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2. Entfaltungen

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Schnell hatte sich das anfängliche Entsetzen der Eltern über Kolberts durchsichtige Haut gelegt. Nachdem ihnen einer der Fachärzte eröffnet hatte, dass ihr Sohn keineswegs an einem Mangel an Hautfarbstoff litt. Dies hatte eine ausführliche Untersuchung in der Klinik ergeben.

Pigmente gab es in Kolberts Haut genügend, sie waren sogar im Übermaß vorhanden. Allerdings machten die untersuchenden Hautärzte diese Entdeckung nicht sogleich. Denn bei der Geburt von Kolbert waren sämtliche Farbzellen auf transparent gesetzt. Daher war es kein Wunder, dass man zunächst vermutete, es gäbe in seiner Haut fast oder gar keine Pigmente.

Erst nach einigen Wochen begann Kolberts Haut allmählich Farbe anzunehmen. Doch wurde daraus nicht ein bei vielen Babys übliches Zartrosa, sondern ein Grau, das sich von Tag zu Tag mehr verdichtete, bis es von einem glasigen Schmutzgrau zu einem geschlossenen Hellgrau geworden war.

Diese Hautfarbe führte die Fachärzte zunächst zu der irrigen Diagnose, man habe es mit einer unbekannten Krankheit zu tun. Eine genauere Untersuchungsreihe jedoch hatte zum Ergebnis, dass Kolberts Haut ebenso gesund war wie die eines normalen Neugeborenen.

Zu ihrem Erstaunen entdeckten die Ärzte in Kolberts Haut jedoch statt der sonst beim Menschen üblichen Farbzellen sogenannte Chromatophoren, wie man sie bisher nur von verschiedenen Tieren oder Pflanzen her kannte.

Die Pigmentzellen der menschlichen Haut lieferten gewöhnlich gelbbraune bis schwarze Farbstoffe und sorgten so für eine hellere oder dunklere Tönung. Zusammen mit dem unter der Haut liegenden Muskelgewebe ergab sich so ein Farbton zwischen Zartrosa und Braun.

In Kolberts Haut gab es drei verschiedene Arten von Pigmentzellen, für jede der drei Grundfarben eine. Und daraus ließen sich wie bei einem Farbdrucker sämtliche Nuancen von Transparent bis Schwarz erzeugen.

Außergewöhnlich war, dass hier neben den für den gelblichen Farbstoff zuständigen Zellen zwei weitere äußerst seltene Zellarten auftauchten. Sie sorgten dafür, dass der Haut auch die Farben Türkisblau und Purpurrot zur Verfügung standen.

Im Augenblick schien Kolbert nur in der Lage zu sein, sämtliche Farbzellen gleichzeitig zu steuern. Was auch die einheitliche Graufärbung seines ganzen Körpers erklärte. Die Hautärzte, die ihn untersuchten, kamen jedoch zu dem Schluss, dass Kolbert mit der Zeit und entsprechender Übung alle Pigmentzellen so kontrollieren könnte, dass zumindest theoretisch ein beliebiger Farbwechsel der Haut möglich war.

Und tatsächlich änderte sich seine Hautfarbe nach einigen Wochen vom hellen Grau zuerst zu einem hellen reinen Gelb, um dann allmählich wieder zum Grau zurückzukehren und dabei zu bleiben. Etwa einen Monat später wiederholte sich der Wandlungsprozess mit einer anderen Grundfarbe. Nun nahm seine Haut eine hellblaue Tönung an, die leicht grünlich schimmerte. Dann verfärbte sie sich wieder ins alte Grau. In einem dritten Durchgang wurde seine Hautfarbe zu einem zarten Lila, um schließlich wieder ins Graue zurückzuwandern.

Einige Male entstanden auf Kolberts Haut noch andere Verfärbungen, wobei die komplette Haut jedoch immer durchgängig dieselbe Farbe annahm. Wie die Hautärzte vermuteten, war Kolbert bemüht, zu einer Tönung zu gelangen, die der Hautfarbe der Menschen, die er um sich hatte, möglichst nahekam.

Alles in allem – befanden die untersuchenden Ärzte schließlich – ein durchaus gesundes, wenn auch besonderes Kind. »Ausgestattet mit Eigenheiten, die eben nicht jeder Mensch hat«, wie es einer der Dermatologen formulierte.

»Darauf können Sie stolz sein!«, meinte der Arzt, der schon bei Kolberts Geburt zugegen war, zur Mutter, als die zusammen mit ihrem Mann zum Nachuntersuchungstermin erschien. Die aber blieb ebenso wie Kolberts Vater skeptisch.

»Die Diagnosen sind noch nicht abgeschlossen«, fuhr der Arzt fort. Und forderte die Eltern auf, Kolbert im Abstand von jeweils 14 Tagen immer wieder für mindestens einen Tag in die Klinik zu bringen.

Zuerst stimmten beide Eltern zu. Aber nach nicht einmal einem Vierteljahr empfand die Mutter diesen Zustand als so unerträglich, dass sie sich weigerte, weitere Untersuchungen an Kolbert zu erlauben. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Kind den Ärzten nur als interessantes Objekt für ihre Forschungen diente. Und dazu in verschiedenen Abteilungen herumgereicht wurde.

Niemand konnte sie umstimmen, und auch der Vater ergriff Partei für seine Frau. So mussten beide ein Papier unterschreiben, in dem sie die volle Verantwortung für alle möglichen Folgen übernahmen. Von nun an blieb Kolbert der Klinik für längere Zeit fern.

Die üblichen Nachuntersuchungen ließen die Eltern von einem Kinderarzt vornehmen, der in der Nähe ihres Hauses praktizierte. Er wusste von Kolberts besonderen Hauteigenschaften, beschränkte sich jedoch darauf, nur die sonst üblichen Untersuchungen durchzuführen.

Kolberts Hautfarbe hatte sich mit der Zeit zu einem bei Kindern üblichen Rosa verändert. Die Farbe der Augen war bei einem hellen und die seiner allmählich gewachsenen Haare bei einem dunklen Grau angelangt. Inzwischen war er ein Jahr alt, konnte schon eine ganze Reihe von Wörtern lallen, und stand kurz davor, das Laufen zu erlernen.

Gleich nach seiner Geburt hatte Kolbert vier verschiedene Häute gespürt: Zuerst die der Hebamme, die ihn aus dem Körper der Mutter zog. Dann die des Arztes, der ihn untersuchte. Und erst anschließend die Haut der Mutter, als sie ihn anlegte. Dies war für Kolbert die bisher angenehmste Begegnung mit einer anderen Haut. Dass ihn später auch die Haut des Vaters ertastete, nahm er daher nur am Rande wahr.

Die Entstehung seiner eigenen Haut hatte Kolbert als Embryo miterlebt, wie sie sich innerhalb von Tagen ebenso wie Nervensystem, Gehirn und Rückenmark aus seiner äußeren Zellschicht, dem Ektoderm, bildete. So konnte er schon im Mutterleib spüren, wenn sein Körper an die Uteruswand stieß. Das war die erste Hautfläche, mit der seine eigene Haut in Berührung kam.

Zugleich war dieser Kontakt für Kolbert eine Möglichkeit, etwas über die Beschaffenheit seiner eigenen noch hauchdünnen Haut zu erfahren, die zuerst durchlässig für das Fruchtwasser war, in dem er schwamm. Mit der Zeit vernahm er, wie diese Flüssigkeit immer weniger unter seine Haut dringen konnte, weil sich eine neue Schutzschicht gebildet hatte, die sogenannte »Käseschmiere«.

Aber Kolbert spürte nicht nur, wenn seine eigene Haut die ihn umgebende Behausung berührte, auch die Empfindungen der Haut seiner Mutter wurden zu ihm übertragen, als sei die Haut der Mutter auch die eigene.

Als er ihren Leib verließ, war diese Haut für Kolbert eine umhüllende und schützende Decke geworden, die er mit der Mutter gemeinsam zu haben glaubte. Deshalb suchte er zunächst verzweifelt nach ebendieser Haut, die sich weder bei der Hebamme noch bei dem Arzt aufspüren ließ. Erst als die Mutter ihn mit ihren Armen aufnahm und an sich zog, hatte Kolbert seine zweite Haut wiedergefunden.

Die Geburt war für ihn sein erstes großes Abenteuer. Ohne sich wehren zu können und zu wollen wurde er aus dem Uterus hinausgetrieben, in dem es sich trotz der wachsenden Enge so wohlig leben ließ. Doch Kolbert ahnte, dass dies nicht von Dauer sein konnte, und hatte seinen Körper bereits in Startposition gebracht.

Und als ihn die Wehen der Mutter langsam aus ihrem Leib schoben, setzte er sich selbst in Bewegung und unterstützte den Geburtsvorgang durch Drehungen und Krümmungen seines Körpers, ohne zu wissen wohin die Reise gehen sollte. Auf diesem Wege spürte er den Druck der für ihn engen aber glatten Vaginalwand auf seiner Haut, trotzdem glitt er fast reibungslos hindurch.

Was ihn am Ausgang des Geburtskanals dann erwartete und sich nach seinem vollständigen Verlassen noch steigerte, verängstigte ihn derart, dass sich sein Entsetzen in schrillen Schreien entlud.

Gehört hatte Kolbert schon eine Menge Geräusche, als er noch im Uterus seiner Mutter lebte. Aber dieser Hall und seine eigenen Schreie, die er zuerst gar nicht als zu ihm gehörig erkannte, dazu das grelle Licht, die Bewegungen von trockener Luft, eine andere Art vom Wärme: All das war für ihn ganz anders als an seinem früheren Wohnort, den er soeben – freiwillig und gezwungenermaßen zugleich – aufgegeben hatte.

Gleichzeitig war ihm, als würde sich sein Körper ausdehnen, seine Arme und Beine begannen sich zu strecken und einen Halt zu suchen. Er spürte die Schwerkraft seines Körpers, und er nahm seine Haut als schützende Trennwand zwischen seinem Inneren und seiner neuen Umgebung wahr.

Obwohl er noch immer schrie, war Kolbert bereits entschlossen, sein Leben in dieser fremden Welt fortzusetzen. Und daher dauerte es nicht lange, da war er schon mitten in seinen Bemühungen, sich an die neuen Lebensbedingungen anzupassen – besonders was seine Haut betraf.

Beim Umgang mit seinen Sinnesorganen wies Kolbert dem Sehen und Hören nur eine untergeordnete Rolle zu. So entwickelten sich diese Sinne langsamer als bei Kindern üblich. Stattdessen konzentrierte er sich vorwiegend auf die Verfeinerung seines Tastsinns. Für ihn war es offenbar wichtig, seine Umwelt weitgehend »abzutasten«. Und weniger bedeutend, wie sie aussah oder sich anhörte.

Sicherlich fiel ihm dies deshalb leichter, weil es beim Säugling und Kleinkind gerade die Haut war, über die der aller erste Kontakt mit der Außenwelt stattfand. Und so suchte Kolbert häufig nicht nur die Nähe seiner Mutter, sondern auch möglichst viel Hautkontakt zu ihr, was schließlich der Mutter ganz offensichtlich zu viel wurde.

Kolbert hatte ohnehin schon in den ersten Monaten einsehen müssen, dass die eigene Haut und die der Mutter nicht eine Einheit, sondern zwei voneinander unabhängige Häute waren. Von denen die andere eben ausschließlich der Mutter gehörte. Und er nur insoweit daran teilhaben konnte, wie die Mutter es zuließ. Dazu jedoch war sie im Laufe der Zeit immer weniger bereit.

Kolbert erinnerte sich daran, dass ihm sowohl die Mutter als auch der Vater schon bei seiner Geburt das für ihn unverständliche Gefühl gaben, als sei mit ihm etwas nicht in Ordnung.

Während seine transparente Haut für Kolbert durchaus normal war, empfand seine Mutter sie zunächst als abstoßend. Und er bekam zu spüren, wie sie ständig zwischen Zuneigung und Abneigung schwankte. Die Mutter fühlte sich nicht selten im einen Augenblick von der Zartheit und Wärme seines Körpers und seiner Haut angezogen, war jedoch im nächsten Moment von der Sichtbarkeit seines Fleisches mitsamt Adern und Sehnen oder gar Knochen angewidert.

So begann die Mutter schon nach wenigen Monaten sehr zu Kolberts Missfallen mit dem Abstillen. Was für ihn nicht nur den Verlust der wohlschmeckend warmen und labenden Muttermilch bedeutete, sondern auch den des so überaus wohltuenden engen und langen Hautkontaktes. Es schien ihm sogar, als würde die Mutter von nun an die Berührung seiner Haut häufig bewusst meiden, der näheren Begegnung ihres Körpers mit dem seinen aus dem Wege gehen.

Sobald die Transparenz seiner Haut nachzulassen begann, stieg die Häufigkeit der Körperkontakte mit der Mutter wieder an. Allerdings sehr zögerlich, denn das sichtbare Grau seiner Haut wich doch zu sehr von dem ab, was die Mutter für eine normale Hautfarbe hielt.

Mit der Zeit begann Kolbert offenbar zu verstehen, was die Mutter an allzu intensiver Berührung hinderte. Als er schließlich im Versuch, diese Normalfarbe endlich zu erreichen, mehrfach zu den Grundfarben wechselte, um dann immer wieder bei jenem doch so unerwünschten Grau zu landen, sank der Hautkontakt mit der Mutter auf einen neuen Tiefstand.

Endlich gelang es Kolbert, die Chromatophoren in seiner Haut so zu steuern, dass diese in einem zarten Orangerosa erschien. Wie von ihm erwartet, nahmen nun die Berührungen durch die Mutter wieder zu, allerdings nicht in dem Maße wie von ihm erwünscht.

Schließlich war Kolbert ein Jahr alt geworden und zeigte für andere Menschen, die ihn sahen, keine großen Auffälligkeiten. Seine Haare waren recht kurz und ihre dunkelgraue Farbe fiel nur auf, wenn man ganz genau hinsah.

Damit, dass seine Mutter weiterhin zu intensive Hautberührungen mit ihm vermied, hatte sich Kolbert inzwischen abgefunden, auch wenn er es sehr bedauerte. Dass sein Vater ihn umso öfter herzte und liebkoste, seit seine der Hautfarbe anderer Kinder ähnelte, war für Kolbert beileibe kein Ersatz für den Kontakt mit der Mutter. Zumal die Haut seiner Mutter zart und weich, die seines Vaters eher rau und an manchen Stellen sogar stachlig war.

Und so nahm er auf seinen täglichen Erkundungsreisen auf allen Vieren oder auch mal auf zwei Beinen reichlich die Gelegenheit wahr, die »Haut« anderer Gegenstände zu erspüren. Niemals jedoch fand er darin nur annähernd dieselbe Befriedigung wie bei einer Berührung der mütterlichen Haut, die früher einmal seine eigene, zweite Haut gewesen war.


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