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Besuchstage

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Die Tage, an denen Eltern oder auch Verwandte, ihre Kinder im Heim besuchten, waren für diejenigen, die Besuch bekamen, schön. Es gab Geschenke und Süßigkeiten, auch schon einmal begrenztes Taschengeld oder andere Annehmlichkeiten und vor allem sahen diese ihre Angehörigen wieder. Nicht selten brachten Besucher Kaffee oder andere, in der ehemaligen DDR nicht erhältliche Genussmittel für die Erzieher und Erzieherinnen mit. Wozu diese Geschenke dienten, bedarf keiner Erläuterung – nur so viel, die Kinder profitierten, was die Behandlung anging, nicht davon.

Alle Geschenke der Kinder wurden generell eingesammelt, in Kisten gelegt und mit Namensschildern der Beschenkten versehen. Anschließend wurde dies, portionsweise, je nach Führung, an den Eigentümer abgegeben. Auch sogenannte Günstlinge der Erzieher wurden mit den Geschenken anderer belohnt.

Oft kam es vor, dass nur noch verdorbene Ware übrig blieb, bis es endlich zur Freigabe kam.

Besuchstag hieß nicht automatisch, dass man dabei war und seine Liebsten sehen durfte. Nein, erst an den Besuchstagen selbst wurde bekannt gegeben, wer Besuch empfangen durfte und wer nicht. Nicht selten kam es vor, dass Besucher gekommen waren und ihre Kinder nicht sehen durften.

Vor dem Besuch wurden die Jungs noch einmal darauf eingeschworen, nichts aus dem Alltag des Heims zu erzählen, ansonsten gab es Besuchsverbot. Damit so etwas nicht aus Versehen passierte, waren immer mehrere Erzieher bei den Besuchen anwesend, die dann die Besuchergruppen regelrecht bespitzelten.

All jene, so wie Jochen und ich, die keinen Besuch bekamen, wurden weggeschlossen.

Es sollte kein unkontrollierter oder versehentlicher Kontakt entstehen.

Wenn eines der Kinder, das keinen Besuch empfangen durfte, einmal bei uns war – oder weil kein Angehöriger gekommen war –, haben wir es getröstet. Oft weinten wir dann zusammen und das aus vollstem Herzen. Einen Grund dafür gab es immer – Gelegenheit dazu nur an einem solchen Tag.

Einer weinte, weil er seine Lieben nicht sehen durfte und ein anderer, weil er keine hatte. Es lief immer auf dasselbe hinaus, aber hier brauchte sich keiner der Tränen schämen.

Nach den Besuchstagen hat dann jeder von zu Hause erzählt. Der eine sagte, er habe einen Bruder bekommen, oder der andere, eine Schwester. Einer berichtete von der Scheidung der Eltern und wieder ein anderer vom Tod eines Verwandten. Immer hatten wir Anteil am Glück und der Trauer jedes Einzelnen. Keiner hatte etwas für sich behalten, denn mit wem hätten sie sonst darüber reden können? Es bot sich ja auch nicht an.

Mit der Zeit hatte sich der Einschluss während der Besuchszeiten etwas gelockert.

Viele Besucher gingen mit ihren Kindern auf dem Heimgelände spazieren. Man begegnete sich hin und wieder, und ich grüßte immer artig. Manchmal wurde ich dann herangerufen und vorgestellt.

Einige Eltern oder Verwandte weinten während der Spaziergänge oder wollten ihre Kinder nicht mehr hergeben. Es kam auch vor, dass dann die Polizei gerufen werden musste, um der Sache ein Ende zu setzen. Diese Kinder mussten dann für Monate oder ganz und gar auf Besuch verzichten.

Irgendwann fing ich an, kleine Geschenke zu basteln. Diese habe ich dann denjenigen mitgegeben, die ihren Verwandten eine Freude mit einer Überraschung machen wollten.

Diese Präsente kamen gut an und ich bekam hin und wieder eine Mark dafür.

Einmal durfte ich zum Besuch von Hans mitgehen. Seine Mutter hatte sich über die kleinen Basteleien gefreut. Hans erzählte ihr damals, dass nicht er sie machte, sondern ich. So kam es, dass mich seine Mutter unbedingt kennenlernen wollte.

Neben der Lockerung bei Besuchstagen änderte sich auch alles andere.

Die Besuchten sollten sich jetzt in einer Reihe aufstellen und nach und nach musste jeder alles beim Erziehungsleiter abgeben. Er war jetzt der Entscheider über die Abgabe und an wen, also nicht mehr die Erzieher.

Sollte einer auch nur ein Bild seiner Verwandten oder einen Riegel Schokolade nicht abgegeben haben, wurde das als Diebstahl bewertet, und derjenige war alles los. Nichts von dem, was er beim Besuch bekam, wurde je an ihn weitergeleitet. Zumal die Aussicht, sein Eigentum auch zugeteilt zu bekommen, gleich null war. Weil jetzt auch Bestrafungen die Reduzierung oder Streichung der Geschenke beinhaltete – neben der eigentlichen Strafarbeit.

Nach den Besuchstagen ging der alte Trott weiter. Auch mein Alltag ging wieder seinen gewohnten Gang. Küchendienst und Nähstube blieben, nur meine kleinen Basteleien kamen jetzt hinzu.

Meistens hatte ich nur am Wochenende Zeit dafür, denn am Wochenende wollten die Erzieher selbst ihre Ruhe haben.

In der Regel waren wir an den Wochenenden auf uns allein gestellt, das heißt aber nicht, dass wir machen konnten, was wir wollten.

Zucht und Ordnung blieben immer noch oberstes Gebot.

Mit der Zeit hatte ich schon ein kleines Vermögen angehäuft. Über zwanzig Mark hatte ich schon. Es hätte mehr sein können, aber ich kaufte immer öfter Zigaretten, für mich und auch die anderen Jungs.

So kam es dann, dass ich beim Rauchen erwischt wurde.

Frau Kaiser war wieder im Dienst, und eine ihrer ersten Amtshandlungen nach ihrer Krankheit war, mich beim Rauchen auf dem Klo zu erwischen.

Nie klopfte ein Erzieher oder Erzieherin irgendwo an, wenn ein Waschraum oder die Toilette von uns durch sie kontrolliert wurde.

Jetzt dachte ich, es ist alles aus. Ich hatte mich schon mit dem Kopf in der Kloschüssel gesehen oder ähnliche Eskapaden erwartet. Am ganzen Körper hatte ich gezittert, vor Angst. Dann musste ich auch noch husten, weil immer noch der Rauch in mir war, und ich versuchte, ihn so unauffällig wie möglich auszublasen.

Aber sie, sie war die Ruhe selbst.

„Mach deine Zigarette aus“, sagte sie in ruhigem Ton.

„Entleere sofort deine Hosentaschen, auch die Gesäßtaschen, und gib mir deren Inhalt. Und vergiss die Zigaretten nicht“, fuhr sie ebenso ruhig fort. Ich tat, was sie verlangte, und wartete immer noch auf irgendeine aggressive Handlung von ihr.

„Du kommst jetzt mit“, sagte sie nun mit strengem Ton.

Wir gingen, anstatt zum Heimleiter, in ihre Wohnung. Sie wohnte im selben Haus wie wir, aber unter dem Dach.

Angekommen in ihrer Wohnung, roch auch die wie sie selbst. Es stank regelrecht wie auf einem Pissoir.

Dann sagte sie: „Lass uns mal sehen.“ Sie öffnete die Schachtel und sagte: „Aha, zwölf Zigaretten, hast du die anderen alle alleine geraucht?“

„Ja“, sagte ich.

„Wo sind die her und lüge nicht.“

„Ich habe sie im Konsum gekauft und gesagt, dass sie für Herrn Gerd sind.“

Frau Kaiser nahm eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an.

„Hier, nimm und rauche sie, aber nicht Pustebacke.“

Ich traute mich nicht, die angezündete Zigarette zu nehmen, ich dachte, es wäre eine Falle.

„Nimm, aber plötzlich, oder soll ich nachhelfen?“

Also nahm ich die Zigarette und zog voll durch.

Kurz vor Ende der ersten Zigarette nahm sie mir die aus der Hand und drückte die Kippe im Aschenbecher aus. Da dachte ich schon, dass ich es hinter mir habe, aber nein – ich irrte. Sie nahm wieder eine Zigarette aus der Schachtel, zündete sie an und sagte: „Nimm.“

Ich nahm die Zigarette und paffte weiter.

Dann wurde sie etwas lauter und sagte in einem Befehlston: „Du gehst hier nicht eher weg, bis die Schachtel alle ist.“

Mir war jetzt schon schwindlig, und da sollte ich alle Zigaretten rauchen!

Jetzt musste mir schnell etwas einfallen. Es war schon die fünfte Zigarette und sieben hatte ich noch vor mir. Mir wurde speiübel, ich wollte noch irgendetwas sagen, aber ich glitt unter den Tisch.

Ergebnis dieser Rutschpartie: ein riesiger Brandfleck auf der Tischdecke von Frau Kaiser.

Das war mein Glück, ich bekam ein Glas Wasser und brauchte die anderen nicht mehr rauchen.

Bevor ich gehen durfte, sagte sie: „Beim nächsten Mal gibt es kein Pardon.“

Schwankend bin ich dann die Treppen heruntergerannt und begab mich, so schnell es ging, auf die Toilette.

Misshandelt, verraten und verkauft

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