Читать книгу In drei Stunden bist du nicht mehr da - Hans-Jürgen Kaiser - Страница 10
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Der Urlaub neigte sich dem Ende zu. Am letzten Septembertag, morgens, ging unsere Fähre zurück nach Athen. Sie kam von Mykonos. Die Fußgänger mit ihren Koffern, Einzelpersonen, Pärchen, Familien mit Kindern, die motorisierten Touristen und die Einheimischen standen in langen Warteschlangen nebeneinander und warteten. Das Schiff war schon lange entladen und wartete mit heruntergelassener Ladeklappe. Aber nichts passierte. Plötzlich ging ein Raunen durch die Reihen, welches zur Gewissheit wurde. Die Fähre liefe nicht aus. Windstärke 9 sei angesagt, zu gefährlich für eine Fähre mit Passagieren an Bord. Es liefen die ersten Einheimischen durch die Reihen und boten Unterkünfte in der Nähe des Hafens zu erhöhtem Preis an. Du fühltest dich an jenem Tag nicht gut, hattest schon beim Aufstehen Schwindelgefühle, und ich war froh, dass wir ein Zimmer nicht weit von der Anlegestelle anmieten konnten. Ich sagte zu dir: „Das hätten wir geregelt, aber unser Urlaubsflieger, den wir für morgen gebucht haben, ist weg.“
Am nächsten Tag lief die Fähre aus. Vom Hotel aus riefen wir in unseren Büros an und teilten mit, dass wir unseren Dienst nicht rechtzeitig antreten könnten. Bei großer Hitze in Athen steuerten wir hektisch das Reisebüro an, bei dem wir gebucht hatten. Längst hatten wir uns mit den Kosten für einen Linienflug angefreundet. In dem Reisebüro erklärte uns eine deutsche Mitarbeiterin, dass Tausende Touristen das gleiche Schicksal mit uns teilten. „Es kann Tage, Wochen dauern, bis Sie einen Flug buchen können. Wir setzen Sie gerne auf eine Warteliste.“
Zurück im Hotel kam mir die Idee. Vor über zehn Jahren hatte ich für drei Wochen eine Rucksacktour durch den Peloponnes unternommen und bin mit dem Zug von München nach Athen gefahren. Die Lösung? Du fühltest dich immer noch nicht wohl, und ich bat dich, im Hotel zu bleiben. „Anna, lege dich noch ein bisschen hin. Ich zieh los zum Bahnhof und versuche, Fahrkarten zu bekommen.“ Die junge Dame am Schalter erklärte mir in gebrochenem Englisch, dass die Bahnmitarbeiter die letzten drei Wochen gestreikt hätten, die Bahn ab morgen wieder fahre, es aber noch keinen Fahrplan und keine Fahrkarten gebe. Ich sagte ihr: „Meine Mutter liegt im Sterben, ich möchte sie unbedingt noch lebend sehen, und wir bekommen wegen des Sturms kein Flugzeug. PLEASE!“ Ich setzte eine verzweifelte Miene auf und schob ihr einen 100-D-Mark-Schein durch den Schalterschlitz. Sie sagte: „Because of crisis situation“, lächelte gequält und druckte die Tickets aus. Zweimal erste Klasse Schlafwagen, morgen Abend um 22 Uhr.
Auf dem Bahnhof wimmelte es von Menschen. Der Zug kam pünktlich. Wir hievten die Koffer in den Waggon und suchten unser Abteil. Sehr stilvoll, holzgetäfelt, die Armaturen am Waschbecken aus Messing, wie bei dem alten Orientexpress um die Jahrhundertwende. Ich verstaute die Koffer, schob das Fenster herunter und sah auf dem Bahnsteig noch dieselbe Anzahl von Menschen wie zuvor. Ich drehte mich zu dir um. „Anna, schau dir das mal an. Außer uns ist niemand eingestiegen?“ Ich streckte meinen Kopf weiter aus dem Fenster und sah die Anzeigentafel: Thessaloniki, die Anzeige unter unserem Zug nach München. „Anna, die fahren alle nach Thessaloniki. Ich glaube, wir befinden uns in einem Geisterzug.“
Wir liefen durch die Gänge, schauten in alle Abteile. Leer. Auch kein Schaffner weit und breit. Es ging dir wieder gut, und du sagtest: „ Das wird ja spannend, zum Glück haben wir Mineralwasser, Rotwein und Plätzchen dabei. Aber wir können auch nach dem Speisewagen Ausschau halten.“
Im Speisewagen herrschte Partystimmung, Musik erklang aus dem Hintergrund. Der Schaffner, die Kellner – eine Frau und ein Mann – und der Koch, wie sich herausstellte, saßen an einem Tisch, lachten, gestikulierten wild, redeten durcheinander und tranken griechischen Wein. Die lustige Gesellschaft begrüßte uns freudig, rückte zusammen und bot uns zwei Plätze an. Der Schaffner sprach leidlich deutsch und übersetzte für die anderen. Nachdem der Zug angefahren war, bereitete der Koch zusammen mit der Kellnerin ein Gemeinschaftsmahl für uns alle. So eine Art Zwiebelrostbraten mit Bratkartoffeln. Für so ein schweres Essen war es uns um diese Uhrzeit eigentlich zu spät. Aber wir hatten den ganzen Tag nichts gegessen, waren hungrig, und es war uns in dem Moment alles egal.
Ich sagte: „Anna, eine Liege für uns beide ist zu eng. Willst du lieber oben oder unten schlafen? Ich glaube, ich schlafe lieber unten, dann tut sich jemand schwerer, dich zu entführen.“ „Können wir machen. Ich habe irgendwie zu viel Wein getrunken und zu viel gegessen. Die Hauptsache, ich liege bald in der Koje. Hoffentlich falle ich nicht runter.“
Im Halbschlaf hörte ich das Rattern des Zuges. Ratatatatatatat… Die Gleise hier hatten noch Ausdehnungsfugen, die es in Deutschland schon lange nicht mehr gibt. Die monotonen Geräusche wirkten einschläfernd auf mich.
Ich wachte schlagartig auf. Kein Fahrgeräusch, keine Zugbewegung. Aber irgendwoher ein fernes Donnern. Ich schaltete die Leselampe ein. 4 Uhr. Ich stand auf, schob das Fenster nach unten und schaute in die Nacht. Der Zug stand auf offener Strecke. In der Ferne ein gelbrotes Leuchten und immer wiederkehrend ein Bums wie Kanonendonner. Im Hotel hatte uns das Personal davor gewarnt, mit dem Zug durch Jugoslawien zu fahren, weil dort gerade die kriegerischen Auseinandersetzungen begannen.
Du strecktest den Kopf über den Rand der oberen Liege und fragtest schlaftrunken : „Tiger, was ist los?“ „Nichts, Anna, mache dir keine Sorgen. Ich lasse nur ein bisschen Luft in unser Abteil. Schlaf ruhig weiter.“
Der Zug kam pünktlich an. 16 Uhr München Hautbahnhof. Wir nahmen ein Taxi zu meiner Wohnung. Auf der Bettdecke, auf dem Boden, dem Bücherregal, überall gelbbraune Vogelscheiße. Als Frischluftfanatiker, der ich bin, hatte ich dummerweise die Balkontüre gekippt. Durch diesen Spalt muss ein Vogel in die Wohnung gekommen sein. Wir zogen die Betten ab, reinigten alles und suchten, mit den Knien auf dem Boden kriechend, den toten Vogel. Haben ihn aber nie gefunden.