Читать книгу Der Chamäleonmann - Hans-Georg Schumann - Страница 5

3. Lena

Оглавление

Mittlerweile beherrschte Kolbert weitgehend das Spiel mit den Farbzellen in seiner Haut. Aktivierte er nur eine Sorte seiner Chromatophoren, nahm seine Haut ein helles bis dunkles Purpurrot, Schwefelgelb oder Türkisblau an. Und kombinierte er jeweils zwei Arten von Farbzellen mit gleicher Stärke, so ergaben sich daraus feuerrote, froschgrüne oder stahlblaue Hautverfärbungen.

Mit allen Pigmentzellen zusammen variierte er seine Hautfarbe vom hellen fast glasigen Grau bis zum rußigen Anthrazit. (Jedoch gelang ihm weder eine reine Transparenz wie bei seiner Geburt noch eine vollständige Schwärzung seiner Haut.)

Natürlich konnte Kolbert inzwischen den Wirkungsgrad jedes Farbzelltyps getrennt regeln. Sonst wäre er nicht imstande gewesen, eine Hautfarbe anzunehmen, die unter den Menschen um ihn herum verbreitet war. Für ein zartes Orangerosa musste er nur sanft die Purpurzellen aktivieren. Aus dem entstandenen Hauch von Pink ließ sich dann über die Intensität der Gelbzellen der erforderliche Orangeton mischen.

Für Kolbert gestaltete sich jede Veränderung seiner Hautfarbe allerdings noch recht mühsam. Zumal er derzeit nicht in der Lage war, einzelne Farbzellen eines Typs zu beeinflussen, sondern immer nur alle zusammen. So war er eigentlich froh, die Farbintensität seiner Chromatophoren nicht allzu oft steuern zu müssen. Hatte er erst einmal einen Farbton erreicht, brauchte er sich um seine Erhaltung nicht zu kümmern. Anstrengung kostete ihn nur die Veränderung.

Johanna Glaser war Kolberts Fähigkeit, seine Hautfarbe zu verändern, nie ganz geheuer. Sie liebte ihren Sohn und fühlte sich angezogen, denn sie bewunderte seine Eigenschaft. Und sie fürchtete ihn und fühlte sich abgestoßen, denn seine Eigenschaft machte ihn fremd.

Ihr Mann Moritz sah das Ganze gelassener: »Seine Standardfarbe ist nun mal grau, so wie andere Kinder auch mal fast weiß oder dunkelbraun sein können. Und draußen gibt er sich doch Mühe, dass seine Haut so gefärbt ist wie die Haut der meisten anderen Kindern auch.«

»Aber«, meinte seine Frau, »wenn das nur immer so bliebe!«. Denn Kolbert neigte nicht selten zu (absichtlichen oder versehentlichen) Hautverfärbungen. In seinem Bemühen sich anzupassen orientierte er sich an dem, was er an Haut zu sehen bekam. So nahm seine eigene Haut auch mal eine dunklere oder hellere Tönung an. Oder sie ging mehr ins Rötliche oder ins Gelbliche. Das fiel aber entweder nicht auf oder niemand wunderte sich darüber.

Da Kolberts Haut im Farbbereich zwischen Rosa und Orange keine besondere Aufmerksamkeit mehr auf sich zog, war er zunehmend bestrebt, seine Hautfarbe möglichst wenig zu ändern. Er hatte begriffen, dass es in seinem noch jungen Alter besser war, sich an seine Umgebung anzupassen und den Wunschvorstellungen der Eltern zu entsprechen.

Farbliche »Ausrutscher« unterliefen Kolbert meistens unter Stress, bei Gefühlsausbrüchen oder Angstzuständen. War er im Ungleichgewicht und hatte sich seine Hautfarbe vom »Normalton« entfernt, kostete es ihn einige Anstrengung, die alten Zustände wiederherzustellen. Und wenn er sich in solchen Situationen elend oder schwach fühlte, gelang ihm das eben nicht immer.

So ergab sich manche peinliche Situation, die vor allem Kolberts Mutter zu schaffen machte. Und auch seinem Vater gingen allmählich die Schlagfertigkeiten aus, wenn Kolbert einmal eine völlig abweichende Hautfarbe bekam.

Es ließ sich nicht vermeiden, dass eines Tages auch ein Journalist von Kolberts Eigenschaften erfuhr. Nachdem seine penetranten Versuche mehr herauszufinden bei Kolberts Eltern auf Granit gestoßen waren, hatte er offenbar fürs erste aufgegeben. Was jedoch nicht hieß, dass er von seinem Vorhaben Abstand nehmen würde, mehr über Kolberts Hauteigenschaften zu erfahren.

Mit der Zeit verließen beide Eltern immer seltener am Tag mit Kolbert das Haus. Lediglich abends nach Einbruch der Dämmerung gingen die Eltern mit Kolbert spazieren. Und das immer nur zu zweit.

Johanna hatte zuerst ihren Mutterschaftsurlaub verlängert, nun sehnte sie das Ende herbei. Um sich endlich wieder verstärkt ihrem Beruf als Sekretärin widmen zu können. Immerhin hatte ihr Chef die Stelle ein Jahr lang für sie freigehalten.

Ihr Mann Moritz war Softwareentwickler bei SAP. Er hatte sich vor Kolberts Geburt einige Wochen Urlaub genommen. War täglich in die Klinik gefahren und blieb auch später noch mehrere Tage zu Hause, um sich zusammen mit seiner Frau dem gemeinsamen Baby zu widmen.

Als dieser Urlaub vorbei war, verschwand sein Vater auf einmal, und Kolbert bekam ihn oft nur abends kurz zu sehen. Dann wirkte er müde und abgespannt und war nach einer kurzen Begrüßung bald ins Bett gefallen und dort eingeschlafen.

»Er muss halt viele Überstunden machen«, hörte Kolbert seine Mutter seufzen, ohne diese Worte zu verstehen. Aber den Wortlaut kannte er genau: »Über-Stunden«.

Manchmal tauchte der Vater tagelang nicht auf. Kolberts Mutter sprach dann von »Geschäfts-Reise«. Auch dieses Wort verstand Kolbert erst später, aber er kannte jetzt schon den Zusammenhang zwischen diesem Begriff und dem langen Fernbleiben seines Vaters.

Bevor Johanna Glaser ihren früheren Beruf wieder aufnahm, kam mehrere Tage vorher eine junge Frau vorbei. Die lächelte Kolbert immer nur zu und wedelte mit einer Hand vor seinem Gesicht herum. Kolbert war das unangenehm, aber er fügte sich und nahm es auch hin, als die Frau eines Tages mit ihm allein blieb, während seine Mutter verschwand.

Immerhin sorgte diese Frau dafür, dass er zu essen und zu trinken bekam. Und sie verpasste ihm auch ab und zu eine frische Windel. Ansonsten saß sie meistens im Wohnzimmer des elterlichen Hauses, schaute in diesen Kasten mit den bunten beweglichen Bildern oder sprach in ein Gerät, das Kolberts Mutter schon mehrfach »Tele-Fon« genannt hatte.

Er selbst unternahm derweil einige Wanderungen durch die anderen Räume, wenn eine Tür offenstand. Meist geschah dies mehr krabbelnd als laufend. Doch mit der Zeit fiel es Kolbert immer leichter, sich hochzuziehen und an den Wänden oder Möbeln entlangzugehen.

Kam es dabei einmal zu einem Sturz (und das war beileibe nicht selten), so rannte die Frau sogleich herbei, kaum hatte Kolbert begonnen zu schreien. Sie sprach dann so schnell vor sich hin, dass er in diesem Schwall keinen Wortfetzen wiedererkennen konnte.

Dann packte sie Kolbert, zog ihn hinter sich her ins Wohnzimmer und setzte ihn in den Laufstall, wo er noch mehr schrie. Aber das schien die Frau nicht zu stören. Sie ging in die Küche, schloss die Tür zum Wohnzimmer und ließ Kolbert allein.

Das ging gerade mal eine Woche so weiter, dann war die Frau plötzlich verschwunden. Und seine Mutter blieb wieder öfter und länger zu Hause. Schließlich nahm sie Kolbert mit in das Büro, in dem sie arbeitete. Dort durfte er manchmal so lange herumkrabbeln, bis seine Mutter ihm das Wort »Nein!« zurief. Dann musste er kehrt machen und weiter an eine andere Stelle krabbeln. Meist jedoch verbrachte er seine Zeit im Laufstall, mit dem er sich inzwischen abgefunden hatte.

Keine Woche später tauchte eine neue Person auf. Diesmal ein Mädchen, deutlich jünger als die nun wohl für immer verschwundene Frau. Deren Namen hatte Kolbert wohl gehört, aber wieder verworfen. Nun jedoch vernahm und merkte er sich den Namen seiner neuen Aufpasserin: Lena. Schon nach kurzer Zeit nämlich hatte ihn ein Gefühl der Sympathie für dieses Mädchen ergriffen, während er für ihre namenlose Vorgängerin nur Apathie empfand.

Lena hatte ein ovales Gesicht wie Kolberts Mutter. Doch ihr Kopf war etwas kleiner. Lena hatte langes braunes Haar wie Kolberts Mutter. Hatte blaue Augen, die Augen von Kolberts Mutter waren graugrün.

Als er zum ersten Mal Lenas Haut fühlte, empfand Kolbert sie als weicher, aber die Haut seiner Mutter war ihm vertrauter. Sie war weniger weich als die von Lena, aber sie war zarter, Lenas Haut war etwas rauer. Doch diese Haut gefiel ihm, während die Haut der anderen Frau, deren Namen er vergessen hatte, sich kälter und spröder anfühlte.

Auch das neue Kindermädchen kümmerte sich um Kolberts leibliches Wohl, gab ihm zu essen und zu trinken, wechselte seine Windeln. Doch sie beschränkte sich nicht darauf, sondern widmete ihm auch sonst ihre Aufmerksamkeit.

So folgte sie Kolbert auf seinen Erkundungsgängen in einigem Abstand. Wechselte er vom Aufrechtgehen an der Wand zum Krabbeln, ging das Mädchen in die Knie und verharrte auf allen Vieren in seiner Nähe. Es sah aus, als ob eine Tiermutter auf ihr Junges aufpasste.

Kolbert achtete darauf, dass er sie nicht aus den Augen verlor, wenn er sich weiter entfernte. Ab und zu kroch er dann doch um eine Ecke, um zu kontrollieren, was sie nun unternehmen würde. Und schon nach kurzer Zeit bemerkte er, dass Lena ihm kriechend nachkam. So durchkrabbelte er die ganze elterliche Wohnung, während das Mädchen ihm ihn einiger Entfernung folgte. Immer wenn er innehielt, verharrte auch sie eine Weile.

Dann beschleunigte Kolbert sein Krabbeln. Schließlich wurde er so schnell, dass er glaubte, seine Beine würden durcheinandergeraten und unter ihm wegrutschen. Lena folgte ihm, holte ihn ein und hielt ihn vorsichtig fest. Kolbert gefiel das und er ließ ein glucksendes Lachen hören.

Aber bald ließ Lena ihn wieder los, und die Verfolgungsjagd begann aufs Neue. Diesmal aber blieb Lena in einiger Entfernung vor ihm stehen, als sie ihn fast eingeholt hatte. Sie kam nicht näher und hielt ihn nicht fest. Einen Moment schauten sich beide an. Kolbert wusste offenbar mit dieser für ihn jetzt neuen Situation nichts anzufangen. Er zögerte.

Plötzlich machte Lena einen Satz nach vorn und Kolbert erstarrte vor Schreck. Dann wendete er und krabbelte so schnell er konnte, um seiner Verfolgerin zu entkommen. Sobald Lena ihn erreicht hatte und festhielt, reagierte Kolbert mit seinem glucksenden Lachen.

Das Ganze wiederholte sich zahlreiche Male, bis Lena sagte »Schluss jetzt!« Und Kolbert verstand recht bald, dass diese kurzen Worte das vorläufige Ende ihrer Jagd bedeuteten. Aber er wusste auch, dass es ein nächstes Mal geben würde. Und darauf freute er sich.

Das Jagen war nicht das einzige Spiel, das Kolbert gern mit Lena spielte. Ein anderes war der »Turmbau zu Babel« wie Lena es nannte – für Kolbert hieß es nur kurz »Turm-Babel«:

Zuerst wurde die Kiste mit den Bauklötzen ausgeschüttet. Dann durfte Kolbert einen Stein vorlegen. Und Lena legte einen anderen Stein darauf. Nun kam wieder Kolbert an die Reihe. Wie Lena ihm anfangs gezeigt hatte, legte er seinen Klotz nun auf den ihren.

So ging es weiter, bis schließlich der mittlerweile gewachsene Turm einstürzte. Und nun kam für Kolbert das Beste: Er durfte gegen alle Steine des Turms schlagen, aus denen er noch bestand, sodass sie sich wild im Zimmer verteilten. Anschließend krabbelten beide herum, um die Klötze wieder einzusammeln.

Und dann ging der Turmbau von vorne los. Doch auch dieses Spiel beendete Lena irgendwann mit einem knappen »Schluss jetzt!« Und Kolbert half ihr beim Einräumen der Steine in die Kiste.

Stürze und kleinere Verletzungen blieben beim täglichen Spielen, Krabbeln und Laufen nicht aus. Aber Lena war ja da, setzte sich direkt neben Kolbert oder hielt ihn stumm in den Armen. Und obwohl sie ihn dabei niemals tröstete, hatte er das Gefühl, von ihr in seinem akuten Schmerz angenommen zu werden. Sie war einfach da und nah – und das genügte Kolbert. Mit dem Schmerz kam er allein zurecht.

Irgendwann nach vielen Stunden Bewegung war Kolbert müde, bekam seine Nachtwindel und seine letzte Flasche, bei der er oft einschlief. Lena legte ihn dann behutsam in sein Bettchen und warf noch einen letzten Blick auf das schlummernde Baby.

Wenn man ihr so zusah, wie sie sich während der Abwesenheit von Kolberts Eltern um ihn kümmerte, könnte man meinen, sie selbst sei seine Mutter – sosehr widmete sie sich diesem Kind. Nun aber, nachdem Kolbert im Bett lag und schlief, trennte sich Lena von dieser Rolle, holte sich aus der Küche etwas zu trinken und zu essen, und machte es sich im Wohnzimmer bequem.

Ungefähr eine Stunde später kamen Kolberts Eltern zurück. Selten zusammen, meist erschien Moritz Glaser zuerst. Während der ohnehin den ganzen Tag unterwegs war, begann Johanna erst am frühen Nachmittag mit ihrer Arbeit. So kamen beide erst gegen Abend zurück.

Nachdem einer von Kolberts Eltern wieder da war, konnte Lena selbst ihren Weg nach Hause antreten. Dort fand sie ihren Vater in der Regel betrunken vor, auf dem Sofa eingeschlafen, manchmal auch auf dem Teppichboden. Dort lag er dann auf dem Rücken oder mit dem Gesicht nach unten, nur selten auf der Seite.

Lena war bemüht ihn nicht zu wecken. Sie hatte keine Angst davor, denn ihr Vater war – ob nüchtern oder betrunken – fast immer sanft wie ein Lamm. Doch aus Erfahrung wusste sie, dass er am liebsten dort liegen blieb und weiterschlief, wo er gerade eingeschlummert war. War das am Boden, so legte Lena ihm bloß ein Kissen unter den Kopf.

Manchmal brummte er dabei etwas vor sich hin, worauf Lena nicht reagierte. Sie ging ohne ein Wort in ihr Zimmer, um sich auszukleiden und selbst schlafen zu gehen.

Ihr Vater Lukas Wagner war bereits mehr als ein Jahr arbeitslos. Zuvor hatte er einen Job bei einem Technologieunternehmen. Lena wusste selbst nicht, was genau diese Firma machte, nur dass es eben etwas mit »Technologien« zu tun hatte. Und dem Betrieb eigentlich eine große wachstumsreiche Zukunft bevorstand, an der ihr Vater mit Sicherheit teilhaben würde. So jedenfalls hatte er es seiner Frau und seiner Tochter nicht nur einmal erzählt.

Dann aber kam alles plötzlich ganz anders. Der Firmeninhaber war von einem Tag auf den anderen verschwunden. Und hatte zeitig dafür gesorgt, dass der Inhalt der Betriebskasse auf sein Konto geflossen war.

Die Angestellten der Firma mussten allesamt entlassen werden, denn der Laden steckte tief in den Schulden (auch weil sich ihr ehemaliger Chef so fürstlich bedient hatte). Einige fanden eine neue Stelle, nicht so Lukas Wagner. Nach Zahlung eines Übergangsbetrages bekam er Arbeitslosengeld.

Seitdem saß er zu Hause, konnte lange Zeit das Ganze nicht fassen. Zumal er sich doch so gut mit seinem Chef verstanden hatte und sogar per Du mit ihm war. Irgendwann war seine Frau – Lenas Mutter – verschwunden, hatte einen Zettel hinterlassen, auf dem eine Menge Text geschrieben stand. Sie wolle woanders neu anfangen und mit ihm sei das nun mal nicht mehr möglich. Sie hinterließ keine Adresse, aber sie verließ auch Lena.

Lukas Wagner nahm es hin, ihre eheliche Beziehung war auch zuvor schon auf einem Tiefpunkt. Zuerst war Lenas Vater in seinem Job für die neue Firma so aufgegangen, dass sein Familienleben weit in den Hintergrund rückte, ja eigentlich für ihn nicht mehr stattfand.

Und als Arbeitsloser beschloss Lukas, eine Opferrolle zu übernehmen: Einen neuen Job würde er sowieso niemals mehr kriegen, einen wie diesen schon gar nicht. Sein alltägliches Wehklagen verdross nicht nur Lenas Mutter, sondern auch sie selbst.

Dann verließ ihn seine Frau, seine damals 14-jährige Tochter blieb. Lena tat ihr Vater leid. Obgleich sie kein Verständnis für sein Gejammer hatte, wollte sie ihn doch nicht so allein lassen. Als seine Tochter sei sie ihm das schuldig, meinte Lena.

Außerdem wäre ihr Vater ohne sie hilflos. Früher war ihr das nie aufgefallen, aber seit ihre Mutter sich von ihm getrennt hatte, erlebte sie täglich, wie er nicht einmal mit den einfachsten Dingen im Haushalt zurechtkam.

In diesem zehnten Schuljahr wollte Lena unbedingt ihren Realschulabschluss schaffen. Sie konzentrierte sich darauf bis zum Schuljahresende so sehr, dass sie den Weggang ihrer Mutter zuerst nur am Rande wahrnahm. Daher schien ihr das Fehlen der Mutter zur Verwunderung des Vaters auch nichts auszumachen. Zunächst.

Die Schmerzen brachen erst durch – und dann mit Wucht –, als sie eines Tages mit ihrem Abschlusszeugnis hach Hause kam. Das hatte sie in der Schule zum Erstaunen ihrer Mitschüler gleichgültig in Empfang genommen. Immerhin hatte sie ausgezeichnete Zensuren und sogar eine Zugangsberechtigung zur elften Gymnasialklasse.

In ihrem Zimmer legte sie den Schutzumschlag mit dem Zeugnis auf ihren Schreibtisch, warf sich aufs Bett und begann hemmungslos und laut zu schluchzen. Ihren Vater, der hereinkam, weil er ihr Weinen gehört hatte, bemerkte sie nicht. Leise stahl Lukas sich wieder hinaus und schloss die Tür zu ihrem Zimmer.

Monate später hatte Lena sich mit ihrer Lage abgefunden, ohne Mutter und mit einem Vater, der immer häufiger betrunken war. Anfangs versuchte sie ihm zuzureden. Aber dann wurde ihr klar, dass ihr Vater weder fähig noch willens war, seine Lage zu ändern. Also versuchte er seine Empfindungen darüber mit Alkohol zuzuschütten.

Weil er dabei niemals aggressiv, wütend oder gewalttätig wurde, ließ Lena ihn gewähren. Allerdings war sie es, die einige klare Regeln für ihr weiteres Zusammenleben aufgestellt hatte. Er musste lernen, Teile des Haushalts zu übernehmen. Und ihr Vater hielt sich an diese Regeln, so gut er konnte. Während Lena gern das Essen zubereitete, kümmerte sich Lukas ums Aufräumen, Putzen und Wäschewaschen.

Lena hatte es zur Bedingung gemacht, dass ihr Vater lernte, wie man mit Waschmaschine und Spülmaschine umging. Wie man Böden und Fenster putzte, wie man den Teppich saugte. »Sonst ziehe ich ebenso aus wie Mama!«, hatte sie gedroht, »Notfalls gehe ich in ein Heim!«

Natürlich hatte Lena das niemals vor, aber die Drohung beeindruckte ihren Vater, sodass der sich schnell bereit erklärte, die von ihr gewünschten Aufgaben zu erlernen und zu übernehmen.

Eine ganze Reihe von Dingen, deren Erledigung Lena ihrem Vater nicht zutrauen wollte, nahm sie selbst in die Hand. Dazu gehörte zuallererst das Kochen und Backen – zumal Lena dies leidenschaftlich gern tat. Außerdem bügelte sie die Wäsche lieber selbst und verstaute sie dann ordentlich in den Schränken. Beim Reinigen von Bad, Toiletten und Waschbecken hatte sie ein größeres Sauberkeitsgefühl, wenn sie diese Aufgaben selbst übernahm.

Es blieb immer noch genug Arbeit übrig, die ihr Vater erledigen konnte, während sie sich um eine Lehrstelle bemühte. Lena hatte vor, in einem sozialen Beruf zu arbeiten. Weiter zur Schule zu gehen und das Abitur zu erreichen, reizte sie nicht.

Viele Monate vergingen, und mit ihnen nahm die Resignation bei Lukas Wagner zu. Und Lena hatte den Eindruck, dass ihr Vater gar nicht wieder berufstätig werden wollte. Schon zweimal hatte er eine Stelle nicht bekommen, die ihm vom Arbeitsamt angeboten wurde. Weil er alkoholisiert zum Vorstellungsgespräch erschienen war.

Erst eine angedrohte und dann auch durchgeführte Kürzung seines Arbeitslosengeldes brachte ihn dazu, eine Stelle als Lagerarbeiter anzunehmen. Aber schon einen Monat später wurde er entlassen. Er war betrunken zwischen den Kisten eingeschlafen, die er verladen sollte.

Weil auch Lena keinen Erfolg mit ihren zahllosen Bewerbungen hatte, blieb es bei der Rollenverteilung im Haushalt. Beide lebten vom Arbeitslosengeld des Vaters und vom Kindergeld, das Lena ab und zu durch einige Gelegenheitsjobs aufbesserte. Die aber alle nur jeweils ein paar Wochen oder Monate dauerten.

Durchbrochen wurde die Eintönigkeit durch das Zeitungsinserat von Kolberts Eltern. Sie suchten längerfristig ein Kindermädchen für nachmittags, erst einmal stundenweise – allerdings fünf Tage die Woche. Lena kam das gerade recht. Denn so war sie öfter außer Haus und hatte nicht das ständige Lamentieren ihres Vaters zu ertragen. Außerdem verlieh ihr das selbstverdiente Geld ein größeres Gefühl von Selbständigkeit. Und sie konnte Material zum Lesen und Lernen mitnehmen.

Bei Lenas erstem Versuch war die Stelle schon vergeben. Aber gut zwei Wochen später meldete sich Kolberts Mutter telefonisch mit der Frage: »Sind Sie noch an dem Job als Kindermädchen interessiert?«

Natürlich hatte Lena Interesse. Und so war sie jetzt seit über einer Woche Kolberts Aufpasserin und Spielgefährtin. Wie es schien, sollte das ihr erster richtiger und längerer Job werden.

Und weil sie spürte, dass es ihr Spaß machte, und weil diese Stelle auch nicht schlecht bezahlt wurde, hatte Lena spätestens zu diesem Zeitpunkt keinen Grund mehr, den Pessimismus ihres Vaters zu teilen. Und zum ersten Mal ertappte sie sich bei dem Gedanken, ihren Vater verlassen zu können.


Der Chamäleonmann

Подняться наверх