Читать книгу Alstermorde: 9 Hamburg Krimis - Hans-Jürgen Raben - Страница 14
3. Kapitel
ОглавлениеGino Lazarro, seines Zeichens Chauffeur und Leibwächter eines gewissen Allessandro Tomaselli aus Palermo, der Hauptstadt Siziliens, fand sich in der für ihn neuen Umgebung problemlos zurecht. Er empfand Hamburg als eine Stadt, in der ihm kaum Gefahren drohten, anders als in seiner Heimat. Für Gefahren besaß er einen sechsten Sinn, doch der hatte sich hier noch nicht gerührt.
Zwar sprach er kein Deutsch, doch sein Englisch reichte für eine einfache Verständigung aus. Einen Leihwagen oder ein Flugticket zu buchen, ein Hotelzimmer zu reservieren oder ein Abendessen in dieser Sprache zu bestellen – das verstand auch in diesem Land jeder, besser vielleicht als in Italien.
Gino wickelte ein Sandwich aus der Plastikhülle und stellte den Kaffeebecher auf den Beifahrersitz. Er betrachtete das gepflegte Innere des BWMs. Er hatte schon unter weit schlimmeren Umständen sein Essen zu sich genommen.
Von Autos verstanden sie schon was – die Nachbarn im Norden. Andererseits: Gegen die Ferraris und Maseratis sah das schon wieder anders aus. Gino schätzte teure und schnelle Autos, auch wenn er sich privat nur einen Mittelklassewagen leisten konnte. Immerhin war sein Chef sehr großzügig, was die Anmietung von Leihwagen betraf, und so hatte er sich in Hamburg für einen BMW entschieden.
Bevor er sich seinem Abendessen widmete, prüfte Gino mit einem langen Rundblick die Umgebung. Der Parkplatz war gut gewählt, im Schatten einiger Bäume und gedeckt von anderen, eng beieinanderstehenden Fahrzeugen. Die nächste Straßenlaterne auf der gegenüberliegenden Seite war weit genug entfernt. Auf der Straße selbst waren kaum Fußgänger unterwegs, und nur wenige Autos passierten die Straße.
Überhaupt schien ihm diese Stadt viel ruhiger und friedlicher als das quirlige und lärmende Palermo. Es war sein erster Besuch in Hamburg. Die Stadt gefiel ihm, doch er würde sie niemals gegen seine Heimat Sizilien eintauschen wollen.
Das Ziel seines Interesses lag schräg gegenüber. Er hatte die gesamte Breite des Anwesens im Blick. Knapp rechts neben dem Haus stand eine Laterne, sodass er ausreichend Licht hatte, wenn es nötig wurde. Gino warf einen Blick auf die hochwertige Digitalkamera mit dem lichtstarken Objektiv, die ebenfalls neben ihm lag.
Entschlossen biss Gino in das Sandwich. Sofort verzog er das Gesicht und klappte das belegte Brot auf: Käse, Schinken, Gurkenscheiben und ein Salatblatt. Geschmacklich neutral, würde man wohlwollend sagen. Immerhin sah alles frisch und sauber aus. Er erinnerte sich an ein ähnliches Sandwich in Neapel. Zwischen Käse und Schinken hatte er eine zerquetschte Fliege entdeckt.
Danach hatte der Gastwirt einen gebrochenen Kiefer. Gino gluckste leise. Seine rechte Hand hatte allerdings noch eine Woche geschmerzt.
Er betrachtete sein aktuelles Sandwich. Es half nichts, er hatte Hunger, und hier gab es weit und breit keine Alternative. Er klappte das Sandwich wieder zusammen und biss erneut hinein.
In Palermo hätte man ihm ein frisch gemachtes Sandwich serviert. Dort war er ein respektierter Mann, und jeder wusste, in wessen Diensten er stand. Allessandro Tomaselli war nicht irgendwer in Siziliens Hauptstadt. Er besaß sehr viel Einfluss auf der Insel, auch wenn er das nicht öffentlich zur Schau stellte.
„Der Erfolg des einen zieht den Neid der anderen nach sich“, hatte er Gino erklärt. „Aus Neid wird rasch Feindschaft, und plötzlich steht ein Typ mit einer abgesägten Schrotflinte neben dir.“
Oh ja, sein Chef wusste immer, was zu tun war, und er hatte ihm auch diesmal genaue Anweisungen gegeben.
Gino packte die Hälfte des Sandwichs wieder ein. Er würde später bestimmt erneut Hunger bekommen. Jetzt war Zeit für eine Zigarette.
Nur eines vermisste er bei diesem Einsatz schmerzlich: seine Lieblingswaffe, eine Beretta 92 im Kaliber neun Millimeter. Es wäre unmöglich gewesen, sie bei den heutigen Sicherheitsmaßnahmen im Flugverkehr einzuschmuggeln. In Palermo war sie wie ein unentbehrliches Kleidungsstück für ihn.
Gino wusste, dass die Firma Beretta seit fast fünfhundert Jahren existierte. Damals wurden Büchsenläufe für das Arsenal in Venedig hergestellt. Es handelte sich um das älteste Rüstungsunternehmen der Welt und war immer noch im Besitz der Gründerfamilie. Eine solche Tradition sollte doch eine Gewähr für eine hervorragende Waffe sein.
Gino lächelte still und widmete seine Aufmerksamkeit dem Haus gegenüber.
*
Amir Al-Farad studierte den schmierigen Zettel in seiner Hand. Dann hob er den Kopf, um den Namenszug über der Ladenfront zu entziffern. Das Lesen der Buchstaben in einer fremden Sprache war ihm schon immer schwergefallen.
Amir atmete erleichtert aus. Er war an der richtigen Adresse.
Es war ein weiter Weg gewesen, bis er endlich hier angekommen war. Seine Familie hatte gespart, um ihm die Reise nach Hamburg zu ermöglichen. Den letzten Teil des Weges hatte er zu Fuß zurückgelegt, vom Hauptbahnhof den Steindamm hinunter bis zu diesem Gemüsehandel, der einem Onkel von ihm gehörte, einem der jüngeren Brüder seiner Mutter.
Er hatte Abdullah noch nie persönlich getroffen, doch seine Mutter hatte ihm ein Schreiben mitgegeben, das er ihm aushändigen sollte. Dann würde er jede Hilfe bekommen, die er brauchte.
Abdullah lebte bereits seit fast fünfzehn Jahren in Hamburg, und seine Mutter hatte ihm erzählt, dass sich sein Onkel in der deutschen Großstadt sehr wohl fühlen würde. Er war bereits als junger Mann ausgewandert und hatte erst in Deutschland geheiratet. In Kairo hatte er für sich keine Chancen auf einen gut bezahlten Arbeitsplatz und ein erfolgreiches Leben gesehen. Also hatte er damals schweren Herzens seine Heimat verlassen.
Vor dem Laden stapelten sich zu beiden Seiten der geöffneten Eingangstür zahlreiche Kisten mit Gemüse und Obst. Alles war hübsch dekoriert und sah sehr frisch aus. Es war zu vermuten, dass die Leute, die hier kauften, darauf auch Wert legten. Zwei Frauen mit Kopftuch begutachteten die Ware. Eine weitere Frau mit Einkaufstaschen in beiden Händen kam aus dem Laden und drehte den Kopf zur Seite, als sie ihn sah.
Amir gab höflich den Weg frei und senkte den Blick. Er wusste aus seiner Heimat, dass man Frauen nicht anstarren durfte.
Er wartete, bis die Frau vorbeigegangen war, dann betrat er den Laden.
Sein Onkel saß an der Kasse gleich neben der Tür und befestigte eine Papierrolle für die Belege, wobei er leise in seiner Muttersprache fluchte. Amir erkannte ihn sofort. Seine Mutter hatte ihren Bruder genau beschrieben. Klein und untersetzt, ein kugelrunder, fast kahler Kopf und ein gewaltiger Schnauzbart.
„Abdullah?“
Der Mann hob den Kopf und sah ihn fragend an.
„Wer will das wissen?“, fragte er auf Deutsch zurück.
„Ich bin Amir, der Sohn deiner älteren Schwester“, entgegnete der junge Mann in seiner Muttersprache.
„Amir?“ Sein Onkel sah ihn unschlüssig an.
„Hier, das hat mir meine Mutter mitgegeben.“
Er zog ein zusammengefaltetes Schreiben aus seiner Jacke und reichte es seinem Onkel. Als Abdullah es überflog, wurde sein Lächeln immer breiter.
Er stemmte sich aus seinem Stuhl hoch, ging um den kleinen Tresen herum, breitete die Arme aus und drückte Amir fest gegen seine Brust.
„Mein Neffe! So sehe ich dich jetzt zum ersten Mal! Das ist eine große Freude für mich. Du wirst mir viel aus der Heimat zu erzählen haben.“
Er gab einer seiner Angestellten einen Wink, die daraufhin seinen Platz an der Kasse einnahm.
„Komm mit nach oben. Unsere Wohnung liegt direkt über dem Laden. Meine Frau ist heute mit den Kindern den ganzen Tag bei ihrer Familie. Wenn sie zurückkommen, werden sie sich ebenfalls freuen, dich zu sehen.“
Hoffentlich, dachte Amir.
Sie verließen den Laden durch einen Seiteneingang, der auf einen etwas düsteren Hausflur mündete. Eine Treppe führte nach oben.
„Wir hatten Glück mit diesem Laden“, erklärte sein Onkel. „Er gehörte einem Türken, der in seine Heimat zurückwollte und der einen Nachfolger für sein Geschäft suchte. Ich habe sofort zugegriffen, weil auch eine geräumige Wohnung dazugehörte, die genügend Platz für die Familie bietet.“
Er sah seinen Neffen fragend an. „Du wirst sicher bei uns wohnen wollen.“
„Ich bleibe nicht lange, nur ein paar Tage.“
Abdullah nickte. „In meinem Arbeitszimmer steht eine Couch. Darauf kannst du schlafen. Für ein paar Tage wird es schon gehen. Du kannst auch mit uns essen. Meine Frau kocht sehr gut, du wirst schon sehen.“
„Wie viele Kinder hast du?“
„Zwei Mädchen, zehn und zwölf Jahre alt. Sie sind etwas schüchtern, also wundere dich nicht, wenn sie dir nicht gleich um den Hals fallen.“
Sie hatten die Wohnungstür im ersten Stock erreicht, und Abdullah schloss auf. An den Flur schloss sich gleich rechts eine große Küche an. Amir nahm am Esstisch Platz, der die Mitte des Raumes einnahm, während sein Onkel einen Kaffee zubereitete.
Amir sah sich aufmerksam um. Die Küche war hell und freundlich, die Möbel relativ neu, und es gab eine ganze Reihe großer und kleiner Elektrogeräte. In der Küche seiner Mutter gab es nur einen Kühlschrank, uralte Möbel und einen zerkratzten Esstisch. Seinem Onkel schien es gut zu gehen.
„Deine Mutter hat geschrieben, dass du wegen einer wichtigen Angelegenheit nach Hamburg gekommen bist. Sie hat mich gebeten, dir zu helfen, soweit ich kann. Was führt dich also in diese Stadt?“
Abdullah bereitete in einer kleine Kupferkanne Kaffee zu und stellte die Kanne auf ein ebenfalls kupfernes Tablett, auf dem schon zwei winzige henkellose Tassen standen und brachte das Ganze zum Tisch.
Amir kramte in seiner Reisetasche und brachte schließlich einen Zettel zum Vorschein, den er über den Tisch schob.
„Ich suche diesen Mann.“
„Diefenbach“, las Abdullah laut vor. „Markus Diefenbach.“
Er sah auf. „Wer ist das?“
„Ein Mann, mit dem ich unbedingt sprechen muss. Er kannte früher meinen Vater und hat uns mehrmals in Kairo besucht. Er handelt mit Antiquitäten – jedenfalls hat er das damals getan. Ich weiß nicht, ob er noch in Hamburg wohnt oder ob er überhaupt noch lebt. Meine Mutter hat mir nur gesagt, dass ich hier mit meiner Suche beginnen soll. Und du könntest mir dabei helfen.“
Abdullah runzelte die Stirn. „Wenn dieser Mann immer noch Händler ist, müsste er im Telefonbuch stehen. Sehen wir doch mal nach.“
Er öffnete eine Schublade und zog ein dickleibiges Buch heraus. Er legte es auf den Tisch und begann zu blättern. Als er die richtige Seite gefunden hatte, glitt sein Finger suchend über die Spalten, bis er innehielt.
„M. Diefenbach“, sagte er. „Das müsste er sein. Er wohnt in der Abteistraße oder hat dort seinen Laden. Es gibt nur eine Nummer.“
Amir drehte das Telefonbuch zu sich herum. „Ja, ich denke, das ist er. Einen richtigen Laden hat er damals auch nicht gehabt. Er hat seine Waren auf Messen oder über Auktionshäuser verkauft, hat mir meine Mutter erzählt.“
„Wie kann man als Händler keinen Laden haben?“, wunderte sich sein Onkel.
Amir lächelte. „Im Gemüsehandel wäre das auch schwierig.“
Sie lachten beide.
„Was wirst du jetzt tun?“, fragte Abdullah schließlich.
„Ich werde ihn besuchen.“
„Aber nicht heute Abend. Heute werden wir alle zusammen essen. Du wirst meine Familie kennenlernen und dich anschließend ausruhen. Morgen kannst du dann das tun, weswegen du hergekommen bist.“
Amir nickte. „Das ist sehr freundlich von dir.“
Er kramte wieder in seiner Reisetasche. „Ich habe dir noch etwas mitgebracht.“
Er zog ein kleines Päckchen heraus, das in Seidenpapier gewickelt war, und drückte es Abdullah in die Hand.
Sein Onkel schlug das Papier zur Seite und enthüllte ein Foto in einem Silberrahmen.
„Meine Schwester“, flüsterte er nach einer ganzen Weile, und Amir sah, dass über die Wange seines Onkels eine Träne rollte.
*
Josef Moosbacher stierte trübsinnig in sein Glas Chardonnay, das vor ihm auf dem blitzsauberen Tresen der kleinen Bar im Hamburger Hotel Vier Jahreszeiten stand. An sich trank er tagsüber keinen Alkohol, doch durch die aktuellen Umstände war sein normales Leben aus den Fugen geraten.
Er war schon häufiger in Hamburg gewesen, doch immer nur in Begleitung seiner Frau Thekla. Sie waren immer im gleichen Hotel abgestiegen. Thekla hatte darauf bestanden. Das Hotel Vier Jahreszeiten läge zentral und böte einen hervorragenden Blick über die Alster, hatte sie argumentiert.
Und kostet ein Vermögen, hatte er gedanklich hinzugefügt.
Nun ja, sie verfügten über genügend Geld, um sich ein solches Quartier leisten zu können, doch Josef war in bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen und hatte sich nie daran gewöhnen können, Geld für Dinge auszugeben, die man auch wesentlich billiger haben konnte.
Sein Handy, das vor ihm auf dem Tresen lag, summte leise. Er warf einen Blick auf das Display. Ihr Anwalt.
Josef sah sich in dem kleinen Raum um. Er war der einzige Gast. Der Barkeeper war hinausgegangen, würde aber vielleicht gleich zurückkehren. Er nahm sein Glas, rutschte von dem runden ledergepolsterten Barhocker und stieg die geschwungene Treppe zu einer kleinen Empore hoch. Er setzte sich an einen der runden Tische und sah kurz zum Fenster hinaus. Der Blick auf die Binnenalster war durch eine Baumreihe auf der anderen Straßenseite zum größten Teil versperrt.
Er tippte auf das Display und hielt das Handy an sein Ohr. „Moosbacher.“
„Grüß Gott. Schön, dass ich Sie erreiche.“
Die Stimme des Anwalts klang ein wenig hektisch.
„Was ist mit meiner Frau?“, fragte Josef, ohne sich mit Formalitäten aufzuhalten. „Ist sie wieder zu Hause?“
Der Anwalt klang jetzt betrübt. „Leider nein.“
„Wird sie etwa noch festgehalten?“
„Ja, das wird sie“, entgegnete der Anwalt. „Ihre Frau wurde wegen des Verdachts auf illegalen Handel mit Antiquitäten, Kunstfälschung, Geldwäsche und Steuerhinterziehung vorläufig festgenommen.“
„Das ist doch nicht möglich“, flüsterte Josef Moosbacher verzweifelt.
„Nachdem Sie abgereist waren, wurde Ihr Haus erneut durchsucht“, erklärte der Anwalt. „Ich habe erfahren, dass man dabei einen weiteren Raum im Keller gefunden hat, der bei der ersten Durchsuchung übersehen worden war. Man hat mir nicht gesagt, was genau dort entdeckt wurde, jedoch wurde ich davon in Kenntnis gesetzt, dass eine Anklage auf jeden Fall erfolgen wird. Ich habe versucht, Ihre Frau freizubekommen. Das wurde jedoch mit der Begründung abgelehnt, dass Sie bereits verschwunden waren und demzufolge Fluchtgefahr bestünde.“
„Fluchtgefahr?“
Josef sank in sich zusammen. Er spürte, wie er sein Weinglas umklammert hielt und löste vorsichtig seinen Griff, ehe es zerbrach.
„Was jetzt?“, brachte er mühsam heraus. „Kann ich mit meiner Frau telefonieren?“
„Ich fürchte, das wird nicht möglich sein. Doch ich tue, was ich kann.“ Es klang hilflos.
„Verdienen Sie das Geld, das wir Ihnen zahlen!“
Josef Moosbacher unterbrach die Verbindung und starrte die Tischplatte minutenlang an.
Wenn es wirklich dieser Dreckskerl Diefenbach war, der uns diese Katastrophe beschert hat, dann wird er dafür büßen.
Josef knirschte mit den Zähnen und ballte die Fäuste.
Oh, ja. Das wird er!
*
Markus Diefenbach betrachtete bewundernd sein Werk: einen Kaufbeleg für drei assyrische Rollsiegel mit der dazu gehörenden Ausfuhrgenehmigung, beide Dokumente angeblich in Bagdad ausgestellt, zu einer Zeit, da der Irak noch britisches Mandatsgebiet war. Insofern würde sich niemand wundern, dass die Papiere in englischer Sprache verfasst waren. Eine Fälschung in arabischer Sprache hätte er sich nicht zugetraut.
Die drei Siegel lagen nebeneinander auf der Schreibtischplatte: nur wenige Zentimeter lange zylinderförmige Objekte, in der Längsachse durchbohrt, um sie besser abrollen zu können. Alle drei waren aus Achat gefertigt. Das umlaufende Relief im Tiefschnitt war jedoch keine handwerkliche Meisterleistung.
Markus Diefenbach musste grinsen. Wären sie echt gewesen, hätte ihr Alter bei über dreitausend Jahren gelegen, und die Ausführung hätte wesentlich feiner gewirkt. Der Preis wäre auch entsprechend gewesen. Er hatte die Siegel von einem Händler aus Istanbul erworben, hergestellt waren sie vermutlich in einer Hinterzimmer-Werkstatt in Beirut.
Die gefälschten Dokumente würden bei seinem Kunden alle Zweifel beseitigen, da war er sich sicher. Schließlich waren seine Fälschungen besser als die der eigentlichen Objekte.
Die Fälschungen alter Dokumente waren kein Problem für ihn, seit er auf dem Dachboden seines eigenen Hauses in der Hinterlassenschaft seines Großvaters eine uralte Schreibmaschine sowie einen dicken Packen Schreibpapier aus den zwanziger Jahren gefunden hatte. Vorlagen für die Dokumente und Stempel fand er in Bibliotheken und im Internet. Er wusste, dass viele Fälschungen bereits am Papier scheiterten. An seinen Produkten hatte noch nie jemand Anstoß genommen. Fälschungen neuerer Dokumente waren zwar leichter, wirkten aber lange nicht so überzeugend wie die alt aussehenden Papiere.
Die Rollsiegel wirkten immerhin echt genug. Er hatte bereits einen Käufer für die Objekte, einen Privatsammler, der ohnehin nicht zu viele Fragen stellte. Markus Diefenbach hielt nicht sehr viel von seinen Käufern, die seiner Meinung nach ohnehin keine Ahnung hatten und ein echtes Stück nicht von einem gefälschten unterscheiden konnten.
Sein Risiko beim Verkauf dieser Dinge schätzte er nicht als hoch ein. Die Käufer würden ihn kaum anzeigen, wenn sie eine Fälschung entdeckten. Denn in der Regel hatten sie überwiegend mit Schwarzgeld bezahlt. Er hatte in dieser Richtung bisher keine Probleme gehabt.
So, jetzt musste er noch ein bisschen bei der Alterung nachhelfen, und das Papier war fertig. Das hatte aber bis morgen Zeit. Markus Diefenbach grinste in sich hinein und war mit sich zufrieden.
Er sah auf seine teure Uhr. Es wurde Zeit, denn er wurde erwartet. Er schluckte, als er daran dachte, was er bald alles mit seinem Gast anstellen würde.
Hier, im Salon, wie er diesen Raum nannte, fühlte er sich sicher und glücklich. Der Raum nahm an der Rückseite fast die ganze Breite des Gebäudes ein. Hier empfing er seine Kunden, hier hatte er seine Waren ausgestellt, zumindest die legalen: Replikate von antiken Kunstwerken wie ägyptische Katzen aus Bronze, griechische und römische Statuetten aus Marmor und Alabaster, westafrikanische Masken oder chinesisches Porzellan.
Der sogenannte Salon war ziemlich vollgestellt. Er wusste, dass es nicht sonderlich geschmackvoll war, aber er fühlte sich hier wohl. Und seine Gäste waren immer schwer beeindruckt, vor allem die, die nur ein einziges Mal hier sein durften.
Offiziell war der Verkauf dieser Kopien sein einziger Broterwerb, soweit es seine Einkommenssteuer betraf. In Wirklichkeit verdiente er sein Geld mit illegal erworbenen Kunstwerken oder mit Fälschungen, die er auf Antikmessen oder in seinen privaten Räumen an den Mann brachte. Und er verdiente gut damit!
Das über hundert Jahre alte Stadthaus in der Hamburger Abteistraße war von seinen Vorfahren erbaut worden. Jetzt gehörte es ihm, nun, nicht ganz – seine jüngere Schwester wohnte in der zweiten Etage, und ihr gehörte die Hälfte des Hauses, auch wenn sie ihm den größeren Teil für sein Geschäft und seine Wohnung überlassen hatte. Sie besaß einen Buchladen in Eppendorf. Für seine Antiquitäten hatte sie nur ein geringes Interesse, und es kümmerte sie kaum, was er so alles trieb.
Ihre Wohnung besaß einen eigenen Eingang an der Seite des Hauses, sodass sie sich nicht ständig über den Weg liefen. Ihm war das nur recht, denn auch seine Schwester musste nicht unbedingt etwas von seinen unsauberen Geschäften erfahren. Er war sich nicht ganz sicher, was sie darüber wusste oder nicht. Doch sie würde ihn bestimmt nicht verraten.
Nach dem Tod ihrer Eltern hatten sie die entsprechenden Umbauten vorgenommen. Sogar ein winziger Lift in die zweite Etage war eingebaut worden, um seiner Schwester das Treppensteigen zu ersparen. Auch wenn ihr Vater mit seinem Vermögen großzügig umgegangen war, so erlaubte ihnen das Erbe dennoch einen gehobenen Lebensstandard.
Nach dem Abitur hatte Markus Diefenbach nicht gewusst, was er nun tun sollte. Also hatte er zunächst ein paar Semester Kunstgeschichte studiert. Dann hatte ihn die teilweise noch vorhandene Hinterlassenschaft seines Großvaters auf die Idee gebracht, sich im Kunsthandel zu versuchen. Überraschenderweise hatte er Gefallen an dieser Tätigkeit gefunden, bis er begriff, dass sich mit illegalen Praktiken noch sehr viel mehr Geld verdienen ließ.
Inzwischen besaß er einen gewissen Kundenkreis, hatte Lieferanten gefunden und betrieb einen schwunghaften Handel mit echten oder angeblich echten Antiquitäten. Neue Kunden fand er auf Antikmessen, auf denen er vertreten war. Die Replikate verkaufte er auch über den Online-Handel. Einen gewissen Umsatz musste er gegenüber dem Finanzamt nachweisen, sonst hätte man sein Geschäft als Hobby eingestuft.
Markus Diefenbach sah auf, als ihn ein kühler Luftzug streifte. Die Tür zur Terrasse war noch geöffnet, doch auch die Sommernächte konnten in Hamburg recht kalt sein. Er sah erneut auf seine Uhr. Es war schon spät. Dann öffnete er den Verschluss des Armbandes und streifte die massiv goldene und mit Diamanten besetzte Uhr von Chopard vom Handgelenk. In den nächsten Stunden würde er die sicher nicht brauchen. Sie würde wohl eher stören. Achtlos ließ er das teure Stück auf die Schreibtischplatte fallen.
Er stand von seinem Schreibtisch auf und schloss die Tür. Vor dem dunklen Hintergrund des Gartens hinter dem Haus spiegelte er sich in der bis zum Boden reichenden Glasscheibe.
Er war mit seinem Aussehen zufrieden. Markus achtete auf sein Äußeres, und seine Körperpflege nahm einen gewissen Teil seiner Zeit in Anspruch.
Er lächelte sein Spiegelbild an. Über einem weißen T-Shirt und seinen eng geschnittenen Bermuda-Shorts trug er eine lange blaue Seidenjacke mit aufgestickten goldfarbenen Drachen. Sie stammte von einem Schneider aus Hongkong. Er drehte sich langsam um seine Achse und sah bewundernd zu, wie der große Drache in der Bewegung fast lebendig wirkte.
Während der Drehung fiel sein Blick auf die Vitrinen, Schränke und Regale, die an den Wänden des Raumes standen. Er ging zu einer Anrichte hinüber, auf der ein Marmorkopf ausgestellt war: der Kopf einer griechischen Göttin, fast lebensgroß, eines seiner Lieblingsstücke. Die Augen fehlten, und der Sockel war ergänzt, doch der Kopf war echt.
Leider stammte er aus einer Raubgrabung an der kleinasiatischen Küste, auch wenn das schon lange her war. Heutzutage wurde es immer schwieriger, solche Stücke an den Mann zu bringen. Ohne eine gefälschte Herkunftsbezeichnung war so ein Kunstobjekt schwer verkäuflich.
Markus Diefenbach hatte sie vor zwei Jahren von Thekla Moosbacher erworben. Er musste grinsen, wenn er an die alte Hexe dachte, die versucht hatte, ihn über den Tisch zu ziehen.
Er würde zu gern ihr Gesicht sehen, wenn die Polizei plötzlich auf ihrer Schwelle stand, um einer anonymen Anzeige nachzugehen. Er hatte kein Mitleid. Die Schlampe hatte es verdient!
Dann fiel sein Blick auf den Dolch. Damit hatte alles angefangen. Er streckte die Hand aus und nahm die alte Waffe aus der Halterung, mit der sie an der Wand befestigt war. Er erinnerte sich, dass ihn der Dolch, den sein Großvater aus Ägypten mitgebracht hatte schon als Kind beeindruckte. Damals hatte er ihn jedoch nicht in die Hand nehmen dürfen.
Johannes Diefenbach hatte dieses große Haus ganz allein bewohnt. Markus war nicht oft hier gewesen, denn wie sein Vater ihm erklärt hatte, schätzte sein Großvater Besucher nicht sonderlich und blieb lieber allein. Er sei ein Eremit, hatte sein Vater gesagt, und Markus hatte damals keine Ahnung, was dieses Wort bedeutete.
Der Großvater war gestorben, als Markus sich auf sein erstes Schuljahr vorbereitete, und das nahm seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Er wohnte mit seiner Familie am Eppendorfer Baum, ganz in der Nähe der Abteistraße. Nach dem Tod des Großvaters zogen sie in dessen großes Haus, und endlich konnte er diesen Dolch zum ersten Mal berühren.
Markus Diefenbach war sich sicher, dass damit der Grundstein zu seiner späteren Karriere als Kunsthändler gelegt worden war.
Eine zornige Stimme rief etwas Unverständliches aus dem oberen Stockwerk.
Er riss sich gewaltsam aus seinen Gedanken und blickte zur Treppe hinüber, die nach oben zu seinem Schlafzimmer führte, in dem er heute Nacht nicht allein sein würde. Auf dem kleinen Tisch am Fuß der Treppe stand ein silbernes Tablett mit zwei Gläsern und einer Flasche Rotwein. Ob sein Gast den teuren Wein zu würdigen wusste? Vielleicht mochte er keinen Wein. Egal, darauf kam es nicht an.
Er legte den Dolch auf den Schreibtisch und ergriff das Tablett.
Er spürte, wie seine Erregung wuchs. Seine Augen bekamen einen fiebrigen Glanz, und er begann, heftig zu atmen.
Es wurde Zeit, nach oben zu gehen.
Es würde eine aufregende und einmalige Nacht werden. Davon war Markus absolut überzeugt.