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Fahrradunfall

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Die Fahrräder bekamen wir im Jahr darauf, kurz vor den großen Sommerferien.

Es waren nicht mehr die Besten, aber immerhin Fahrräder. In unserer noch verbliebenen Freizeit hatten wir alle Fahrräder aufgebaut. Ersatzteile hatten wir von Anwohnern bekommen, entweder für lau oder auch für kleinere Arbeiten. Da gab es schon einmal eine Lampe, einen Rahmen oder auch einzelne Räder und Bremsen. Schließlich hatten wir am Ende aus fünfzehn Schrotträdern – anders konnte man diese wirklich nicht bezeichnen – zehn fahrtüchtige Fahrräder zusammengebaut. Somit kam auf jeden Jungen unserer Gruppe ein Fahrrad. Nach jeder Instandsetzung eines Rades kam die Probefahrt. Obwohl wir alle an allen Fahrrädern zur gleichen Zeit arbeiteten, waren sie doch zu unterschiedlichen Zeiten fertig. Jeder bekam die Verantwortung für ein Fahrrad, welches dann auch seines war. Insgesamt gesehen gehörten diese Fahrräder dem Heim.

Die Probefahrten sollten immer auf dem Fußballplatz stattfinden, der sich etwas außerhalb des oberen Teils von Kipsdorf befand. Nicht so aber bei mir. „Auf dem Fußballplatz geht gar nichts. Der ist doch nur Ackerland, da bekommt man doch kein Tempo aufs Rad“, so meine Gedanken.

Also entschloss ich mich, auf die 757 Meter hohe Tellkoppe zu gehen. Ohne mich abzumelden, machte ich mich eines Morgens auf den Weg. Dazu musste ich in den unteren Teil von Kipsdorf fahren. Die Abfahrt ins Tal war schon sehr rasant, aber noch nicht das, was ich mir vorstellte. Der anschließende Aufstieg auf die Tellkoppe mit dem Fahrrad war recht mühsam. Endlich oben angekommen, schwang ich mich sofort aufs Rad und fuhr einfach drauf los.

Es kam, wie es kommen musste. Irgendwann erreichte ich bei dem enormen Tempo und dem unebenen Untergrund meinen Weg nicht mehr.

Plötzlich war mein Fahrrad nicht mehr zu lenken. Dann ging mir auch der holprige, nicht gewollte Weg aus. Selbst Gestrüpp und unwegsames Gelände stoppten die rasante Fahrt nicht. Abspringen ging nicht, das Tempo war zu diesem Zeitpunkt doch schon sehr beträchtlich.

Mir tränten die Augen vom Fahrtwind und beeinträchtigten mir so die Sicht.

Die Bäume rechts und links erschienen mir nun wie eine Mauer. Das war dann auch mein letzter Eindruck von diesem Berg.

Als ich wieder zu mir kam, sah ich als Erstes das Fahrrad. Es war völlig demoliert. Die Lampe an der Gabel hatte sich wohl durch die holprige Tour gelockert. Beim Gegen-die-Speichen-Schlagen muss dann die Lampe hinter die Gabel gekommen sein und das Vorderrad abrupt abgebremst und mich so zum Abstieg über den Lenker bewegt haben, so meine erste Erklärung. Nichts an dem Fahrrad war noch zu gebrauchen, also Schrott, so wie wir es vor Wochen bekommen hatten.

In dieser Betrachtungsweise spürte ich Schmerzen im Oberschenkel. Als ich nachsah, woher die Schmerzen rührten, konnte ich es nicht fassen. Das ganze Bein war rot von Blut. Überall hatte ich Schürfwunden und richtig fließendes Blut vom linken Oberschenkel aus. Eine tiefe Wunde war der Grund dafür. Dort muss sich wohl der Lenker hineingebohrt und ein Stück Fleisch regelrecht ausgestanzt haben. So etwas wie Griffe hatten wir damals nicht, denn hätte ich welche am Lenker drangehabt, hätte ich den Unfall wohl unbeschadet überstanden. Angst überkam mich, höllische Angst. Im Hinterkopf hatte ich mir schon die Strafen ausgemalt, um die kein Weg vorbeiführen würde.

Das Fahrrad ignorierend, lief ich sofort zur Straße. Rennen war in gebückter Haltung nicht möglich, denn ich presste meine Hand auf die stark blutende Wunde.

Zum Glück war es nicht mehr sehr weit und außerdem kannte ich die Umgebung von vorherigen Spaziergängen sehr gut. Nach etwa zehn Minuten erreichte ich die viel befahrene Landstraße. Was ich noch mitbekam, war ein bremsender Lkw. Dann war das Licht bei mir aus.

Erst in Dippoldiswalde im Kreiskrankenhaus, nach der Behandlung, war ich wieder ansprechbar.

Der Heimleiter und die Polizei waren anwesend. Sie befragten mich. Es ging dabei nicht um mein Befinden oder gar um den Tathergang.

Nein, es gab viel Wichtigeres. Auf meinem Nachttisch lagen zwei Schokoladen und eine Tüte Bonbons, die ich mir auf Nachfrage nicht erklären konnte. Jedenfalls waren diese Naschereien Gegenstand der Befragung.

Ohne Umschweife wurden mir diese Sachen weggenommen, weil diese vom Klassenfeind seien, wie sich der Polizist äußerte. Dabei sagte der Polizist doch allen Ernstes, dass diese Leckereien vergiftet sein könnten, und ging mit meinen Süßigkeiten.

Im Nachhinein erfuhr ich von einer Krankenschwester, dass es ein westdeutscher Fernfahrer war, der mich von der Straße geholt und sofort ins Krankenhaus gefahren hatte.

Einige Tage später wurde ich aus dem Krankenhaus entlassen und bekam sofort, auf unbeschränkte Zeit, Stubenarrest.

Das bedeutete, alles war tabu. Ich durfte nur im Zimmer herumsitzen oder kleine Strafarbeiten erledigen. Niemand durfte mit mir reden oder gar spielen.

Nach der Schule war ich erst allein und später dann mit mehreren Freunden an diese Landstraße gegangen. Erst wollte ich mich bei dem Fernfahrer bedanken, der mich ins Krankenhaus gefahren hatte, aber dann wurde es fast zu einer Sucht. Immer wenn ein Laster mit unbekanntem Nummernschild vorbeifuhr, begann ich zu winken.

Nach mehrmaligem Erscheinen an der Transitstrecke und Zuwinken flogen immer öfter Packungen mit Kaugummis aus den Fahrzeugen.

Wie zu erwarten, flog die ganze Sache auf, was auch wieder drastische Maßnahmen mit sich brachte.

Das Schlimmste an der Geschichte war, dass Frau Hoffmann an jenem Tag des Fahrradunfalls Dienst hatte. Diesen Ausflug hatte sie mir nie verziehen, zumal auch sie mächtig Ärger bekam.

Frau Hoffmann, Mitte dreißig, sang gern und oft. Dazu spielte sie Gitarre, was sie sehr gut beherrschte. Sie sang an den Abenden mit uns ausschließlich Seemanns-Lieder. Das fand ich schon recht eigenartig, denn wir waren hier im Erzgebirge und hier singt man Lieder von den Bergen und vom Wandern.

Das allerdings war nur ein Hobby von Frau Hoffmann, also singen und dazu Gitarre spielen. Ihr zweites Hobby war von ganz anderer Art. Sie rammte liebend gern, und das mit wachsender Begeisterung, uns Kindern ihre spitzen Schuhe kraftvoll ins Gesäß.

Einen Fußtritt dorthin betrachtete ich schon immer als höchste Verachtung, die man demjenigen zukommen lässt, der ihn erhält. Aber wie viel Verachtung musste sie für mich empfunden haben, um so etwas mehrmals täglich zu tun. Nie gab ich ihr einen Anlass dafür. Manchmal glaubte ich, dass sie nur so aus Spaß zutrat oder vielleicht nur, um zu sehen, wie ich reagierte. Dass es eventuell dabei um die Folgen des Fahrradunfalls ging, kam mir nicht sofort in den Sinn.

Viel zu oft, nach meinem Ermessen, trat sie zu. Wenn sie dann richtig traf, waren die Schmerzen unerträglich. Man stand da wie vom Blitz getroffen und vor Schmerzen schreiend. Da half nur Backen zusammenkneifen und durch.

Schlimmer kam es nur dann, wenn sie ihr angestrebtes Ziel verfehlt hatte. Man war fast in Ohnmacht gefallen vor Schmerz und es dauerte etwas länger, bis man wieder auf dem Damm war.

Vor meinen Radunfall war ich eigentlich halbwegs verschont worden von derartigen Fußtritten. Nicht zuletzt, weil ich einen Jungen vor dem Ersticken bewahrt hatte.

Jener Junge war etwa zwei Jahre älter als wir, aber in unserer Gruppe als auch meiner Klasse. Er war ein richtiger Kotzbrocken, wie man heute sagen würde. Jeden, aber wirklich jeden hat er unterjocht und auch geschlagen. Er wusste alles, wie er selbst sagte, und sein Wort war mehr als Gesetz. So kam es, dass er eine Mutprobe für uns hatte. Diese Mutprobe war unerlässlich, um halbwegs von ihm und seinen Launen verschont zu bleiben.

Es war ein striktes Verbot, auf Knaudes Wiese Ski zu fahren, zumal sie sehr abschüssig war und ein kleiner Bach da durchging. Über diesen kleinen Bach führte ein schmaler Steg, und genau darum ging es. Da der Steg bei dem hohen Schnee nicht zu erkennen war, konnte man nur erahnen, wo er sich befand. Unsere Aufgabe war es nun, den Steg zu treffen. Wie gesagt, die Wiese war schon sehr abschüssig, und man bekam ein mächtiges Tempo mit den Skiern drauf. Unter diesen Umständen den Steg zu treffen, ging so ziemlich gegen null. Keiner traute sich das und ich auch nicht. Aber ich sollte als Erster da runter, weil ich der Neue war. Heute weiß ich nicht mehr genau, was ich sagte, um ihn selbst dazu zu bewegen und uns zu zeigen, wie es gemacht wird. Er schoss wie ein Pfeil den Abhang runter und war auf einmal verschwunden. Alle haben sich vor Lachen nicht halten können. Nur ich bin runtergefahren und, da, wo der Bach entlangläuft, sah ich die Unterseite seiner Ski, von denen beide Spitzen fehlten. Von ihm selbst sah man nichts. Er muss bei der Abfahrt etwas falsch gemacht haben und sich einen Spitzensalat, wie wir es bezeichneten, geholt haben, was seine Abfahrt abrupt bremste und er den Rest des Weges im Sturzflug fortsetzte, eben bis zu der Stelle, wo er jetzt kopfüber drinsteckte. Es ist ähnlich wie, über einem Lenkrad vom Fahrrad abzusteigen, wenn das Vorderrad blockiert. Jedenfalls war mir sofort klar, dass er kopfüber im Bach liegen musste. Geistesgegenwärtig entledigte ich mich meiner Ski und rannte zu ihm hin, entfernte seine Ski und zog ihn aus dieser Notlage. Er war zwar nicht mehr bei Sinnen, aber atmete noch. Der Junge selbst war nach diesem Unfall endlich auch einer von uns.

Natürlich wurde ich für seine Rettung ausgezeichnet und hatte sogar dadurch einige Privilegien im Heim. Bis eben zu jenem Tag, als ich mich vom Heim unerlaubt entfernte und selbst einen Unfall verursachte.

Ja, es gab schon dann und wann einen Tritt mit dem Spann gegen meine Pobacken, aber so drastisch, wie sie dann folgten, nie.

Nach dem Unfall ließ unsere singende Erzieherin keine Gelegenheit aus, ihrem Hobby zu frönen. Manchmal konnte man bei ihren Tritten so etwas wie einen Freudenschrei vernehmen.

Ihre Tritte waren oft und heftig, sodass ich mitunter Blut in meiner Unterhose hatte. Selbst mein täglicher Toilettengang wurde zur Qual. Ein Abheilen der Risse im Afterbereich war durch das ständige Nachtreten fast nicht möglich.

Ab sofort stand ich nach Möglichkeit immer, wenn Frau Hoffmann Dienst tat, mit dem Rücken zur Wand oder passte auf, dass sie nicht hinter mir stand – schon gar nicht, wenn ich mich bückte. Aber egal, wie ich mich vorsah, ich hatte die Arschkarte.

All diese Misshandlungen machten mich aufsässig. Den Anweisungen kam ich nur noch spärlich nach und entfernte mich auch unerlaubt vom Heim. So kam es, dass ich des Öfteren zum Heimleiter zitiert wurde. Meine Beschwerden wurden mit einem Augenrollen vom Heimleiter abgetan und ihnen wurde, erwartungsgemäß, nicht nachgegangen.

Über all meine Probleme unterhielt ich mich mit meiner Freundin, aber nicht über die Tritte und deren Ausmaße. Es war mir so was von peinlich, ich schämte mich regelrecht, ihr alles zu erzählen.

Alle Sorgen waren fast weg, wenn ich mit meiner Freundin zusammen war. Sie war es auch, die dafür sorgte, dass mein Stubenarrest aufgehoben wurde. Sie war einfach super und immer so verständnisvoll, eben meine Freundin.

Misshandelt, verraten und verkauft

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