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Unter Gewalt beschnitten

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Wie so oft hatte ich wieder einmal unerlaubt das Heim verlassen. Es war ein Tag vor meinem zehnten Geburtstag, Mitte März.

Grund für meine Flucht war tatsächlich mein anstehender Geburtstag.

Ich hätte es nicht ertragen, wie ausgerechnet an diesem Tag alles anders sein sollte, als es der Alltag zeigte. Diese Heuchelei und Verlogenheit konnte und wollte ich nicht annehmen. Ich sah es bei anderen Kindern, wie sie an jenem Tag fast mütterlich umsorgt wurden. Alles beginnt zum morgendlichen Fahnenappell. Der Zögling wird nach vorne gerufen, ihm wird gratuliert und unter lautem Applaus gehuldigt. Nach der Schule dann gab es immer Napfkuchen für jene Gruppe, in der das Geburtstagskind verweilte. Dann und wann gab es sogar für alle Kakao dazu.

Das Wetter war optimal, um gegebenenfalls im Freien zu schlafen. In der großen Hofpause nutzte ich eine Gelegenheit aus und verschwand auf den Weg zur Gärtnerei.

Ein Zwischenfall im Schulgebäude erleichterte mir zudem die Flucht. Irgendein Schüler hatte aus Spaß oder Übermut einen Feueralarm ausgelöst.

Ich ertrug mein jetziges Leben nicht mehr. Wenn man überhaupt von Leben sprechen kann. Alles war mir recht, auch dass ich durch mein Abhauen sterben konnte. Nur zurück in dieses Heim wollte ich auf keinen Fall mehr. Vier Tage war ich unterwegs, bis man mich an einer Kaufhalle in Lichtenberg beim Stehlen erwischte. Der Hunger hatte mich regelrecht dazu getrieben. Morgens, gleich nachdem das Backwarenkombinat Bako seine Schrippen und Brote ausgeliefert hatte, vergriff ich mich an den Teigwaren. Der Fahrer musste mich wohl im Rückspiegel beobachtet haben. Er war es auch, der mich festhielt, bis ein Polizist eintraf. Was ich nicht wissen konnte, war, dass außer mir sich auch andere an den Lieferungen bedienten. Ausgerechnet diese Kaufhalle stand unter Beobachtung, wie ich bei einem Verhör erfuhr.

Nach den vier Tagen unterwegs sah ich aus wie eine Sau. Drei Tage davon hatte es geregnet. Auch meine Kleidung war schmutzig und sogar teilweise zerrissen. Eigentlich dachte ich, in das Durchgangsheim, in die Otto-Dunkel-Straße, zu kommen, zu Prof. Dr. Dreher. Aus dem wurde aber nichts. Die Kaiser höchstpersönlich nahm mich im Polizeirevier in Empfang. Mit jedem Erzieher hatte ich gerechnet, aber nicht mit der. Eigentlich war ich der Meinung, dass sie weg sei vom Fenster oder nur Springer macht.

„Springer“ nannte man jene Erzieher oder Erzieherinnen, die bei der Heimleitung in Ungnade gefallen waren. Die mussten dann, immer bei Ausfällen, für ihre Kollegen einspringen.

Wie ich aber erfuhr, war mein Abholen eine ihrer ersten Amtshandlungen, nachdem sie wieder ihren Dienst antreten durfte. Unsagbare Angst durchfuhr meinen Körper. Erst als ich den Heimkraftfahrer sah, konnte ich mich halbwegs beruhigen. Wobei der auch nicht gerade der Vertrauenswürdigste war, aber wenn der einmal zuschlug, blieb es in aller Regel bei diesem einen Hieb.

Im Heim angekommen, musste ich zunächst zum Heimleiter, der mich aber wieder wegschickte, weil ich so dreckig war.

Dass ich die letzten vier Tage kaum etwas gegessen hatte, interessierte niemanden – nur der Diebstahl wurde ausführlich debattiert. Mein Zustand, abgesehen vom Dreck an mir und meinen Sachen, hätte bei jedem vernünftig denkenden Menschen sofort Besorgnis erregen müssen. Aber derartige Gefühle konnte man von den Erziehern nicht erwarten, denn „Gefühle waren auch kein Teil sozialistischer Erziehung“, wie wir oft zu hören bekamen.

Ordnung, Sauberkeit und Disziplin waren die Prioritäten, auf die man Wert legte. Alles, was davon abwich, hatte drastische Strafen zur Folge.

Nach der Abweisung durch den Heimleiter brachte die Kaiser mich zum Gemeinschaftsduschraum. Dort sollte ich mich ausziehen und warten, bis sie wiederkommt. Zunächst dachte ich, dass sie Handtücher und einen Seiflappen holen würde. Zehn Minuten stand ich völlig entkleidet im Duschraum und fror, als sie mit Tonne hereinkam. Die Sachen, an die ich dachte, hatte die Kaiser dabei – und auch eine Schere. „Oh Gott“, dachte ich, „die werden mir doch jetzt nicht meine Haare abschneiden, so wie sie es taten, als ich Neuzugang war“.

„So, der Zipfel jetzt kommt ab“, sagte Tonne mit einem hämischen Grinsen. Zunächst konnte ich mit dieser Bemerkung nichts anfangen. Allerdings hatte ich auch nicht viel Zeit, diesen Satz zu analysieren. Noch ehe ich mich versah, packte mich die Kaiser von hinten und Tonne ergriff meinen Penis, zog meine Vorhaut lang und schnitt sie mit der Schere ab.

Der Schrei, den ich daraufhin von mir ließ, muss im gesamten Heim zu hören gewesen sein. Es war ein unerträglicher, brennender Schmerz. Aber irgendetwas ließ meinen geschundenen Körper nicht in Ohnmacht fallen.

Oft machte ich durch Schläge und Tritte der Erzieher, Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen, Bekanntschaft mit der Ohnmacht, die mir für diesen Zeitraum die Schmerzen erleichterte. Warum jetzt nicht? Oft habe ich es mich im Nachhinein gefragt und nie eine zufriedenstellende Antwort gefunden.

Da ich nun wie ein abgestochenes Schwein blutete, nahm Tonne einen Haargummi aus ihrem Haar, wickelte mir den Seiflappen um die Wunde und fixierte ihn mit diesem Gummi. Anfangs hielt dieses gar nicht, zumindest nicht beim Duschen. Die Seife brannte ebenfalls höllisch auf der Wunde. Tonne verschwand plötzlich und kam einige Minuten später mit Jodtinktur, Leukoplast und einem Verband wieder.

Jodtinktur war das Allheilmittel in der DDR, zumindest was die Prävention einer Infektion betraf. Das Zeug brennt schlimmer in offenen Wunden als alles, was man sonst kennt.

Es war ja nicht so, dass mir dieses Desinfektionsmittel vorsichtig aufgetupft wurde. Nein, auch dieses Mal hielt mich die Kaiser fest und zwang mich, mich zu setzen. Tonne indes kippte diese Jodtinktur in eine Nierenschale und griff meinen Penis so ungeschickt und brutal, dass mir meine Hoden in den Unterbauch rutschten. Endlich alles im Griff habend, hielt sie das, was noch da war, mindestens eine Minute lang in die Nierenschale hinein, obwohl kaum noch etwas von dem Zeug da drin war. Irgendwann während der Prozedur spürte ich eine Zahnbürste zwischen meinen Zähnen, die ich während dieser schmerzerfüllten Behandlung zerbiss. Um ehrlich zu sein, ich dachte, dass sie mir das Ding abgerissen hatten, so heftig waren die Schmerzen, als sie ihn mir lang zog.

Natürlich hatte man mir gedroht – und das konnten die sehr gut –, dass, wenn ich davon erzählen würde, sie mir den Rest auch noch abschneiden würden. Eine abenteuerliche Geschichte hatte man mir vorgegeben, für den Fall, dass jemand neugierig nachfragt. Ein Fahrradunfall sollte ihren Angaben nach, als Folge, diese Wunde verursacht haben. Wie lächerlich, dabei hatte ich gar kein Fahrrad. Natürlich habe ich nichts gesagt. Und beim gemeinschaftlichen Duschen habe ich mich immer so gestellt, dass es nicht zu sehen war, oder auch ein Handtuch vorgehalten. Es war auch die Scham, die mich dazu bewegte, meine Genitalien zu verstecken.

Erst Jahre später, als ich etwa 15 Jahre alt war, erfuhr ich von einem Pfarrer, dass es Völker gibt, wie die Juden und die Moslems in der Türkei, die dieses Entfernen der Vorhaut als Ritual der Reinhaltung und als Übertritt ins Erwachsenenalter praktizieren.

Ein Arzt hatte diese Wunde nie versorgt. Über zwei Wochen lag ich isoliert auf der Krankenstation, weil sich eine Entzündung auftat. Mein bestes Stück wurde richtig fett und spannte. Die Notdurft wurde zu einem quälenden Pressvorgang.

Sonst bekam ich immer Faustan oder auch andere Psychopharmaka, wenn ich unartig war, allerdings auch außerhalb der Reihe. Man sagte mir, ich hätte das Zappelphilippsyndrom. Jetzt bekam ich es verordnet, um mich ebenfalls ruhigzustellen. Nur diesmal nahm ich es freiwillig, also man brauchte mir dieses Medikament nicht bis in den Rachen hineinstecken. Bei der üblichen Verabreichung hatte man sich fast einen Kieferbruch zugezogen oder war dem Ersticken nahe. Was ich auf jeden Fall davontrug, war, dass der Kiefer aushakte.

Als Folge dieser Zwangsverabreichung habe ich auch heute noch Schwierigkeiten, Tabletten zu nehmen, und Kapseln gehen bei mir schon gar nicht. Sollte ich dennoch Medikamente nehmen müssen, lasse ich sie mir spritzen oder bekomme sie in flüssiger Form.

Hin und wieder gab es auch, und ich glaube, es so auf der Packung gelesen zu haben, Dolormin, sie nannten es Schnaps. Vielleicht auch deswegen, weil sie es selbst konsumierten, als Ersatzdroge sozusagen.

Es gab schon einen Arzt in Werftpfuhl, zumindest hatte der Mann, der da kam, immer einen weißen Kittel an und ein Stethoskop am Hals, wenn er uns untersuchte. Keiner von uns glaubte, dass er wirklich ein Mediziner war. Er war ein hagerer, ziemlich großer Mann. Sein Gesicht war, wie alles andere an ihm, knöchern. Seine Augen lagen tief in den Höhlen. Seine Hände und Füße waren unmenschlich groß. Er sah eher wie ein Totengräber aus. Wenn jemand erkältet war, war er sehr oft zur Stelle. Wir mussten uns, jeder einzeln, im Behandlungszimmer vor ihm nackt ausziehen und husten. Dabei griff er uns an die sich bewegenden Hoden. Manchmal so kräftig, dass einem die Luft wegblieb. Seine zweite Diagnose holte er sich im After. Ohne Gummihandschuhe, aber mit Vaseline, rammte er uns seine knochigen, eklig langen Finger in das Gesäß. Oft hatte ich danach Probleme und das nicht nur beim Sitzen. Um dieser Behandlung zu entgehen, meldete ich mich nie wieder freiwillig krank. Dem entging man trotzdem nicht, weil wir uns vonseiten des Heims einer prophylaktischen Untersuchung durch diesen Herrn hin und wieder unterziehen mussten.

Sehr zu unserer Freude kam er irgendwann nicht mehr, auch kein anderer mit weißem Kittel.

Misshandelt, verraten und verkauft

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