Читать книгу In drei Stunden bist du nicht mehr da - Hans-Jürgen Kaiser - Страница 13

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Beim Aufräumen und Aussortieren fiel mir wieder die DVD in die Hände mit den digitalisierten Dias von unseren Reisen. Jahrelang hatte ich diese Arbeit vor mit hergeschoben, weil ich Respekt hatte vor dem Riesenberg an Arbeit und den Kriterien des Aussortierens.

Als erstes kamen die Bilder von unserem ersten Silvesterball im Park Hilton. Den hatte ich schon vergessen, so lange ist das her. Eine Fotografin lief zwischen den Tischen herum und fotografierte. Etwas abseits konnte man sich in Pose stellen. Diese Bilder. Wir machten was her, wie man so sagt. Ein schönes Paar. Du in einem smaragdgrünen, langen Abendkleid und ich in einem modern geschnittenen Smoking. Beide Kleidungstücke hatten wir eigens für diesen Ball gekauft. Ich erinnere mich, wie du beim Anprobieren in der Wohnung sagtest: „Hallo, junger Mann, Sie schauen gut aus im Smoking mit ihren schwarzen Haaren und den buschigen Augenbrauen.“

An unserem Tisch wurde eine Familie, Sinti oder Roma, mit zwei bildhübschen Töchtern platziert, ein Teppichhändler aus Frankfurt. Er hat uns gleich am Anfang seine Visitenkarte überreicht. Sie wohnten hier im Hotel. Zum Tanz spielte die Pepe Lienhard Big Band. Wir waren froh mit einer Liveband unsere Tanzleidenschaft einmal außerhalb des biederen Flairs der Tanzschule ausleben zu können. Die Familie an unserem Tisch tanzte nicht. Bei meinem Versuch, eine der beiden Töchter aufzufordern, senkte sie die Augen und blieb regungslos sitzen. Der Vater ließ sich von seinen Frauen bedienen. Sie brachten ihm die Speisen vom Buffet. Dazu trank er ein Pils nach dem anderen und zusätzlich eine Flasche Metaxa. Wir merkten es ihm nicht an, weder bei seinem Gang zur Toilette, noch bei den Gesprächen.

Nach drei Uhr hatten sich die Reihen merklich gelichtet, und wir genossen es, bei meinem Lieblingstanz Quickstepp ungestört über die Tanzfläche zu flitzen.

Die vielen Urlaubsbilder. In welche Stimmung sie mich transportierten. Traurig und schön zugleich. Die Reise nach Florenz, mit Zwischenstopp in Desenzano am Gardasee. Der Gardasee sollte noch oft unser Ziel sein, später, als es für dich immer beschwerlicher wurde zu reisen.

Ich hatte die Anzeige von Florenz im Reiseteil der Süddeutschen Zeitung entdeckt. Schon der Stil der Anzeige signalisierte eine gewisse Eleganz. Der Eingang der Parterrewohnung lag in dem Innenhof eines alten Miethauses, den wir durch eine geschmiedete Eisentüre betraten. Dort erwartete uns eine ältere, vornehme italienische Signora, die uns das Apartment mit den antiken Möbeln vorführte. Sie brauchte diese Einnahmen. Die Lage des Apartments war ideal, nur 15 Gehminuten von den Uffizien entfernt.

Von der Toskana fuhren wir weiter nach Umbrien, zu meinem Studienfreund Thomas. Auf dieser Strecke standen wir fast immer in einem Stau, und ich sagte zu Anna: „Bei der nächsten Tankstelle tanke ich voll, und wir gehen vorsichtshalber noch einmal auf die Toilette.“ Es war unser dritter Besuch bei Thomas in Umbrien. Anna sagte: „Bin gespannt, was er sich diesmal einfallen lässt. Die Fahrt zu dem aufgelassenen Kloster beim letzten Besuch war ja abenteuerlich.“ „Stimmt, wie auf einer Safari. Ich dachte schon, unser Auto bricht auseinander.“ Thomas hatte sehr geheimnisvoll getan. Wir sollten ihm einfach vertrauen und ihm nachfahren. Er fuhr auf der nicht asphaltierten Landstraße mit seinem uralten VW Variant vorneweg und die drei Autos mit seinen Gästen hinterher. An den geparkten Autos vor dem Kloster konnten wir erkennen, dass mehr Leute als nur seine Gäste teilnahmen. Mit geschätzten dreißig Leuten saßen wir an einer großen Tafel in einem Gewölberaum und ließen uns von sehr jungen Mädchen die Gänge-Menüs servieren. Unter der Hand wurde geraunt, es handele sich um ein nicht genehmigtes Restaurant, von der Mafia betrieben.

Nach dem Studium, noch bevor er sich um eine Stelle bewarb, hatte Thomas eine Erbschaft angetreten, mit deren Hilfe er in der Nähe von Preggio am Lago Trasimeno zwei Bergbauernhöfe kaufte, die damals noch erschwinglich waren, schön gelegen zwischen Assisi und Perugia. Als wir anreisten, zwei Jahrzehnte später, musste er sich mit Neureichen herumschlagen, die vor seinem Haus eine hohe Mauer als Sichtschutz errichten wollten. Immobilienfirmen hatten die Gegend entdeckt, renovierten die aufgekauften Bergbauernhöfe, bauten Swimmingpools, umzäunten ganze Anlagen und vermarkteten über das Internet die Objekte für Hunderttausende von Euro an reiche Ausländer.

In einem der Höfe residierte Thomas mit seiner Freundin, in dem anderen Hof hatte er vier Ferienwohnungen eingebaut. Du mochtest Thomas noch mehr als ich, glaube ich. Der Zeitgeist interessierte ihn nicht, er ging nie zum Arzt, sprach fließend italienisch, kochte sehr gut und war dem Wein zugeneigt. Spätestens ab dem Mittagstisch.

Seine Liebe auf den ersten Blick für Italien floss über die Jahre dahin und wurde in dem Meer der täglichen Realitäten etwas verwässert. Nicht nur die Bürokratie, manchmal nervten ihn auch die Verhaltensweisen. Bei unserem letzten Besuch, auf dem Weg zu einem Restaurant, machten wir kurz Halt an einer Apotheke. Er hatte ein Rezept, und ich wollte mir Aspirin kaufen. Vor uns stand eine alte Frau mit Kopftuch, die längst bedient worden war und sich immer noch lange mit der Apothekerin unterhielt. Thomas sagte zu mir auf Deutsch: „Die Italiener sind immer am Quatschen, ununterbrochen.“ „Über was denn?“ „Nur um des Quatschens willen. Warum die Tabletten rund sind und nicht viereckig.“

Wir hatten noch eine Woche vor uns. Allein in der Parterrewohnung. Die anderen Gäste, ebenfalls Freunde von Thomas, waren schon nach Deutschland zurückgereist. Das allein stehende Haus lag völlig abseits, am Ende eines Feldweges. Um Mitternacht, kurz vor dem Einschlafen, huschte ein Scheinwerferkegel über unser Fenster, und wir hörten ein Auto, das knirschend auf den Kieselsteinen des Parkplatzes zum Stehen kam. Vom Fenster aus konnte ich einen Kleinwagen erkennen, aus dem ein Pärchen stieg und in Richtung unseres Hauses lief. Sie nahmen, links neben unserem Eingang, die Treppe zur Wohnung im ersten Stock. Du fragtest, wie ich das einschätze. Ich sagte: „Keine Ahnung, vielleicht Gäste, die spät anreisen?“ „Aber das hätte er uns doch gesagt.“ Wir hörten Geräusche, wie Stühlerücken und das Plätschern der Dusche. An Schlaf war nicht mehr zu denken, bis gegen zwei Uhr morgens der Motor gestartet wurde und das Pärchen wieder wegfuhr.

Als ich unsere Beobachtung am nächsten Tag Thomas erzählte, musste er lachen. „Tut mir leid, aber ich habe vergessen, es mitzuteilen. Verglichen mit Deutschland ist das so eine Art Landrat. Er drückt bei meinen Schwarzbauten immer ein Auge zu. Dafür überlasse ich ihm mit seiner Geliebten die Ferienwohnung. Stundenweise.“

Vor unserer Abreise nach Umbrien hatte Anna in einem Antiquariat in Rosenheim ein Fresko mit einer nachgestellten erotischen Szene aus dem alten Pompeji entdeckt. Es war sehr teuer, und ich sagte: „Wir fahren bald nach Italien und können uns dort umschauen.“ Wir fanden dafür keine Zeit, und am vorletzten Tag fragte ich Thomas, ob er wüsste, wo wir so etwas finden könnten. In Assisi, in Perugia? Er verwies uns auf ein deutsches Künstler-Ehepaar, die etwas abgelegen, aber in der Nähe wohnten. Vielleicht könnten wir dort fündig werden. Die schmale, nicht asphaltierte Straße, gesäumt von Linden und Zypressen, führte zu einem kleinen Schlösschen auf einer Anhöhe. Auf halber Strecke residierte dieses Künstlerpaar, das sich einen Traum erfüllt hatte und vor zehn Jahren mit seinen Kindern nach Italien ausgewandert war. Auf dem Anwesen stand ein einstöckiges Bergbauernhaus und auf dem großen Gelände verstreut lagen schuppenartige Gebäude aus Holz. Wir hatten Glück, früher Nachmittag, die Sonne schien, und die ganze Familie saß an einem Tisch im Freien. Als wir aus dem Auto stiegen, stand die Künstlerin auf und lief uns entgegen. Von dem Anwesen aus hatten wir einen wunderbaren Überblick auf das ganze Tal und den Berg hinauf zum Schloss. Ich habe Lena, der Künstlerin, die Geschichte mit dem Fresko erzählt. Sie sagte: „Damit kann ich nicht dienen, aber ich kann euch gerne meine Arbeiten zeigen. Im ehemaligen Schweinestall habe ich mein Atelier eingerichtet.“ Wir haben uns alles angesehen, es waren interessante Sachen dabei, aber nichts was uns zusagte. Kurz bevor wir die Führung abrechen wollten, sah Anna zwischen zwei Regalen ein verpacktes, angestaubtes Bild. „Oh, das hatte ich schon ganz vergessen. Ein Frühwerk, packe ich gerne aus.“Ein Skarabäus, braunschwarz auf weißem Grund, 120 mal 120 Zentimeter. Das Bild gefiel uns sofort. Der Startschuss für unsere Kunstsammlung.

Wir saßen engumschlungen auf den Steinen des Forum Romanum und lachten entspannt in die Kamera. Keine Ahnung, wer uns damals fotografiert hat. Wir haben wohl andere Touristen darum gebeten. Es war dein Wunsch zu deinem 40. Geburtstag und mein Geschenk. Rom. Der Flug war teuer, es gab noch keine Billigflieger, keine Pubs in Trastevere, und niemand hat bei Junggesellenabschieden in die Brunnen gepinkelt.

Ein kleines verwunschenes Hotel am Ende einer kleinen Straße diente uns als Rückzugsort. Ein spartanisch eingerichtetes Zimmer mit einem französischen Bett und einem kleinen Kühlschrank. Den benutzten wir nur, um Mineralwasser kaltzustellen. Ansonsten bunkerten wir Rotwein und Plätzchen. Restaurants mit Flaggen der verschiedenen Länder und Speisekarten in mehreren Sprachen haben wir gemieden. Nur einmal, am ersten Tag, in der Nähe der Spanischen Treppe, saßen wir am Tisch mit einem reichen amerikanischen Ehepaar, das zweimal im Jahr nach Europa reiste und sich gewundert hat, dass wir nicht jeden Monat nach Paris fahren, wo das doch so nahe läge.

Danach fanden wir ein kleines Restaurant in der Nähe unseres Hotels, das von jungen Leuten betrieben wurde, die überhaupt kein Englisch sprachen. Wir bekamen aber immer leckere Sachen, und sie freuten sich, wenn wir wieder einkehrten. Beim Essen schaute alle zehn Minuten jemand von ihnen vorbei und fragte: „Okay, okay?“ und wir antworteten: „Va bene!“

Die aufgeklappten Rollläden schützten unser Zimmer vor der Augustsonne. Trotzdem war das Zimmer nachts, wenn wir heimkamen, noch sehr warm. Wir tranken Rotwein, duschten und legten uns nackt ins Bett, nur mit der dünnen, in Italien üblichen Bettdecke zugedeckt. Wir fühlten uns dabei wie Südländer und dachten, die machen das alle so. Alle Italiener und wir liegen im August immer nackt im Bett. Am Morgen standen wir spät auf, um mit den italienischen Angestellten um 10 Uhr in den Bars bei Café und Brioche zu frühstücken.

Unser entspannter Spaziergang über den Campo dei Fiori endete abrupt, als innerhalb von Minuten ein August-Gewitter mit einem totalen Platzregen über uns hereinbrach. Anna schaute sich um: „Da drüben, die Osteria, schnell, dorthin flüchten wir“. Hinter uns quetschte sich noch eine junge Frau in einem blauen Sommerkleid durch die Tür. Ein später Nachmittag, und in dem Restaurant hielten sich nur wenige Gäste auf. Wir wählten einen kleinen Zweiertisch am Fenster mit einem freien Blick auf den Marktplatz mit den herumrennenden Menschen, die Schutz in Geschäften und unter Vordächern suchten. Die junge Frau in dem Sommerkleid setzte sich zwei Tische von uns entfernt, nahm ein Buch aus ihrer Umhängetasche und legte es auf den Tisch. An einem größeren Tisch saß eine Familie, Eltern mit ihren drei Kindern. An der Theke, vor der Espressomaschine, gestikulierten zwei junge Männer und redeten sich lautstark in Rage. Wir hatten keine Ahnung, worum es ging. Eine Besonderheit fiel uns auf. Neben dem Eingang saß die Signora an einem Schreibtisch, rechts seitlich stand eine Kasse, neben der eine kleine, runde Metallplatte mit einem langen Stift platziert war, auf dem sich aufgespießte Bons sammelten. Ich sagte zu Anna: „Das ist sicher die Chefin.“

Der Kellner grinste uns an, als wollte er sagen, noch einmal Glück gehabt. Die junge Frau neben uns hatte schon bestellt, sodass wir annahmen, es gibt zu jeder Tageszeit etwas zu essen. Wir bestellten Mineralwasser, zwei Gläser Weißwein und Spaghetti Vongole. Der Regen prasselte immer noch auf den menschenleeren Marktplatz. Die Frau nebenan hatte sich inzwischen in ihre Lektüre vertieft, und wir vertrieben uns die Zeit mit Beobachtungen und der Durchsicht des Reiseführers, um noch eine neue Sehenswürdigkeit zu entdecken. Aber wir hatten alles abgeklappert.

Noch zwei Tage blieben uns, um den Resturlaub in Ruhe genießen zu können. Der Regen hatte nachgelassen und gegen Abend kamen vereinzelt Leute aus der Nachbarschaft, mit Regenschirm oder über den Kopf gezogene Jacken, um vorbestellte Pizzen oder Nudelgerichte abzuholen. Als ein gutaussehender junger Mann hereinkam, huschte ein Lächeln über das Gesicht der Chefin an dem Kassenschreibtisch. Er ging auf sie zu, küsste sie links und rechts auf die Wange, wechselte ein paar Worte mit ihr, bevor er sich hinter sie stellte und ihre Schultern massierte. Die Signora räkelte ihren Kopf nach links und rechts und schien es sichtlich zu genießen. Anna sagte: „Das scheint ihr Sohn zu sein. Das könntest du bei mir auch einmal machen, Jan.“ „Ja, gerne, aber dabei bleibt es vielleicht nicht.“

Als es aufhörte zu regnen, hatten wir gut zwei Stunden in der Osteria verbracht. Die Menschen strömten auf den Marktplatz zurück und erfüllten ihn wieder mit Leben, als sei nichts passiert. Wir beschlossen, nicht mit dem Bus zu fahren, sondern einen kleinen Spaziergang zu unserem Hotel zu machen. Anna sagte: „Im Moment habe ich noch keinen Hunger, aber mal schauen, vielleicht kehren wir unterwegs noch irgendwo ein. Was machen wir eigentlich die verbleibenden zwei Tage?“ „Für morgen habe ich Karten für die Gladiatorenkämpfe im Kolosseum. Sie kämpfen diesmal gegen Löwen. Wir sitzen in der ersten Reihe, und es gibt keine schützenden Zäune. Das ist der Gag bei dem Programm.“ „Wie schön, dass du immer alles organisierst.“ Sie gab mir einen Kuss und hakte sich unter. „Ich habe keine Angst, ich habe ja einen Tiger an meiner Seite.“

Die Dia-Serie war mit unserer Rom-Reise beendet. Bei dem letzten Bild saßen wir eng umschlungen auf der Spanischen Treppe. Ich schaltete den DVD-Player ab und stellte die DVD wieder ins Regal. Weitere Bilder von anderen Reisen hätte ich an diesem Abend nicht verkraftet.

In drei Stunden bist du nicht mehr da

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