Читать книгу In drei Stunden bist du nicht mehr da - Hans-Jürgen Kaiser - Страница 12
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„Anna, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ich habe keine große Lust darauf.“ „Jan, das macht total Spaß. Tanzen heißt Bewegung und körperliche Kommunikation. Paare, die tanzen, trennen sich seltener und leben länger.“ „Ich will gar nicht so lange leben.“
Wenn du eine Idee hattest, hast du immer dafür gebrannt. Dein Elan hat mich mitgerissen.
Der unscheinbare Eingang des ausgelagerten Tanzsaales lag in einer Einkaufspassage im Zentrum der Stadt. Die Treppe führte in einem Linksbogen nach unten in die Garderobe. Von dort gelangte man in den quadratischen Tanzsaal, an dessen Seiten kleine Tische mit Stühlen platziert waren. Die Wände waren braun und ockerfarben. An der Decke, in der Mitte, drehte sich bei einsetzender Musik eine silberne Discokugel, aus der Lichtblitze zuckten.
Die Paare standen unschlüssig herum; etwa die Hälfte schätzte ich älter ein als uns. Sofort aufgefallen ist mir ein sehr junges, schönes Pärchen. Als wir sie später näher kennenlernten, erzählten sie uns, dass sie für ihre Hochzeitsfeier tanzen lernten. Bevor es losging, stellte sich Sybille, die Tanzlehrerin vor. Ein hagerer, burschikoser Typ mittleren Alters. Vom Akzent her kam sie aus Norddeutschland. Statt Ferse benutzte sie den Begriff Hacke. „Beim Schritt nach vorne treten Sie mit der Hacke auf.“ Sie erklärte die Tanzschritte kurz und knapp. Um die Figuren als Paar vorzuführen, holte sie sich jemand aus den Reihen der Tanzschüler.
Nach der ersten Stunde sagte ich zu Anna auf dem Heimweg: „Ich finde alles ein bisschen spießig.“ „Jan, da müssen wir durch. Du wirst sehen, irgendwann macht es uns Spaß.“ Im Laufe der Zeit fanden wir tatsächlich Freude daran, und wir erwarben unsere nächste Urkunde, das deutsche Tanzabzeichen in Gold.
Danach tanzten wir in einer Hobbygruppe; jeden Samstag war Tanzparty. Beim Langsamen Walzer sagtest du einmal: „Allein wegen dieses Tanzes sollten wir heiraten. Wir sind das schönste Paar der Hochzeitsgesellschaft und eröffnen die Feier mit einem langsamen Walzer.“ Du liebtest, glaube ich, die Rumba am meisten. Langsame Musik zum Schwofen. Mein Lieblingstanz war der Quickstepp. Im Laufe der Wochen wiederholte sich die Musik, und wir konnten gleich loslegen. Booty Swing von Parov Stelar. Ich schnellte hoch. „Anna, Anna, schnell auf die Tanzfläche, Quickstepp“. Wir flogen durch den Raum, und du lagst in meinen Armen wie eine Feder.
Unser letzter Tanz. Heute Abend. „Lass uns gehen, wir nehmen ein Taxi“. Nach der Tanzparty tingelten wir durch die Bars, bis wir irgendwann in der Victoria-Bar hängen blieben. Sie wurde unsere Hausbar. Angenehmes Publikum unseres Alters, viele Kunstschaffende und Kreative. Jazz-Standards als Hintergrundmusik. Die Barkeeper und ein paar Stammgäste kannten uns schon. Wir reservierten zwei Plätze an einem kleinen runden Tisch und schauten noch vor Mitternacht vorbei, wenn es noch nicht so voll war und keine Gefahr bestand, dass unsere Reservierung von den anderen Gästen ignoriert wurde. Eines Nachts gesellte sich ein Gast zu uns. Er schnappte sich einen freien Stuhl und setzte sich an unseren Tisch. Er stellte sich als Stephan vor. „Ihre Körpersprache hat mich angezogen. Sie hat eine Harmonie, als ob Sie jede Distanz zwischen sich aufheben wollten.“ Ich sah ihn fragend an. „Woher haben Sie ein Auge für so eine Beobachtung?“ „Ich bin Kameramann von Beruf. Darf ich mal Ihre Berufe raten?“ Wir waren amüsiert. „Bitte, wir sind neugierig.“ Bei dir tippte er auf Journalistin, Feuilleton vielleicht, und bei mir auf Rechtsanwalt oder Chef einer Werbeagentur. Wir ließen ihn im Unreinen. Ich merkte, dass du dich geschmeichelt fühltest und dir der Typ gefiel. Schlank, mittelgroß mit längeren, grauen Haaren, schwarz gekleidet. Es entwickelte sich ein kleiner Flirt. Du hast gerne geflirtet und es genossen, wenn dich Männer attraktiv fanden. Zu der Zeit hattest du noch nicht diese bedingungslose Loyalität mir gegenüber. Ich glaube nicht, dass du mich jemals betrogen hast, aber wenn, dann mit einem sehr schlechten Gewissen. An diesem Abend wurde ich nicht nervös, aber ein bisschen eifersüchtig. Ich drängte darauf, etwas früher als sonst zu gehen.
Als wir in meinem Mietshaus im Parterre die erste Treppe hinaufgehen wollten, lag dort, über mehrere Stufen verteilt, ein fetter, blutiger Tunfisch von dem japanischen Sushi-Restaurant im Erdgeschoß. Um die Treppe hinaufzusteigen blieb uns keine Wahl als uns am Geländer festzuhalten und über den glitschigen Fisch zu steigen, bis ich links an der Wand noch einen kleinen, fußbreiten Abstand auf den Stufen entdeckte. Mit der linken Handfläche uns an der Wand abstützend, balancierten wir Fuß vor Fuß setzend an dem fetten Tunfisch vorbei.
In meiner Wohnung ließen wir uns auf die Couch plumpsen. „Anna, möchtest du noch einen Drink? Der Kameramann hat dir gefallen. Wenn du mich einmal betrügst, erschieße ich dich und deinen Liebhaber. Das ist dir doch klar.“ Du hast gelacht, „mach dir mal keine Sorgen, mein Lieber“, und bist mit deiner Hand durch mein Haar gefahren.
Die Dusche hatte mir gut getan. Ich stand vor dem Waschbecken und habe mir die Zähne geputzt, als du aus der Dusche herauskamst. „Anna, bleib mal stehen, ich trockne dich ab.“ Ich schnappte mir das große Badehandtuch, stellte mich hinter dich und fing bei den Schultern an, wischte über deine Brüste bis runter zu deinem Schritt und drückte das Handtuch leicht reibend zwischen deine Beine. Du hast den Kopf zu mir nach hinten gedreht und gefragt: „Hallo Tiger, hast du heute noch was vor? Ausnahmsweise?“
Nach unseren nächtlichen Touren am Samstag kamen wir immer sehr früh am Morgen zurück, waren angeheitert und müde, duschten den Schweiß weg, sanken ins Bett und schliefen sofort ein. Den Sex holten wir am Sonntagmorgen nach. Ein immer wiederkehrendes Ritual vor dem Frühstück.
Es hat sich mir eingeprägt.
Ich wache auf. Dein Platz ist nicht mehr belegt.
Die Vollkornsemmeln holte ich frisch vom Bäcker, dazu aßen wir Comté-Käse, lange gereift, weichen Ziegenkäse und Marmelade. Manchmal zusätzlich zwei Rühreier. Vorher immer ein Schälchen Obst. Dazu eine Kanne English Breakfast Tea.
Einige unserer Essgewohnheiten habe ich geändert. Werktags mache ich mir jetzt immer ein Porridge aus Hirsebrei. Aber werktags haben wir sowieso nie zusammen gefrühstückt.
Unsere Frühstücksgewohnheiten am Sonntag habe ich beibehalten Die Sonntage widme ich dir, unternehme nichts und halte viele Rituale aufrecht, auch den Internationalen Frühshoppen schaue ich an und esse am Abend Nudeln mit Gemüsesoße. Ich habe immer noch keine Lust, am Sonntag groß zu kochen.
Vielleicht verkläre ich meine Erinnerung, aber unser Begehren hat über die Jahre nie nachgelassen. Es gab Wochen, eine Woche, zwei Wochen, wenn ich oder du auf einer Dienstreise waren, wo wir uns nicht sehen konnten. Wir wollten nicht so lange warten, haben uns begehrt und uns per Telefon stimuliert. Ich lag quer über dem Hotelbett und hatte eine gute Technik entwickelt, den Telefonhörer zwischen meinem Ohr und der rechten Schulter einzuklemmen, damit beide Hände frei blieben.