenschaft nicht auch Angst erzeugt? Waren andere nicht zumindest verunsichert, als er nackt und grau vor ihnen stand? War nicht Elmar beim Anblick seiner türkisblauen Haut sichtlich verstört? Für Kolbert war die Verfärbung jedes Mal positiv, andere dagegen werteten sie durchweg als negativ – bis auf Lena.

Dass die ihm gerade jetzt wieder einfiel, machte Kolbert traurig. Er vermisste sie sehr. Nicht nur, weil Lena die einzige war, die seine Hauteigenschaften wirklich zu schätzen wusste. Sondern auch, weil sie ihm mehr Mutter geworden war als seine eigene Mutter.


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