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Metronom

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Ein Metronom ist ein aus Holz gefertigtes Instrument mit einem Federwerk. Dies dient dem ständigen Hin und Her eines Pendelstabes. An dem Pendelstab befindet sich ein kleines Gewicht, welches durch Hoch- oder Runterschieben die Geschwindigkeit des ausgebenden Tickens verändert. Es wird in der Musik als Taktgeber angewandt.

Bei uns wurde es eingesetzt, um die Einschlaf- und Schlafgewohnheiten unter diesen Bedingungen zu testen und wie wir im Alltag mit diesem erzeugten Stress des ständigen Tickens zurechtkommen.

Während der Ruhezeiten wurde in den Schlafräumen ein solches Metronom aufgestellt. Das unaufhörliche, monotone Geräusch dieses Teils nervte gewaltig. Dazu wurde auch noch die Geschwindigkeit täglich geändert und bei Bedarf wieder nachgespannt – das war Folter. Einschlafen ging ganz schlecht. Nachts ist man davon auch wach geworden und somit am Tage unkonzentriert und ständig müde gewesen. Also, es ging gar nicht.

Eines Nachts, als ich es nicht mehr aushielt, habe ich das Metronom einfach ausgeschaltet.

Noch nicht ganz zurück in meinem Bett, kam Tonne, meine Chirurgin, aber in erster Linie unsere Nachtwache, angerannt. Schon ihre sich nähernden Schritte lösten in mir Panik aus. Ich fühlte mich ertappt.

Sie zerrte mich aus dem Schlafraum und hatte schon ihr Schlüsselbund schlagbereit in der Faust. Ein Sicherheitsschlüssel schaute, wie immer, heraus und sie begann sofort, ihn mir in meinen Körper zu rammen.

Zustechend, kneifend und kreischend beförderte sie mich vor das Zimmer der Nachtwache. Dort musste ich dann ohne Hausschuhe bis zum Wecken ausharren. Das waren immerhin noch gute zwei Stunden.

Überall, wo sie mich mit ihrem Sicherheitsschlüssel getroffen hatte, waren an meinem Körper dunkelblaue Flecken und kleinere Einblutungen. Diese spitzen Schlüssel gingen immer durch die Haut bis ins Fleisch.

Pünktlich zum Dienstwechsel kam ausgerechnet Herr Bergmann.

Nach einem Gespräch zwischen der Nachtwache und Herrn Bergmann musste ich mich waschen, anziehen und noch vor dem Frühstück bei Herrn Bergmann, unserem Erziehungsleiter, im Büro erscheinen.

Der packte mich unsanft am Oberarm und riss mich hin und her. Dabei schrie er mich an. Sein Text war: „Eigentum ist zu achten.“

Viel hätte nicht gefehlt und mir wäre der Arm aus der Schulter gerissen worden. Noch Wochen danach hatte ich eine Schwellung an der Schulter und konnte den Arm nicht uneingeschränkt heben.

Eigentlich fand ich nichts Schlimmes dabei, dieses nervenaufreibende Metronom abzuschalten.

Herr Hahn tat das laufend in seiner, ihm nicht zustehenden Mittagsruhe. Immer, wenn er die Aufsicht über uns hatte, wurde einer ausgewählt, der neben seinem Bett stehen musste, sodass sich Herr Hahn in dessen Bett langlegen konnte, um zu schlafen. Manchmal pennte er durch bis 18 Uhr.

Störungen seiner Ruhe hatten einen Tanz mit dem Kasper zur Folge – und Kasper konnte richtig wehtun. Auf Jochens kleinem Körper hatte er sogar einmal, nur wegen einer solchen Störung, den Kasper beim Zuschlagen kaputt gemacht. Er schlug einfach ziellos auf den Kleinen ein, bis das Material zerbrach. Außer mir vor Wut schmiss ich mit allem, was ich greifen konnte, auf Herrn Hahn. Erst als Herr Hahn einen Nachtschrank in seinem Rücken spürte, hörte er auf, auf Jochen einzudreschen.

Nur ich nicht, wütend, alles aus mir rauslassend, schlug ich auf den großen Kerl ein. Erst mit der Schublade, die während des Fluges auf seinen Rücken fiel, dann mit meinen Fäusten. Alles ließ ich aus mir raus, alle Wut, die sich in mir aufgestaut hatte, der Hass, der in mir kochte, erst kontrolliert und dann … ich weiß es nicht mehr.

Zwei Erzieher konnten mich nur mit sehr viel Mühe stoppen.

Alles fing an, weil Jochen in der Mittagsruhe zur Toilette musste. Toilettengänge mussten erfragt werden und wurden immer untersagt. Bettnässen wurde auch bestraft. Das war ein Dilemma, was jeder für sich allein lösen musste. Der Schmerz, über Stunden hinweg nicht auf die Toilette zu dürfen, ist Wahnsinn. Wenn der Erzieher dann noch wartet, wie man sich entscheidet, ist das menschenverachtend und pervers.

Jedenfalls sahen wir beide gut aus und wir landeten wieder einmal gemeinsam auf der „Krankenstation“.

Es gab ein warmes Bad in der Wanne und frische Bettwäsche sowie gutes Essen, dank meiner lieb gewonnenen Küchenfrauen. Am nächsten Tag kam ein Arzt aus Werneuchen. Es war der Hausarzt unseres Schulleiters.

Der Hausarzt stellte Prellungen und Hämatome fest. Aber um ganz sicher zu gehen, sollten wir auch noch zum Röntgen in die Poliklinik gebracht werden.

Die Entscheidung, ob wir zum Röntgen gingen oder nicht, nahm Herr Bergmann dem Arzt ab – wir blieben.

Ab sofort änderte sich einiges. Herr Hahn besorgte sich einen neuen Kasper und er brachte auch zwei Paar Boxhandschuhe mit.

Der Kasper diente jetzt nur noch als Wegweiser, das hieß, nur ein gezielter Schlag, manchmal auch zwei, wenn er abrutschte, wie er sagte.

Ja, die Boxhandschuhe, die sollten unser angeschlagenes Selbstbewusstsein stärken.

„Sport tut jedem gut, Sport heißt auch sportlich fair, Zusammenhalt und, und, und“, sagte er mit geschwollener Brust.

Dann kam ein Vortrag, vor allem über seine boxerische Leistung. Seine Sätze begannen immer mit „Ich war, ich bin und ich werde sein“.

Diesen Ausspruch der Rosa Luxemburg muss er wohl bei seiner Gehirnwäsche, in Schulungen der Parteiführung, falsch verstanden haben.

Er war der Medaillen-Abräumer der DDR, er war immer fair, er war und ist ein guter Sportler. So stellte er sich gerne dar. Na ja, dachte ich, wer es glaubt?

Jedenfalls haben wir uns später darüber fast totgelacht. So ein Hirni! „Was glaubt der, wer er ist?“, mussten wir uns ernsthaft fragen.

Er sprach von Fairness – wir fragten uns, ob es fair ist, kleine Jungs zu verdreschen.

Es dauerte nicht lange, bis er uns Boxunterricht gab. Zwei Gruppen wurden gebildet.

„Ein Turnier, ein Wettbewerb“, waren die Worte, die er von sich gab, und dabei tänzelte er, als wenn er auf den Gong wartete.

Wir schauten uns an und grinsten. Herr Hahn sprang herum wie ein Idiot und schmiss sich in die Brust, wie der Hahn in die Scheiße. In seinen kurzen Turnhosen und seinen dünnen Beinchen sah er schon mehr als komisch aus.

Dann ging es auch schon los. Alles sah ganz gut aus, einige Wochen hatten wir trainiert, ohne besondere Vorkommnisse.

Hin und wieder haben wir einmal einen richtigen Brustpuffer beim Sparring von ihm bekommen, aber es war immer noch Sport.

Aber eines Tages war wieder Sparring angesagt, und er hatte sich Hans Hellwig in den imaginären Ring geholt.

Hans musste seine Brille abnehmen und wurde noch einmal belehrt.

„Fair bleiben, nicht tief schlagen und vor allem nicht meine Nase treffen“, sagte Herr Hahn.

Hans war für sein Alter ziemlich kräftig. Er war auch zwei Jahre älter als ich, und seine Brillengläser waren fast so dick wie Kompottschalen. Ohne Brille war er so gut wie blind.

Als Herr Hahn Hans auserwählte, ahnte ich schon Böses, denn eine Woche zuvor hatte er beim Geländereinigen Herrn Hahn aus Versehen einen dicken Ast an den Kopf geschmissen.

Ziel war es, dass Hans einen dicken Ast sehr weit wegschmeißen wollte, um zu zeigen, was er so auf dem Kasten hatte. Nur brach das gute Stück gleich hinter seiner Hand und segelte, für alle Zuschauer ersichtlich, eine ungeahnte Flugbahn. Dass auch noch der Hahn seine Bückstellung verließ, nachdem er erfolgreich sein Schuhband nachgezogen hatte und sich genau in dem Moment aufrichtete, konnte nun keiner ahnen.

Es sollte aber kein Nachspiel haben, so die Worte von Herrn Hahn, da es ja nicht beabsichtigt war.

Jedenfalls hatte dieser Ast ihn doch ganz schön am Kopf erwischt. Er schwankte wie besoffen und wusste nicht, wie ihm geschah. Dann lag er im Dreck und wir hatten uns sehr leise über diesen Bums gefreut.

Hans war unser Held, auch wenn er sagte: „Es war wirklich aus Versehen.“

Keiner hatte es ihm geglaubt, denn er bekam an dem Wochenende davor Besuchsverbot, weil er es auch nach mehrmaligem Bettenbau nicht schaffte, Herr Hahn zufriedenzustellen.

Seine Mutter kam mit seinem zweijährigen Bruder aus Rostock angereist und musste unverrichteter Dinge wieder abreisen.

Das Sparring wurde von Herrn Hahn selbst geleitet. Im Klartext, er war der Ringrichter und der Akteur.

Er sagte „Ging Gong“, und es ging los. Leichtes Abtasten von Hans, dann eine knackige Antwort von Herrn Hahn. „Ging Gong“ ertönt es wieder. Erste Runde unentschieden, so der Ringrichter. Kurze Verschnaufpause, Ging Gong, die zweite Runde begann. Der Anfang war wie in der ersten Runde. Hans musste viel wegstecken. Die drei Minuten waren längst um, aber unser Sportsfreund hat fairerweise weiter geboxt und auf Hans eingedroschen. Alle warteten auf „Ging Gong“, aber nichts kam.

Auf einmal schlug die Rechte von Hans auf die Nase von Herrn Hahn ein. Sofort lief Blut aus seiner Riechwurzel. Er fing an zu diskutieren und immer wieder sagte er „meine Nase“.

Ich dachte gleich an Pittiplatsch. Der sagte auch immer: „Ach, du meine Nase.“

Auch jetzt kam kein „Ging Gong“, gerade jetzt hätte Herr Hahn es gebraucht.

Als er sah, dass seine Nase blutete, schlug er Hans windelweich. Er war so was von in Rage. Einer lief zum Heimleiter, Herrn Dehm, um Hilfe zu holen.

Bis Herr Dehm eintraf, war auch das Sparring zu Ende. Hans war zum Glück nicht allzu viel passiert.

Seit diesem Tag hatte sich das Boxen so gut wie erledigt, und wenn doch Boxtraining war, stieg nicht er in den Ring, sondern einer aus der großen Gruppe, ein sogenannter Günstling des Herrn Hahn.

Er bezeichnete diese Schläger gern als Marionetten oder als seinen linken Arm.

Misshandelt, verraten und verkauft

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