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Neue Erzieher und Lehrer

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Es war wieder ein Jahr vergangen. Die Weihnachtsferien und Silvester gehörten der Vergangenheit an.

Viele Kinder durften über Weihnachten zu ihren Eltern.

Wir, die blieben, mussten alle Stationen reinigen, Betten beziehen, Gelände reinigen und vom Schnee befreien – also alles, was so anfiel.

Wir hatten sonst keinen Stress weiter, es blieb noch viel Freizeit für uns.

Silvester haben die Erzieher diesmal eine Treppe höher in der Aula gefeiert.

Wir haben wieder nachgesehen, aber die Aula wurde nach Ende der Feier abgeschlossen.

Nach den Winterferien bekamen wir einen neuen Erzieher.

Herr Löwenberg, Mitte dreißig, ordentlich, mit einem großen Schnauzer und er trug immer „Levis“.

So was wie Präsent 30 sah man bei ihm nicht. Nie hatte er sich gehen lassen, was die Auswahl seiner Garderobe anging sowie seiner Pflege im Allgemeinen.

Er war immer verständnisvoll, hatte sich mit uns sinnvoll beschäftigt und uns viel beigebracht.

Strafen waren für ihn ein Fremdwort.

Auch hatte er sich für uns eingesetzt oder ist auch einmal dazwischengegangen, wenn ein Erzieher austickte. Er war nicht das Muskelpaket, er war eher dünn, aber er konnte gut argumentieren.

Einmal hörte ich einen Streit zwischen Herrn Löwenberg und Herrn Hahn, den sie im Erzieherzimmer führten. Herr Löwenberg stand total hinter uns und hatte sich nicht irritieren lassen von den zweideutigen Angeboten seitens Herrn Hahn.

Herr Löwenberg hatte sogar Nachtwanderungen oder Schnitzeljagden veranstaltet, trotz Protest vom Erziehungsleiter.

Er lehrte uns, mit Karte und Kompass umzugehen, oder giftige von essbaren Pilzen zu unterscheiden.

Wir hatten früher schon Pilze sammeln müssen. Aber bisher wurden alle gesammelten Pilze beim Erzieher abgegeben.

Bei Herrn Löwenberg durften wir sie auch zubereiten und selbst essen. Zwiebeln, Speck und Salz bekamen wir von den Frauen aus der Küche.

Er war es auch, der den höchsten Respekt von uns allen erhielt. Alle waren wir uns einig: Hat Herr Löwenberg Dienst, wird kein Mist gebaut, und keiner haut ab. Alles, was er anwies, wurde mit besonderer Sorgfalt und Güte durch uns ausgeführt. Das waren dann diese Samstage, an denen unsere Station die besten Noten für Ordnung und Sauberkeit bekam.

Sauber machen war jeden Tag angesagt, allerdings ohne Benotung. Nur jeweils am Samstag war großes Reinemachen. Da wurde auf alles geachtet, Sauberkeit der Räume und des Waschraums, sind die Schränke aufgeräumt, die Betten auf Kante und so weiter. All das wurde benotet.

Einen Preis gab es nicht, aber zu gewinnen war doch auch etwas – sozusagen, der Beste zu sein.

Für Herrn Löwenberg hatten wir uns besonders ins Zeug gelegt, weil wir wollten, dass er bleibt und dass er stolz auf uns Jungs sein kann.

Herr Löwenberg hatte sich immer für uns und mit uns gefreut, auch wenn wir einmal nicht gewonnen hatten. Es war ehrliche Freude, manchmal konnte ich sogar eine kleine Freudenträne in seinen Augen entdecken.

Eines Tages kam er zum Dienst und das Lederschild sowie das kleine rote Fähnchen an seiner Levis-Gesäßtasche fehlten. Beides war sehr oberflächlich abgetrennt, Reste des Schildes waren noch zu erkennen und die dunkle Stelle, an dem es zuvor war.

Als ich ihn darauf ansprach und sagte, dass das Schild abgegangen sei, sagte er: „Nein, mein Junge, ich musste es entfernen und nicht nur das, sondern auch die Knöpfe.“

„Warum?“, fragte ich.

„Sieh mal, Achim“, sagte er und strich mir über die Haare, „diese Hose ist aus dem nichtsozialistischen Ausland, und ich bin euer Erzieher und muss eine Vorbildfunktion erfüllen. Achim, jetzt werde ich dir für dein weiteres Leben was mitgeben. Es ist eine kleine Lebensweisheit mit riesiger Wirkung.“

Dann sagte er in etwa jenes Zitat, welches in meiner Jugend aus mir heraussprudelte: „Der Schmutz liegt im Auge des Betrachters. Merke es dir ganz genau, du wirst es immer in deinem Leben gebrauchen.“

Seine letzten Worte dieses Gespräches waren: „Ich hätte gehen müssen und meinen Beruf aufgeben, aber ich wollte bei euch sein, weil ihr mich auch braucht.“

So viel Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit hatte ich nicht erwartet. Ich war wie von den Socken, stand da und heulte Rotzblasen.

Wieder hatte ich so ein komisches Gefühl, viele waren schon vor ihm gegangen, aber keiner war wie Herr Löwenberg.

Eines Abends, nach dem Abendbrot, mussten alle bei Tisch bleiben. Das Geschirr wurde vom Tischdienst abgeräumt und die Tische abgewischt.

Ein Gemurmel ging durch den Saal, keiner wusste, was los war.

Ein lauter Knall beendete das Gemurmel, Herr Dreher hatte einen Tisch umgeworfen und lauthals „Ruhe!“ gebrüllt.

Schlagartig war es totenstill im Saal, man hätte eine Daunenfeder fallen hören können.

Dann trat der Heimleiter in diese Ruhe und begann auch gleich mit seinen Ausführungen.

„Wie ihr schon bemerkt habt, Herr Löwenberg wird hier nicht mehr arbeiten. Er wird jetzt in einem anderen Heim als Leiter tätig sein.“

Ein halbes Jahr war er hier und bei jedem beliebt. Jeder in diesem Heim kannte ihn. Er war, kurz bevor er ging, Springer. Das heißt, ihm wurde seine Gruppe weggenommen, und er musste immer in einer anderen Gruppe arbeiten, immer wenn einer ersetzt werden musste, sprang er ein. Dadurch hatte er auch keinen regelmäßigen Dienst mehr. Immer seltener hatte man ihn gesehen.

Noch nie hatte man derartige Veranstaltungen angestrebt, wenn ein Erzieher ging. Aber hier war es anders, wir hatten immer wieder gezielt nach ihm gefragt, ob er krank sei oder sonst was.

Auf einmal kippten Stühle, Tische scharrten laut über den harten, steinernen Boden. Immer mehr Stühle kippten und immer mehr Kinder standen auf.

Schließlich standen alle Kinder, keiner saß mehr, abgesehen von den Erziehern, es war eine kleine Revolte.

Kein Brüllen, keine Drohung konnte uns einschüchtern. Wie von einer fremden Hand geführt, taten wir alle das Gleiche. Das war das erste und einzige Mal, dass ich so etwas erleben durfte, wenn es um einen Erzieher ging.

Der Heimleiter trat wieder nach vorn und begann weiter zu reden.

„Mir ist bewusst, wie ihr euch fühlt, schließlich war er ja bei jedem von euch beliebt. Der Magistrat hat so entschieden und dem müssen auch wir uns beugen. Aber eins kann ich euch versichern, Herr Löwenberg ist ein guter Pädagoge und deshalb ist jedem geholfen, wenn er in Zukunft sein Wissen als Leiter einer neuen Einrichtung weitergeben kann.“ Nach einer kleinen Pause, in der er sich im Speisesaal umblickte, sagte er: „Noch eins, wenn jeder jetzt leise in seine Gruppe geht und sich den Regeln der Heimordnung unterordnet, wird dieser Abend keine Auswirkungen auf euch haben, ich gebe euch darauf mein Wort.“

Nur sehr langsam löste sich alles auf, jeder ging in seine Gruppe.

Wer anschließend den Speisesaal aufräumte, weiß ich nicht, aber es war keiner von uns. Dieser war auch einer der wenigen Abende, an dem ich nicht den Abwasch machte.

Oft haben wir noch über Herrn Löwenberg gesprochen und jeder neue Erzieher wurde an ihm gemessen. Keiner, aber wirklich keiner, kam nur annähernd an seine Erziehungsmethoden heran.

Mit jedem neuen Schuljahr wechselten wir auch die Stationen und die Erzieher.

Was aber nicht bedeutete, dass wir die anderen Erzieher los waren. Sie waren immer präsent, aber nicht mehr hauptverantwortlich für meine Erziehung – wenn man hier von Erziehung überhaupt sprechen konnte.

Jede Gruppe hatte einen Gruppenerzieher, der die Verantwortung für uns hatte, und einen Erzieher, ich würde sagen, seinen Handlanger.

Der Gruppenerzieher hatte nur Normaldienst, bis nach dem Mittagessen. Er war auch für alle Belange innerhalb der Gruppe zuständig und dem Erziehungsleiter direkt unterstellt.

Der zweite Erzieher schob dann Dienst bis zur Nachtruhe. Es kam auch schon einmal vor, dass der zweite Erzieher auch zwei Gruppen betreuen musste, oder auch ein Erzieher den ganzen Tag Dienst hatte.

Mein neuer Gruppenerzieher wurde Herr Gerd. Einer der besseren Erzieher: streng, aber gerecht. Nie hatte er die Hand gegen uns erhoben.

Er hatte mir auch meine Freiheiten gelassen, die Küche, die Nähstube und meine Basteleien.

Meine Basteleien hat er sogar unterstützt, oft fragte er, ob ich irgendetwas brauchen würde. Sollte mir noch irgendetwas fehlen, gingen wir dann in die heimeigene Werkstatt. Sie befand sich am Ende des Heimkomplexes, hinter der Gärtnerei, Hausherr war Herr Bauer. Hier wurden auch UTP und ESP (Unterrichtstag in der Produktion und Einführung in die sozialistische Produktion) unterrichtet. Jedenfalls konnte ich dort alles finden, was ich brauchte.

Durchgebrannte Glühbirnen zum Beispiel, daraus machte ich Kasperpuppen. Dazu wurden die Glühbirnen mit Zeitung und mit Zugabe von Mehlkleister beklebt. Nach dem Austrocknen waren die Kasperköpfe knüppelhart. Das Glühbirnenglas wurde dann mit einem Hammer zerschlagen und der so entstandene Kopf bemalt. Die Kleider dazu nähte ich in der Nähstube.

Oder ich machte Mosaiken, dazu brauchte ich Sperrholz, Glas, Farbe, Gips und Kleber.

Irgendwann haben sich mehrere Kinder an diesen Basteleien beteiligt und die Arbeiten ihren Angehörigen geschenkt.

An den Besuchstagen war dann richtig was los, manchmal kamen Besucher und suchten sich auch etwas aus und legten dann ein oder zwei Mark in eine kleine Büchse, ähnlich einem Sparschwein.

Einmal war mir sogar der Boden unten herausgefallen, so schwer war die Büchse.

Mit der neuen Station und neuen Erziehern erhielten wir auch neue Lehrer und Lehrerinnen, aus den unterschiedlichsten Gründen.

Unser Russischlehrer hatte am Ende des Schuljahres abgedankt, er ging in seinen wohlverdienten Ruhestand.

Was für ein Glück, er war noch ein Lehrer alter Schule, mit allen Vor- und Nachteilen. Er war mir irgendwie nicht so ganz geheuer. Was er aber gut konnte, war, Geschichten zu erzählen. An Tagen wie dem „Tag der Befreiung“ zog er immer voll vom Leder. Er ließ keine Gelegenheit aus, sich als „der Held des Zweiten Weltkriegs“ zu sehen.

„Ich war an der Front, wurde verletzt, habe mit Ulbricht in der Sowjetunion gearbeitet, natürlich auch im Untergrund.“ So seine Lobeshymnen auf sich selbst. In den höchsten Tönen hatte er sich präsentiert. Gut für die Republik, dachte ich so immer bei mir.

Jetzt war er jedenfalls in Rente und konnte seinen Kneipenkumpels weiter die Taschen vollhauen.

Das neue Schuljahr begann wie immer mit einem Fahnenappell. Der Schulleiter trat nach vorn und rief „Seid bereit“, und alle riefen „Immer bereit“.

Nach ein paar nichtssagenden Sätzen, also dem üblichen Blabla, kam er zur Sache.

Stolz präsentierte er uns die neuen Lehrer und Lehrerinnen.

Einzeln traten sie dann hervor und stellten sich mit ein paar Sätzen selbst vor.

Dann hörte ich: „Frau Wilhelm wird unsere neue Russischlehrerin.“

Sie trat in die Mitte des Appellplatzes.

Mir blieb fast die Luft weg, ich war kurz vor einem Kollaps. „Mann, sah sie gut aus, hoffentlich ist sie nicht so wie die anderen“, dachte ich so bei mir. Nichts hatte ich gehört von dem, was sie sagte, ich war immer noch wie weggetreten.

Nach unserem Stundenplan, den wir einen Tag zuvor zusammen mit unseren Unterrichtsbüchern bekamen, um unsere Mappen zu packen, hatten wir in der vierten und fünften Stunde bei ihr Russischunterricht.

Noch nie hatte ich mich so auf eine Unterrichtsstunde gefreut.

Gar nicht auszudenken, wenn alles einen Tag vorher stattgefunden hätte. Die ganze Nacht hätte ich kein Auge zubekommen.

Dann endlich war es so weit. Sie kam in die Klasse und sagte freundlich: „Guten Tag, bitte setzen.“

Dann setzte sie sich auf den Lehrertisch und stellte sich abermals vor, etwas detaillierter.

Ein Klingeln riss mich aus einem Halbwachtraum, die erste Russischstunde war zu Ende und ich hatte nur geträumt.

In der zweiten Stunde forderte sie uns auf, uns vorzustellen. Dies tat sie, indem sie uns alphabetisch aufrief.

Frau Maria Wilhelm war Ende zwanzig und wunderschön. Sie war immer und zu jedem nett, nie kam auch nur ein lauter Ton über ihre Lippen. Ihre Geduld war grenzenlos, auch wenn einer nicht mitkam, resignierte sie nicht und legte sich voll ins Zeug.

Wo sie auftauchte, wurde es immer still. Nicht, weil wir Angst hatten, sondern weil wir immer auf etwas von ihr warteten. Jedes Mal hatte ich mich angestrengt, um gute Noten bei ihr zu bekommen, oder für ein Lob, das sie öfter einmal aussprach. Sie wohnte auf dem Heimgelände in einer Baracke, die nicht weit weg war von unserem Haus. Eines ihrer Fenster konnte man von unserem Gruppenraum aus sehen, wenn man sich anstrengte. In der Baracke hatte sie zwei kleine Zimmer, eine Küche und eine kleine Toilette. Die Duschen befanden sich am hinteren Ende der Baracke und wurden von allen dort wohnenden Lehrern und Erziehern benutzt.

Noch am selben Abend, nach dem Abendbrot und dem Abwaschen des Geschirrs, hatte ich auf ein Stullenbrett etwas Brot und Salz getan und war zur Baracke geeilt, stellte das Brettchen auf ihr Fensterbrett, klopfte an und rannte weg.

Das Reichen von Brot und Salz soll ein alter, russischer Willkommensgruß sein.

Nach der nächsten Russischstunde durfte ich nicht gleich auf den Schulhof.

Frau Wilhelm sagte: „Große Pause, alle auf den Hof. Achim, du bleibst mal hier.“

„Achim“, sagte sie, „du bist doch handwerklich geschickt, kannst du mir heute nach der Schule helfen?“

„Oh ja, gerne, Frau Wilhelm, aber ich muss erst Herrn Gerd fragen.“

„Brauchst du nicht, ich habe schon mit Herrn Gerd gesprochen, du darfst nach der Mittagsruhe zu mir rüberkommen. Du weißt doch, wo ich wohne, oder?“

„Ja“, sagte ich prompt.

Dann merkte ich, wie blöd ich war, woher sollte ich denn wissen, wo sie wohnt. Sie wusste bestimmt, dass ich ihr das Brettchen ans Fenster gestellt hatte und wie ein Blöder weggerannt war.

Nach der Mittagsruhe war ich wie der Wind in meine Sachen geschlüpft und Richtung Baracke gerannt, nur mit dem Gedanken im Kopf, keine Minute mit ihr zu versäumen.

In meinem Übermut bin ich der Länge nach in den Schotter gestürzt, der auf dem Weg lag.

Meine Hose kaputt, das Knie aufgeschlagen, Hände und Ellenbogen zerschrammt, so war ich dann an ihre Tür getreten und hatte an ihre Wohnungstür angeklopft.

Sie machte die Tür auf, sah mich an und sagte: „Mein Gott, wie siehst denn du aus, komm erst mal rein und setze dich.“

Als ich eintrat, ging sie in die Küche.

„Was ist denn passiert, Achim?“, fragte sie.

„Ich bin gestürzt, Frau Wilhelm, weil ich gerannt bin, ich wollte nicht zu spät kommen.“

„Jetzt sieht es so aus, als würdest du Hilfe brauchen“, sagte sie.

Sie ging in die Toilette, brachte einen nassen Waschlappen und ein Handtuch mit.

„Zieh deine kaputte Hose aus, ich muss dein Knie versorgen.“

Schüchtern zog ich dann meine Hose aus und legte sie mir auf den Schoß.

Als sie meine Wunden reinigte und das Knie verband, sagte sie: „Was machst du nun mit der Hose, die ist kaputt, und so kannst du nicht wieder zurück.“

„Nein, kann ich wirklich nicht“, sagte ich, „aber die Nähstube ist noch offen, dort kann ich mir gleich eine neue Hose geben lassen, Frau Wilhelm. Die Frauen dort sind nett, die machen das mit. Nach Schulschluss helfe ich dort öfters.“

„Ich weiß“, sagte sie, „du bleibst jetzt hier sitzen, ich mache dir einen Kakao und werde mal sehen, was ich da machen kann.“

Nachdem sie mir den Kakao hingestellt hatte, wollte sie mir wie selbstverständlich die Hose vom Schoß nehmen. Ich aber hielt die Hose krampfhaft fest. Sie schaute mich an, lächelte und gab mir eine Decke. Diese Decke legte ich auf die Hose, zog sie dann unter der Decke weg und gab sie ihr.

Jetzt saß ich allein in ihrer Wohnung, trank Kakao und war glücklich.

Hier roch alles so schön, nach Frau, nach ihr, nach Flieder. Vor ihrer Wohnungstür roch es noch muffig, wie die gesamte Baracke, aber hier war es angenehm. Eine Wohnung zum Träumen.

Auf einmal hörte ich so etwas wie Musik und meine schönen Vorstellungen waren im Eimer. Vorsichtig stand ich von meinem Stuhl auf, aufpassend, dass meine Decke nicht verrutschte. Dann sah ich nach, woher das störende Geräusch kam.

Das gab es doch nicht, vorm Küchenfenster stand der Schimmel, unser Sportlehrer, mit seiner Gitarre und jammerte etwas von „Marmor, Stein und Eisen bricht“.

Mann, dachte ich, hat der denn den Startschuss nicht gehört? Frau Wilhelm war doch gar nicht da.

Stand da vorm Fenster und machte sich zum Volltrottel. Seine Posen während dieses Konzerts waren auch eher lächerlich.

Der, der sich immer so knüppelhart gab, stand hier und trällerte sich zum Idioten. Auf dem Kopf hatte er einen Kranz aus gelben Pusteblumen. Der hat sich doch nicht etwa an den Pillen von unseren Epileptikern vergriffen. Außerdem hätte er doch wissen müssen, dass Jesus einen Dornenkranz trug. Mann, war ich wütend, ausgerechnet der unwiderstehliche Grobian.

Endlich, Frau Wilhelm kam wieder, mit einer neuen Hose in der Hand.

„Na, hat der Kakao geschmeckt, Achim?“

„Ja, sehr gut“, antwortete ich brav.

„Was wollte Herr Schmidt, hat er ans Fenster geklopft?“

„Nein“, sagte ich, „er hat nicht geklopft, er hat vorm Küchenfenster einen zum Besten gegeben.“

„Was hat er?“

„Er hat gesungen und nur gut, dass sie das nicht mit anhören mussten.“

„Aha, deswegen die Gitarre. Was hat er denn gesungen?“

„Weiß nicht, glaube so was wie ‚Marmor Stein und Eisen bricht‘“, kennen Sie das Lied?“

„Ja, es ist von Drafi Deutscher.“

„Den kenne ich gar nicht.“

„Kannst du auch nicht, er ist aus dem Westen, besser gesagt, aus Westdeutschland.“

„Darf er es denn singen?“

„Kann sein“, sagte sie dann.

Das kann doch nicht sein, dachte ich, steht vorm Fenster und singt Lieder aus Westdeutschland. Herr Löwenberg trug eine Hose aus Westdeutschland und musste Knöpfe und Schild abtrennen.

Aber der konnte machen, was er wollte, für Herrn Schimmel wäre es aber besser gewesen, wenn man bei ihm etwas abgetrennt hätte.

„Achim, Achim“, hörte ich, „träumst du? Du kannst deine Hose wieder anziehen.“

„Da … da … danke, Frau Wilhelm, für die Hose“, stotterte ich.

„Ist schon gut. Mach langsam, Achim, und setze dich hin, wenn du die Hose anziehst, sonst fällst du wieder hin und verletzt dich.“

Dann ging sie zu einem Pappkarton und sagte: „Jetzt zur Hilfe, die ich bräuchte. Du kannst doch nähen, oder? Schau mal hier, meine Gardinen.“

Mit diesem Satz nahm sie eine Gardine heraus und entfaltete sie. „Die sind für diese Fenster viel zu lang, vorher hatte ich sie in meiner Berliner Wohnung hängen. Dort waren die Räume und Fenster sehr hoch. In der Nähstube habe ich mit den Frauen gesprochen, sie sagten, du bist sehr geschickt im Umgang mit der Nähmaschine – würdest du mir die Gardinen kürzen?“

„Ja, gern, Frau Wilhelm“, sagte ich, „aber ich kann das auch hier mit der Hand und es sieht besser aus. Nadel und Faden kann ich mir von der Nähstube geben lassen.“

„Glaube ich dir gern, aber ich habe nicht so viel Zeit dafür und möchte, so schnell es geht, die Gardinen an den Fenstern haben.“

„Gut, wie Sie wünschen, Frau Wilhelm, dann mit der Nähmaschine.“

„Gut“, sagte sie, „ich räume noch meine Umzugskartons aus und gebe dir dann Bescheid.“

Sie machte mir noch einen Kakao und fragte, woher ich käme und wie es mir hier gefiele.

Als ich ihr erzählte, woher ich kam, sagte ich ihr dann, dass es mir hier nicht gefiele.

„Warum und was gefällt dir hier nicht?“, fragte sie.

Dann sagte ich zu ihr: „Sie sind bisher immer anständig zu uns gewesen, haben nie ein böses Wort gesagt, aber ich kann es Ihnen nicht erzählen. Es wird der Tag kommen, aber zurzeit kann ich nicht, ich schäme mich zu sehr.“

„Wenn du Probleme hast, kannst du doch immer zu mir kommen“, sagte sie.

„Nein“, sagte ich, „weil dann immer der Erzieher oder Lehrer weg war.“

„Was meinst du damit, Achim?“

„Na, es gibt gute und böse Lehrer und Erzieher.“

Ich erzählte von Herrn Löwenberg, wie er war und wie er sich um uns gekümmert und für uns eingesetzt hatte.

„Er war einer der Guten und von uns respektiert“, beendete ich meine Lobesrede.

„Und wer sind die Bösen?“, fragte sie.

„Herr Hahn, Herr Dreher, Tonne, die Nachtwache, Herr Schimmel“, alle Namen nannte ich, auch ihre Misshandlungen an uns. Natürlich nicht das mit dem Abschneiden, dafür hatte ich mich viel zu sehr geschämt, und womöglich hätte sie es noch sehen wollen.

Ihre großen, braunen, immer von Liebe und Mitgefühl geprägten Augen füllten sich mit Tränen, und die Lider senkten sich. Sie weinte wie ein kleines Mädchen, fast herzzerreißend.

„Sehen Sie“, sagte ich, „jetzt sind Sie traurig. Noch vor einigen Minuten waren sie fröhlich und haben sogar gelacht. Ich ertrage es nicht, Sie so zu sehen. Ihr Lachen tut mir so gut und ich habe mich richtig wohlgefühlt bei Ihnen.“

„Oh“, sagt sie, auf die Uhr schauend, „du musst wieder rüber, es ist Abendbrotzeit und hier dein Brettchen, nimm es bitte wieder mit, danke.“

Ihre Stimme klang trotz ihres Kummers bestimmend.

Ich nahm das Brettchen und ging, ohne zurückzuschauen und ohne ein Wort, auf meine Station.

Schon einige Tage später, nach dem Russischunterricht, bat sie mich erneut zu sich.

In der großen Pause fragte sie mich: „Möchtest du noch meine Gardinen nähen?“

„Ja“, sagte ich, „sehr gerne.“

„Gut, dann kannst du, wenn du willst, heute nach dem Unterricht zu mir kommen und die Gardinen abholen, ich hatte sie noch gewaschen, und die Maße bekommst du dann auch.“

Sie fragte: „Wann kannst du bei mir sein, Achim?“

„Bestimmt erst nach der Mittagsruhe.“

„Was ist mit dem Kaffeebrot und den Hausaufgaben nach der Mittagsruhe?“

„Ach ja, aber gleich danach kann ich kommen.“

„Na dann, bis halb fünf“, sagte sie und gab mir einen Klaps auf den Po.

„Aua“, sagte ich provozierend.

„Na, ich werde dir gleich helfen“, sagte sie liebevoll und lächelte.

Nach dem Kaffeebrot machte ich schnell meine Hausaufgaben, es war nicht so viel. Anschließend fragte ich noch, ob ich zu Frau Wilhelm gehen dürfe. Mein Erzieher wusste Bescheid, und ich durfte gehen.

Pünktlich um halb fünf klopfte ich an ihre Tür.

Sie war schon an der Tür und ließ mich herein.

„Komm, setz dich hin“, sagte sie, „und dein Kakao ist auch gleich fertig. Du möchtest doch Kakao?“

„Ja, sehr gern sogar, vielen Dank.“

„Achim, möchtest du ein wenig Musik hören?“

„Ja, ich höre gerne Musik. Auf unserer Station haben wir ein Radio, und da gehe ich immer auf den Soldatensender 904.“

„Kenne ich gar nicht, was ist das für ein Sender?“

„Der Sender ist verboten, aber der spielt immer so schöne Musik. Mal was anderes als immer Bärbel Wachholz.“

„Sie hat doch eine schöne Stimme, ich weiß gar nicht, was du hast.“

Nichts hat sie gesagt wegen des verbotenen Senders.

Auf dem Weg zur Küche stellte sie das Radio etwas lauter.

Als sie wiederkam, stellte sie mir wieder Kakao hin und setzte sich mir gegenüber.

„Warum schaust du so drein“, fragte sie, „gefällt dir meine Kittelschürze nicht?“

„Doch, doch die gefällt mir, habe nur geträumt.“

„Was, am helllichten Tag träumst du?“

Natürlich hatte ich nicht geträumt. Die Kittelschürze selbst sah scheiße aus, an ihr jedoch atemberaubend.

Sie saß mir gegenüber, an der Fensterseite, und ich konnte alles sehen, was sie darunter trug.

Deshalb stierte ich immer auf meine Tasse oder irgendwo in die Luft. Aber wenn sie mich ansprach, musste ich sie ja ansehen, das gehörte sich so.

Ich musste wie ein Trottel ausgesehen haben, mit rotem Kopf, und zu allem Überfluss fragte sie, ob mir heiß wäre.

„Nein, Frau Wilhelm, mir ist nicht heiß“, log ich.

Ich trank meinen Kakao schnell aus, ohne dass sie es bemerkte, und sie sagte: „Kann ich die Gardinen haben, ich muss noch zur Nähstube und weiß nicht, wie lange da auf ist.“

Jetzt hatte ich sie schon zweimal in kürzester Zeit angelogen, das war mir richtig peinlich. Aber ich tat es aus Achtung vor ihr und wollte sie nicht kompromittieren.

„Die Gardinen und die Maße habe ich schon vor dem Mittag in die Nähstube gebracht“, sagte sie.

Sie schaute auf ihre Uhr und sagte: „Ach, schon so spät, ich muss noch einige Arbeiten korrigieren. Macht es dir was aus, wenn wir uns jetzt trennen?“

„Ja, nein“, sagte ich, „ich muss ja auch noch in die Küche, Brot schneiden für das Abendbrot.“

„Dann sehen wir uns spätestens, wenn du die Gardinen fertig hast, natürlich auch zum Unterricht.“

Sie brachte mich zur Tür, machte etwas Spucke an ihr Taschentuch, wischte mir mein Kakaobärtchen ab und sagte: „Auf Wiedersehen.“

Misshandelt, verraten und verkauft

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