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7. Wiederbegegnung

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Mittlerweile war Kolbert sechs Jahre alt geworden und besuchte die erste Klasse der Grundschule. Seine Mutter arbeitete währenddessen weiterhin als Sekretärin und war nachmittags zu Hause, wenn ihr Sohn von der Schule kam. Ein Kindermädchen hatten die Eltern seit Lena nicht mehr eingestellt.

Im Laufe der Jahre hatte Kolbert gelernt vieles allein zu erledigen. So fuhr er von Anfang an jeden Tag ohne Begleitung mit dem Bus zur Schule. Machte seine Hausaufgaben allein. Und traf sich dann mit Klassenkameraden zum Spielen.

Niemand wusste etwas von Kolberts Fähigkeit seine Haut zu verfärben. Glaubte er. Bis er eines Tages Elmar auf dem Schulhof sah. Geändert hatte sich bei dem offenbar nichts, ebenso wie schon im Kindergarten gab es auch hier genügend Opfer, die Elmar vor sich hertreiben oder denen er seine berüchtigte »Panzerfaust« verpassen konnte.

Als die beiden Jungen sich zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder über den Weg liefen, trafen sich nur kurz ihre Blicke. Dann ging jeder weiter. Wie es aussah, vermied Elmar auch hier den direkten Kontakt zu Kolbert, der ihm nie ganz geheuer gewesen war.

Nun gab es in der Schule jemanden, der über Kolberts Hauteigenschaften Bescheid wusste. Doch es sah nicht so aus, als würde Elmar dieses Geheiminis lüften. Weil Kolbert in der ersten und Elmar in der dritten Klasse war, hatten sie in der Schule nicht viel miteinander zu tun. Wenn sie sich auf dem Schulhof oder in den Gängen begegneten, gingen sie einfach aneinander vorbei, als würden sie sich nicht kennen.

Schon nach der ersten Begegnung war Kolbert aber nachdenklich geworden. Im Grunde genommen tat ihm Elmar leid. Keiner mochte ihn. Das hatte dieser Kerl sich zwar vorwiegend selbst zuzuschreiben, doch es schien für ihn auch keine Chance für eine Wende zu geben. Denn würde Elmar plötzlich sanftmütig und artig, wer würde ihm das abnehmen?

Für Kolbert war dieser Junge in seiner Tyrannenrolle gefangen. Ebenso wie die Kinder in seiner direkten Umgebung an ihren Part gekettet waren. Sie hatten Elmars Spiel mitzuspielen, waren seine Opfer und seine Feinde. Und ähnlich wie im Kindergarten warteten viele darauf, dass Elmar irgendwann für all die Demütigungen bestraft würde. Doch wer sollte die Rolle des Rächers übernehmen?

Kolbert erinnerte sich an die letzten Monate, die Elmar noch mit ihm zusammen im Kinderhort war. Bis zu seinem Wechsel zur Schule hatte er Kolbert gemieden, weil er keine Lösung fand (und vielleicht auch nie suchte), mit ihm umzugehen.

Während er also die übrigen Kinder weiterhin tyrannisierte, blieb Kolbert davon ausgenommen. So suchten manche Kinder Zuflucht in Kolberts Nähe, wenn sie sich von Elmar bedrängt fühlten. Doch Kolbert gefiel seine Rolle nicht, denn wirklich beschützen konnte er niemanden. Er selbst wollte ja eine Konfrontation mit Elmar vermeiden.

Doch irgendwann endlich hatte Elmar den Kinderhort verlassen. Kolbert blieb dort noch zwei Jahre, bis er selbst alt genug für den Wechsel zur Schule war. Die Zeit ohne Elmar verlief meistens ziemlich ruhig. Doch manchmal eben auch langweiliger.

Und nun traf Kolbert diesen Jungen wieder in derselben Rolle. Auch diesmal tyrannisierte er andere Kinder, Kolbert dagegen blieb von seinen Attacken auch jetzt verschont.

Was Kolbert dazu brachte, Elmar auf dem Schulhof zu beobachten, wusste er nicht. Vielleicht war es Mitleid? Ja, zuerst tat dieser Junge ihm leid, doch dann begann Kolbert, allmählich Verständnis und sogar Bewunderung für Elmar zu entwickeln.

War es die Konsequenz, mit der Elmar seine Ziele (und Opfer) verfolgte? War es die Übermächtigkeit, die Überlegenheit an Körperkraft, an der es Kolbert im Vergleich zu Elmar mangelte? Wollte er so wie dieser Junge sein? Wenigstens manchmal?

Kolbert war verwirrt. Irgendetwas in ihm sträubte sich dagegen, Elmars Verhalten positiv zu sehen. Irgendetwas in ihm stemmte sich auch gegen jegliches Mitleid oder Mitgefühl. Aber es gab auch etwas in Kolbert, das nach so etwas wie dem Guten in diesem Menschen suchte – allerdings bisher ohne Erfolg.

Eines Tages traf er Elmar an der Bushaltestelle. Kolbert hatte seinen Bus verpasst, der ihn von der Schule nach Hause bringen sollte. Er musste auf den nächsten warten. Das gleiche schien Elmar mit seinem Bus passiert zu sein. Oder hatte er auf ihn gewartet? Um es ihm endlich mal zu »besorgen«?

Eine Weile standen sie nun zu zweit an der Haltestelle, in einiger Entfernung, die Blicke auf die Straße gerichtet. Plötzlich drehte sich Elmar zu ihm und schaute ihn an.

Augenblicklich erstarb in Kolbert jedes mögliche Mitgefühl und wich einer langsam wachsenden Angst. Nicht nur, dass dieser Kerl die bisherige sichere Distanz durchbrochen hatte, nun wagte er es sogar, sich Kolbert direkt zuzuwenden.

Dies würde der Auftakt für kommende Schikanen sein. Nun würde auch er zu einem Jagdopfer. Und was hinderte Elmar daran, nun all das nachzuholen, was er aus seiner Sicht bei Kolbert versäumt hatte?

Er war so überzeugt davon, dass Elmar ihm nun einiges heimzahlen wollte, dass er nicht sofort verstand, was dieser zu ihm sagte. »Kannst du das immer noch, das mit der Hautfarbe?«, wiederholte Elmar.

Kolbert schluckte und spürte, wie seine Anspannung etwas von ihm wich. Er war überrascht und ein wenig erleichtert. Fürs erste.

»Ja«, sagte er heiser. »Und«, fragte Elmar nun weiter, »kannst du das in allen Farben?«

Kolbert war verblüfft, dass Elmar sich völlig friedlich verhielt. Wie mechanisch nickte er mehrmals. Und er spürte, wie Elmar einen kleinen Schritt näher rückte, sodass er nun direkt neben Kolbert stand, und hörte ihn raunen: »Zeig mal!«

Kolbert begriff schnell, dass Elmars Annäherungsversuch nicht feindlich gesinnt war. Und er witterte eine Chance, plötzlich ein wenig Macht über einen Kerl zu bekommen, der ihm körperlich deutlich überlegen und nie ganz geheuer war.

»Nicht hier«, antwortete Kolbert wohl überlegt, als der nächste Bus kam. Beide stiegen ein, und Elmar setzte sich wie selbstverständlich neben Kolbert. Dann fragte er ungeduldig: »Wo dann?«

Kolbert wollte eine abgelegene Stelle vorschlagen. Da fiel ihm ein, dass er Elmar dort womöglich völlig ausgeliefert war. Vor allem wenn man ihn nicht sehen und auch nicht hören konnte. Deshalb bot er Elmar an: »Steig mit mir da aus, wo ich wohne. Da gibt es eine Mauer, hinter der uns niemand sieht.« Elmar war einverstanden.

Eigentlich machte sich Kolbert keine Sorgen, dass Elmar ihm doch noch etwas antun könnte. Aber diese Mauer gab ihm ein gewisses Gefühl der Sicherheit. Sie bestand aus groben hellgrauen Kalksandsteinelementen. Für Kolbert der ideale Hintergrund für seine Hautfarbspiele.

Die Mauer war etwa anderthalb Meter hoch und vielleicht dreißig Meter lang, gar nicht weit von seinem Zuhause entfernt. Sollte er doch um Hilfe rufen müssen, würde man das bei Eltern oder Nachbarn hören. Trotzdem konnte man jemanden, der direkt an der Mauer stand, nicht sofort sehen.

Kaum waren die beiden Jungen aus dem Bus gestiegen, mussten sie nur noch gut hundert Meter über eine Wiese und zwischen einigen Büschen hindurch gehen, da sahen sie schon die Mauer. Sie begann an einem Feldweg und brach dann mitten in einem Wildwuchs aus Brennnesseln und anderem Unkraut ab. An dieser Stelle waren viele Steine bereits herausgebrochen und lagen zum Teil mitten in dem ganzen Gewirr von Pflanzen.

Kolbert sah, dass Elmar ungeduldig wurde. »Warte noch einen Moment«, sagte er, während er seinen Schulrucksack ablegte. Dann zog er in aller Seelenruhe seinen Pullover und sein Unterhemd aus. Dabei genoss er es, dass dieser mächtige Kerl gegenwärtig machtlos und ganz offensichtlich von ihm abhängig war.

»Was tust du?«, fragte Elmar und Kolbert erwiderte: »Dann siehst du mehr!«

Zuerst fuhr er alle Chromatophoren auf die gleiche Stärke, dabei versuchte er, ein helles Grau entstehen zu lassen, das der Farbe der Mauer hinter ihm möglichst nahekam. Elmar machte den Mund auf, sagte aber nichts.

Als nächstes verstärkte Kolbert die Wirkung seiner gelben und purpurnen Pigmentzellen und verringerte die seiner Türkiszellen. Das Ergebnis war ein kräftiges Feuerrot, das sich im Gesicht unter Kolberts dunkelgrauen Haaren sowie auf seinem ganzen Oberkörper breit machte.

Elmar spitzte die Lippen und blies den Atem pfeifend aus. Dann trat er mit offenem Mund direkt an Kolbert heran und blieb vor ihm stehen. »Darf ich mal anfassen?«, fragte er schließlich. Und als Kolbert nickte, berührte er vorsichtig dessen Arme und fuhr dort mit beiden Händen die Haut auf und ab.

»Fühlt sich an wie normal«, stellte Elmar dann fest, »ist aber wirklich richtiges Rot!«

»Oder Blau«, sagte Kolbert, steigerte diesmal die Farbintensität der türkisblauen Zellen und reduzierte die der gelben (während die Purpurzellen unverändert eingestellt blieben). Nur kurze Zeit später erstrahlte seine Haut in einem klaren Azurblau.

Elmars Mund blieb eine Weile offen, dann rief er aus: »Toll! Weiter, weiter!« Kolbert nickte. Diesmal erzeugten seine Pigmentzellen ein sattes Grasgrün.

»Weiter! Zugabe!«, schnaubte Elmar. »Nein«, entgegnete Kolbert jetzt, »ein anderes Mal.« »Wieso?«, bedrängte ihn Elmar, »mach weiter!« »Ich muss eigentlich längst nach Hause.«

Kolbert verlieh seiner Haut wieder ein Normalgrau, das dann langsam in das hautübliche Orangerosa überging.

»Ich hab Zeit«, meinte Elmar achselzuckend, während Kolbert Unterhemd und Pullover wieder überzog. »Kommst du nicht zu spät?«, fragte er Elmar, doch der schüttelte den Kopf: »Nein, bei uns ist jetzt sowieso niemand da.«

Erst wollte Kolbert nachfragen, doch die Zeit drängte. Denn er hatte ja schon einen Bus verpasst. Und jetzt noch die Farbspiele mit Elmar. »Ich kriege Ärger, wenn ich zu viel zu spät komme«, meinte Kolbert, verabschiedete sich und ging.

Als er sich noch einmal umschaute, sah er Elmar unschlüssig an der Mauer entlanggehen. Und wieder tat ihm dieser Kerl leid. Es war das erste Mal, dass Kolbert Elmar nicht als aggressiv oder tyrannisch erlebt hatte. Vielleicht hätten sie damals Freunde werden können, wenn Elmar ihm früher so begegnet wäre wie heute?

Doch Kolberts Gedanken verflogen schnell, als seine Mutter ihm die Tür öffnete und erst einmal eine Standpauke hielt, bei der er (wie immer) selbst kaum zu Wort kam.

»Einen Bus verpasst man nur, wenn man trödelt. Pünktlichkeit ist schließlich eine wichtige Tugend. Und außerdem habe ich mir Sorgen gemacht, es hätte ja auch etwas Schlimmes passiert sein können.« Doch seine Mutter beruhigte sich auch recht schnell wieder und schloss mit dem Satz: »Und jetzt wird gegessen!«

Kolbert aß langsam und nachdenklich. Er hatte die Macht gespürt, die er plötzlich über Elmar bekam, als dieser ihn fasziniert anstarrte. Es war lange her, seit er seine Hautfarbe so gezielt verändert hatte.

Im Kindergarten wie in der Öffentlichkeit hatte Kolbert immer darauf geachtet, weitgehend die dort übliche Hautfarbe beizubehalten. Die beiden Notwehrsituationen mit Bruno und Elmar waren Ausnahmen. Auch in der Schule dachte Kolbert nicht daran, nur zum Spaß seine Hautfarbe vor den Augen anderer zu verändern.

Und nun hatte ihn Elmar auf die Idee gebracht, sich wieder mehr für seine außergewöhnliche Fähigkeit zu interessieren. Vor vielen Jahren war das noch Lena.

Noch immer überkam Kolbert Wehmut, wenn er an Lena dachte. Das letzte Mal ging sie schweigend lächelnd neben ihm her, ehe er plötzlich mitten auf dem Gehweg einschlief. Als er dann aufwachte, war es dunkel, und von da an blieb Lena verschwunden.

Nach dem Verlust von Lena ließ Kolbert (möglicherweise unbewusst) sein Hautprogramm auf die Farbe eingestellt, mit der auch die Haut der meisten anderen Kinder um ihn herum getönt war. Das Thema Farbveränderung war für ihn Vergangenheit.

Und wäre Kolbert damals (im Kinderhort) nicht Elmar begegnet, hätte es wohl weiterhin keine andere Hautfarbe als Orangerosa gegeben. Und wäre er jetzt (in der Schule) Elmar nicht wiederbegegnet, hätte er wohl kaum jenes kleine Farbspiel aufgeführt.

Erstmals seit langer Zeit hatte er also wieder seine Hautfarbe bewusst verändert und dabei ein weiteres Mal erkannt, dass damit eine Macht verbunden war, die er auf andere ausüben konnte. Diese Erfahrung löste in ihm jetzt den Anreiz aus, seine Fähigkeiten zu erweitern und zu verfeinern. Und vielleicht hatte er auch schon einen neuen Trainer, auch wenn der so ganz anders war als Lena.


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