Читать книгу Alstermorde: 9 Hamburg Krimis - Hans-Jürgen Raben - Страница 16
4. Kapitel
ОглавлениеWenn Hauptkommissar Cornelius Brock die monumentale Freitreppe zum Haupteingang des Hamburger Polizeipräsidiums emporstieg, empfand er sich gelegentlich als Bestandteil einer überdimensionalen Operninszenierung: rechts und links die sechsstöckigen Flügelbauten, zwischen denen die Treppe zum verglasten Eingang des Zentralbaus führte, davor die Stahlkonstruktion, die einem riesigen Fußballtor glich und die das gläserne Vordach stützte.
Von oben glich der Bau einem Seestern oder – wie manche meinten – einem Polizeistern. Brock dachte dagegen eher an einen Gefängnisbau mit seinem Rundbau in der Mitte und den nach außen gerichteten Flügeln. Im Inneren allerdings erinnerte nichts an ein Gefängnis.
Cornelius Brock fühlte sich nach seinem freien Tag, der eigentlich ohnehin ein Sonntag war, und einem guten Frühstück mit seiner Freundin ausgesprochen gut gelaunt. Dennoch schien ihm eine leise Stimme in seinem Inneren zuzuflüstern, dass dieser Zustand bei einem leitenden Ermittler des Fachkommissariats Tötungsdelikte – in der offiziellen Bezeichnung LKA 41 genannt – nicht lange anhalten würde. Im Hamburger Stadtstaat war die städtische Polizeibehörde gleichzeitig das Landeskriminalamt, das vor über dreißig Jahren gegründet wurde, um der wachsenden Kriminalität besser begegnen zu können.
Er nahm die Treppe nach oben. Mit seinen vierzig Jahren fühlte er sich voller Energie, und er tat auch viel dafür, dass seine Fitness nicht nachließ.
Seine Laune sank etwas, als er daran dachte, dass während des freien Tages die lieben Kollegen, die Dienst hatten, seinen Schreibtisch ganz sicher mit allerlei Papier zugemüllt hatten. Büroarbeit lag ihm überhaupt nicht. Es gab andere Kollegen, die ihren Sessel am liebsten nur verließen, um in die Kantine zu gehen.
Dann dachte er wieder an die letzte Nacht mit Julia, und seine Laune wurde sofort wieder besser. Julia Klein war Zollinspektorin im Hamburger Hafen, und er hatte sie vor einiger Zeit während einer Fortbildungsveranstaltung für Angehörige der Sicherheitsbehörden kennengelernt. Nicht nur die schlanke, sportliche Gestalt der Mittdreißigerin mit der brünetten Mähne auf dem Kopf hatte ihn fasziniert. Vor allem hatten die mandelförmigen Augen in dem schmalen Gesicht ihn in ihren Bann gezogen. Als sie sich das erste Mal unterhielten, hatte er sofort bemerkt, dass sie nicht nur über ein anziehendes Äußeres verfügte, sondern auch einen scharfen Verstand besaß.
Inzwischen hatten sie sich ganz gut näher kennengelernt, und sie verstanden sich mit jedem Treffen immer besser. Cornelius Brock, der nach der Scheidung von seiner Frau einige Mühe mit neuen Beziehungen hatte, fühlte sich in ihrer Nähe äußerst wohl, und ihr schien es ebenso zu gehen.
Als er das Großraumbüro betrat, verschwanden die angenehmen Gedanken, um den Anforderungen des Alltags Platz zu machen. Die üblichen Geräusche von Gesprächsfetzen, klingelnden Telefonen, von Computertastaturen und Druckern nahm er kaum wahr. Ungewöhnlich war nur, dass sein Assistent, Kommissaranwärter Horst Spengler, mit aufgeregtem Gesichtsausdruck losstürzte, um ihn noch an der Tür abzufangen.
„Gut, dass Sie kommen, Herr Hauptkommissar. Wir müssen gleich wieder los.“
„Auch Ihnen einen guten Morgen, Spengler.“
Der junge Kommissaranwärter lief rot an. „Entschuldigung, Herr Hauptkommissar. Es ist nur so, dass ...“
Brock hob die Hand. „Jetzt mal der Reihe nach. Was ist passiert?“
„Der Polizei wurde ein Mord in der Abteistraße gemeldet.“
„Ein Mord?“, unterbrach Brock. „Der Rechtsmediziner stellt normalerweise fest, ob es sich um einen Mord handelt.“
„Das ist schon richtig, doch in diesem Fall gab es für die Schwester keinen Zweifel.“
Brock wurde leicht ungehalten. „Welche Schwester, und wieso gab es keinen Zweifel für sie?“
„Die Schwester des Toten. Sie hat ihn gefunden und sofort die Polizei angerufen. Sie hat berichtet, dass aus der Brust ihres Bruders ein Messergriff ragt. Ein Streifenwagen hat die Entdeckung der Frau bestätigt, und dann kamen die Kollegen vom Kommissariat Mitte. Die wiederum haben bei unserer Chefin angerufen und darum gebeten, dass wir uns um den Fall kümmern. Die Kollegen meinten, es sähe alles nach einem Fall aus, der starkes Interesse bei den Medien hervorrufen würde.“
Spengler schwieg und atmete schwer, als hätte er sich mit dieser Aussage völlig verausgabt. Der Kommissaranwärter war mittelgroß, schlank und sportlich. Aus seinen sanften braunen Augen blickte er seinen Vorgesetzten hilfesuchend an. Wie immer war er gut frisiert und korrekt gekleidet. Doch im Moment fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut.
„Mit anderen Worten: Die lieben Kollegen wollen sich nicht die Finger verbrennen.“
Spengler nickte. „Die Erste Hauptkommissarin hat mich gleich heute Morgen zu sich gerufen und mir mitgeteilt, dass Sie zusammen mit mir den Fall übernehmen sollen.“
Die Erste Hauptkommissarin – das war Birgit Kollmann, Chefin der Abteilung und Vorgesetzte von Brock. Sie waren ein eingespieltes Team, und Brock konnte sich jederzeit darauf verlassen, dass sie ihm den Rücken freihielt.
„So, so, hat sie das ...“
Brocks Blick ging sehnsüchtig zu seinem Schreibtisch hinüber. Es lagen weniger Papierstapel darauf, als er befürchtet hatte. Gern hätte er jetzt dort ein paar Stunden verbracht, doch daraus würde nichts werden.
„Gehen wir“, sagte er. „Sie fahren. Ich nehme an, Spurensicherung und Rechtsmedizin sind bereits verständigt?“
Spengler nickte. „Die sind unterwegs und wahrscheinlich schon vor uns dort.“
Sie brauchten fast eine halbe Stunde bis zur Abteistraße. Spengler parkte ihren Wagen neben dem Fahrzeug der Spurensicherung halb auf dem Gehsteig direkt vor dem Haus, in dem der Mord geschehen war.
Cornelius Brock musterte die Fassade des Gebäudes von oben nach unten und prägte sich mit einem Rundblick die Umgebung ein. Das tat er immer, um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, wie das Umfeld eines Verbrechens aussah.
Auf der anderen Seite des Spurensicherungsfahrzeugs stand der Transporter der Rechtsmedizin. Zwei Helfer bugsierten eine Bahre aus dem Fahrzeug und klappten die Stützen nach unten. Sie nickten sich kurz zu. Brock kannte sie vom Sehen.
„Sind ja alle schon hier“, sagte der Hauptkommissar.
„Na, ja. Wir haben den Einsatzbefehl erst ziemlich spät bekommen“, sagte einer der beiden, der Brocks Bemerkung wohl als Kritik verstanden hatte, obwohl sie nicht so gemeint war.
„Ein schönes Haus“, stellte Brock übergangslos fest. „Wer ist das Opfer?“
Spengler zog einen Zettel aus der Tasche und studierte die handschriftlichen Notizen. „Das ist ein gewisser Markus Diefenbach. Ein Kunst- und Antiquitätenhändler, soweit ich das mitgekriegt habe.“
„Wohnt er allein hier?“
„Nein, seine Schwester hat wohl die obere Wohnung. Die beiden haben das Haus geerbt. Es ist schon länger in Familienbesitz. Der Kollege erzählte mir, dass sie mit ihrem Bruder manchmal zusammen frühstückt. Das war auch heute Morgen geplant, und deshalb hat sie ihn auch gefunden.“
Am seitlichen Eingang des Gebäudes stand ein uniformierter Polizist, der ihnen ein Klemmbrett entgegenhielt. Sie trugen ihre Namen und die Zeit ein. Es musste genau erfasst werden, wer einen Tatort wann betrat oder verließ.
„Dort ist noch ein Eingang“, bemerkte Brock und deutete auf eine Haustür, die ein paar Meter entfernt war.
„Dort wohnt die Schwester“, erklärte der Polizist. „Ihre Wohnung hat einen eigenen Eingang.“
„Waren Sie als Erster hier?“, fragte Brock.
Der Uniformierte nickte. „Ja, ich war mit meinem Kollegen zuerst hier. Wir bekamen den Einsatz von der Notrufzentrale, weil wir ganz in der Nähe waren. Es hat keine fünf Minuten gedauert, bis wir die Adresse erreichten.“
„Außer der Schwester war niemand zu sehen?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Nein. Die Dame stand in der offenen Tür und hat auf uns gewartet. Wir sind dann sofort hineingegangen und haben den Toten in dem Raum gefunden, den sie uns gezeigt hat.“
„Was haben Sie dann getan?“, wollte Brock wissen.
„Ich blieb an der Tür zu dem Salon, wie die Schwester den Raum nannte, und sicherte den Tatort ab. Wir wussten nicht, ob sich eventuell noch jemand im Haus aufhielt, vielleicht sogar der Täter. Mein Kollege näherte sich dem Toten, fühlte dessen Puls, überprüfte rasch das obere Stockwerk und kam zu mir zurück. Ich konnte schon von der Tür aus sehen, dass der Griff eines Messers aus der Brust des Mannes ragte und habe sofort gedacht, dass niemand eine solche Wunde überleben würde. Wir haben in dem Raum nichts berührt. Es ist alles so, wie wir es vorgefunden haben. Wir haben uns streng an die Vorschriften gehalten.“
„In Ordnung, doch in Zukunft behalten Sie Ihre Ferndiagnosen lieber für sich.“
Brock ging durch die Tür und sah nicht, wie der Polizist rot anlief.
Sie durchquerten einen Vorraum, der als Garderobe diente, und standen gleich darauf in einem weiteren Raum, der sich im Zentrum des Hauses befinden musste. Einige Türen gingen zur Straßenseite ab. Da sie alle geöffnet waren, fiel genügend Licht in den fensterlosen Raum. Zur Rückseite hin gab es eine verglaste Doppeltür, die ebenfalls offen stand und den Blick in den sogenannten Salon freigab. Allerdings war im Moment nicht viel zu sehen, da einige Personen mit dem Rücken zu ihnen im Türrahmen standen und die Sicht versperrten.
Brock ging näher, gefolgt von seinem Assistenten.
Eine der Personen, wie einige der anderen in einen weißen Overall gekleidet, drehte sich um. Udo Ritter, der Leiter des Fachbereichs Spurensicherung, sah Hauptkommissar Brock und seinem Begleiter entgegen.
„Schön, mal vor Ihnen da zu sein“, sagte er.
Sie begrüßten sich herzlich. Brock schätzte Ritter als äußerst kompetenten und zuverlässigen Kollegen, dem so leicht nichts entging, was zur Aufklärung eines Falles beitragen konnte. Er war ein unauffällig wirkender, bescheidener Mittvierziger, der verheiratet war und zwei Töchter hatte, wie Brock wusste.
„Warum stehen Sie alle hier vor der Tür?“, fragte Brock, nachdem er die anderen mit einem Nicken begrüßt hatte. Er spähte in den Raum und entdeckte ein merkwürdiges Gerät auf einem mannshohen Stativ, das mitten im Raum stand.
„Sie haben den Laserscanner mitgebracht“, stellte er fest.
Ritter nickte und betrachtete den kleinen Bildschirm des Gerätes, das er in der Hand hielt. „Der Raum ist so groß und unübersichtlich, dass wir sichergehen wollten, nichts übersehen zu haben Der komplette Scan dauert etwa eine halbe Stunde und spart uns viel Zeit und Arbeit. Wir sind gleich fertig.“
Mit dem Scanner ließ sich ein genaues und hochauflösendes Abbild des Tatortes erstellen, das man später im Computer in dreidimensionaler Form von allen Seiten betrachten konnte. So entging den Ermittlern nichts Wichtiges.
Eine weitere Person, eingehüllt in einen hellblauen Schutzanzug, drängte sich durch den Pulk der Spurensicherer.
Sofort erschien ein Lächeln auf Brocks Zügen. Doktor Bernd Fischer war der Rechtsmediziner, mit dem er am liebsten zusammenarbeitete. Fischer ging auf die fünfzig zu, war immer korrekt gekleidet und hatte jüngst den Golfsport für sich als Hobby entdeckt, auch wenn ihm das Talent dafür fehlte, wie man munkelte. Als Pathologe war er jedoch unumstritten. Er verfügte über eine jahrzehntelange Erfahrung in seinem Fachbereich und war sehr gründlich, was die Untersuchung von Mordopfern anging.
Fischer zog seine Handschuhe aus und streckte Brock seine Rechte entgegen. „Schön, dass Sie den Fall übernehmen. Ich habe das Gefühl, dass dieser Mord nicht alltäglich ist.“
„Wir werden sehen.“
Ritter hob den Kopf. „Der Scan ist beendet. Wir können rein.“
Während sich die Spurensicherer im Raum verteilten, um mit ihrer Arbeit zu beginnen, blieben Brock und Spengler im Türrahmen stehen, um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Zwei der weißgekleideten Kollegen gingen die Treppe hinauf, um sich den oberen Räumen zu widmen. Doktor Fischer marschierte mit seinem Koffer in der Hand auf die zentrale Sitzgruppe im englischen Stil zu, die sich direkt vor der Fensterfront befand.
Jetzt konnte auch Brock den Toten sehen, und er verstand, weshalb niemand einen Zweifel an seinem Tod gehabt hatte.
Der ältere Mann von vielleicht sechzig Jahren lag schräg über einer Couch, den Kopf nach hinten über die Lehne geneigt, einen Fuß am Boden, den anderen halb über der Sitzfläche. Seine Arme waren zu beiden Seiten des Körpers heruntergesunken. Unübersehbar ragte hoch oben aus seiner Brust der Griff irgendeiner Stichwaffe. Die Klinge war so weit eingedrungen, dass man nicht feststellen konnte, wie sie aussah.
Der Mann war in eine blaue Jacke gehüllt, die mit farbigen Mustern verziert war. Genaueres war nicht zu erkennen, da das Kleidungsstück von Blut förmlich durchtränkt war. Auf der Couch und auf dem Boden befanden sich weitere große Blutlachen. Einen solchen Blutverlust konnte niemand überleben, das war Brock augenblicklich klar.
Udo Ritter hatte inzwischen das Stativ mit dem Laserscanner zusammengepackt und trug es nach draußen.
„Wo sind eigentlich die Kollegen vom Kommissariat Mitte“, fragte Brock ihn im Vorbeigehen.
„Es ist nur einer, und der ist vorn in der Küche bei der Schwester.“
„Dann reden wir zuerst mit ihr“, entschied Hauptkommissar Brock. Sie gingen durch den Vorraum zur Straßenseite des Hauses. Hinter der mittleren offenen Tür entdeckte er zwei Personen. Den Rücken eines Mannes, der auf einem Stuhl saß, ihm gegenüber eine Frau mit gesenktem Kopf. Sie blickte auf, als die beiden Neuankömmlinge die Küche betraten.
„Ich bin Hauptkommissar Brock, und das ist mein Assistent Horst Spengler“, stellte er sich vor.
Die Frau wischte sich über die Augen und verschmierte ihr Make-up noch etwas mehr. Sie schluchzte leise.
Der Mann erhob sich. „Oberkommissar Schneider.“
Für seinen Dienstgrad schien er noch ziemlich jung. Brock schüttelte ihm die Hand. „Sie haben uns um Hilfe gebeten?“
Schneider nickte. „Es war uns sofort deutlich, dass dies kein Fall für unser Regional-Kommissariat sein kann.“
„Da haben Sie wohl recht. Wir übernehmen dann.“
Der junge Beamte verließ die Küche, und Brock setzte sich auf den frei gewordenen Platz. Durch eine offene Tür an der linken Seite konnte man in ein Esszimmer blicken, dessen Mittelpunkt ein großer Tisch mit dazu passenden Stühlen bildete.
Spengler blieb an der Tür stehen. Die Schwester des Ermordeten hatte sich inzwischen die Tränen getrocknet und sah Brock abwartend an.
Er musterte sie kurz. Sie war etwa Mitte bis Ende dreißig, hatte kurz geschnittene Haare, ein freundliches Gesicht und ausdrucksvolle Augen. Sie trug einen rosafarbenen Hosenanzug.
„Mein herzliches Beileid“, begann der Hauptkommissar. „Es tut mir leid, doch wir müssen Ihnen einige Fragen stellen.“
Sie nickte. „Das ist schon in Ordnung. Ich bin Jutta Diefenbach, die Schwester ...“
Ihre Stimme erlosch, und erneut rann eine Träne über ihre Wange.
„Wir können auch später ...“
„Nein, nein, es geht schon. Fragen Sie ruhig.“
„Erzählen Sie uns einfach, was heute Morgen geschehen ist.“
„Nun, wir frühstücken gelegentlich an den Tagen zusammen, an denen ich später in meinen Buchladen gehe. Mein Bruder ist ... war kein Frühaufsteher. Wir haben uns dann über allgemeine Themen unterhalten und nicht über das Geschäft. Über seine eigenen Tätigkeiten hat mein Bruder ungern gesprochen, obwohl ich natürlich wusste, dass einige Dinge, die er tat, nicht ganz den üblichen Gepflogenheiten entsprachen.“
„Wie meinen Sie das?“, unterbrach Brock sofort.
„Nun, er hat mit Antiquitäten gehandelt, hauptsächlich mit Replikaten von antiken Stücken, aber auch teilweise mit Originalen oder angeblichen Originalen, denn ich weiß, dass nicht alle davon echt waren. Ich sage das, weil ich glaube, dass seine Geschäftspartner möglicherweise mit der Tat in Verbindung stehen könnten.“
Brock warf Spengler einen kurzen Blick zu. Es kam selten vor, dass ein Zeuge schon in den ersten Minuten ein Motiv für einen Mord lieferte. Andererseits klang es nach einem ersten wichtigen Hinweis.
„Sie kamen also aus Ihrer Wohnung“, nahm Brock den Faden wieder auf. „Gibt es einen direkten Zugang zur Wohnung Ihres Bruders?“
„Nein, als wir das Haus umbauten, haben wir die innere Treppe abreißen lassen und einen separaten Eingang geschaffen. Mir reichte die kleinere Wohnung im oberen Geschoss. Ich war nie verheiratet, wissen Sie. Ich war immer nur mit meinen Büchern verheiratet.“
„Wann kamen Sie denn heute Morgen herunter?“
„Das war so gegen halb zehn. Ich habe einen Schlüssel zur unteren Wohnung, und brauchte deshalb nicht zu klingeln. Ich rief nach meinem Bruder, doch es kam keine Antwort. Alles war still, keine leise Musik wie sonst, kein Geräusch. Ich ging zuerst in die Küche. Normalerweise stellt Markus die Kaffeemaschine an, aber alles schien unberührt. Dann ging ich in den Salon, und dort ... dort ... fand ich ihn dann.“
Sie schwieg für einen Moment, ehe sie fortfuhr.
„Ich habe sofort gesehen, dass er tot war. Das Messer ... das viele Blut ...“
Brock nickte verständnisvoll. „Und weiter?“
„Ich bin hingerannt und habe seinen Puls gefühlt. Vielleicht war ja doch noch Leben in ihm, habe ich gehofft. Aber da war nichts mehr. Ich muss einige Zeit wie betäubt neben ihm gestanden haben, bis ich dann endlich die Polizei anrief.“
„Haben Sie etwas angefasst? Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?“
Jutta Diefenbach überlegte kurz. Sie wirkte jetzt wesentlich gefasster als noch vor ein paar Minuten.
„Seine Uhr war nicht am Handgelenk. Er trennt sich selten von seiner protzigen Chopard. Er hat sie erst seit Weihnachten. Hat sie sich selbst geschenkt!“
„Die Tür war verschlossen, als Sie das Haus betraten?“
„Nicht abgeschlossen, aber die Tür war zu.“
„Hat noch jemand einen Schlüssel?“
Sie schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Mein Bruder war immer vorsichtig. In der Wohnung befinden sich viele wertvolle Dinge.“
„Was haben Sie als Erstes gedacht, als Sie Ihren toten Bruder sahen?“, fragte Brock.
Ihr Gesicht verfinsterte sich. „Er hat wieder mal nächtlichen Besuch gehabt.“
Brock beugte sich vor. „Haben Sie eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte? Eine Frau?“
Jutta Diefenbach lachte laut auf.
„Eine Frau? Wo denken Sie hin? Mein Bruder war schwul!“
*
Aus der Nähe betrachtet, sah es tatsächlich so aus, als hätte der Tote keinen Tropfen Blut mehr im Leib. Die Stichwaffe ragte schräg aus der Brust, schon fast am Halsansatz.
Doktor Bernd Fischer sah auf, als die beiden Kriminalbeamten neben ihn traten. Die Spurensicherer waren in dem großen Raum noch beschäftigt, doch Ritter hatte ihnen gezeigt, wo sie sich hinstellen konnten, ohne irgendwelche Spuren zu vernichten.
„Der Dolch hat vermutlich den Herzbeutel und die Hauptschlagader getroffen“, beantwortete der Rechtsmediziner ihre unausgesprochene Frage. „Das würde das viele Blut erklären.“
„Ein Dolch?“, fragte Brock.
„Ja, wenn Sie genau hinsehen, können Sie ein winziges Stück der beidseitig geschliffenen Klinge sehen. Na, ja, es ist eher eine stumpfe Klinge. Das Ding scheint ziemlich alt und leicht verrostet zu sein. Ich habe keine Ahnung, wie lang die Klinge ist, zumindest lang genug, um das Herz zu erreichen. Der Täter muss sehr kräftig zugestoßen haben, um den Dolch so weit in den Körper zu treiben.“
„Ist das Griffstück mit Golddraht umwickelt?“, erkundigte sich Spengler.
Fischer nickte. „Sieht so aus. Ein moderner Dolch ist das jedenfalls nicht. Könnte ein paar hundert Jahre alt sein.“
„Dann stammt er vielleicht aus der Sammlung des Ermordeten“, vermutete Brock. Er sah sich im Raum um.
„Können Sie ihn entfernen?“, fragte er.
Fischer schüttelte den Kopf. „Lieber nicht. Wir werden die Leiche sehr vorsichtig bewegen. Dann werde ich die Waffe während der Obduktion aus der Wunde lösen.“
„Die Frage, ob der Stich tödlich war, erübrigt sich wohl.“
Fischer lächelte schwach. „Es gibt da allerdings eine merkwürdige Sache, die ich mir noch nicht erklären kann.“
Er schlug die blaue Jacke zurück. Darunter trug der Tote ein T-Shirt. Es wies nur einen relativ kleinen Blutfleck auf.
„Die Jacke hat das ganze Blut der Stichwunde aufgesogen. Wenn die Schlagader verletzt wurde, muss das Blut in heftigen Stößen ausgetreten sein, sodass es über die Jacke und die Couch bis auf den Boden spritzte. Der Blutfleck auf dem T-Shirt muss jedoch eine andere Ursache haben. Außerdem scheint der Stoff nicht von außen, sondern von innen durchtränkt worden zu sein. Die Obduktion wird das Rätsel sicher lösen. Ich werde heute noch damit anfangen.“
Alle drei betrachteten nachdenklich den toten Markus Diefenbach. Brock bemerkte, dass das Opfer keine Uhr an seinem Handgelenk trug, wie ihm die Schwester schon gesagt hatte. Wo war die teure Uhr geblieben?
Es sah nicht nach einem Raubmord aus. Das Zimmer war nicht durchwühlt.
Udo Ritter trat zu ihnen. „Sie können sich den Raum jetzt anschauen. Aber behalten Sie Ihre Handschuhe und die Überzüge für die Schuhe an. Nach den ersten Erkenntnissen werden wir hier sicher noch eine ganze Reihe weiterer Untersuchungen vornehmen müssen.“
Brock beobachtete die beiden Kollegen in den weißen Anzügen, die immer noch systematisch den Raum absuchten, Spuren in kleinen Tütchen sicherten, Klebestreifen anbrachten und manches mit einer Lupe betrachteten.
Spengler nahm sich die Wand mit den verglasten Vitrinen vor, in denen zahlreiche antik aussehende Stücke ausgestellt waren. Daneben waren Preisschilder aufgestellt. Es waren die Replikate, die Diefenbach verkaufte.
Brock untersuchte die andere Seite des Salons. Hier befanden sich eine Anrichte und ein geschlossener Schrank. Auf der Anrichte standen verschiedene Fotos in Bilderrahmen sowie ein antik aussehender Marmorkopf. Darüber waren einige antike Waffen an der Wand befestigt. Sie schienen echt zu sein. Eine merkwürdig geformte kurze Hiebwaffe erregte Brocks Interesse.
Udo Ritter war unbemerkt neben ihn getreten.
„Das ist ein ägyptisches Sichelschwert“, erklärte er.
Brock drehte sich zu ihm um. „Woher wissen Sie so etwas?“
„Ich habe mich schon als Junge für das alte Ägypten interessiert. Die Pharaonen, die Pyramiden, der goldene Schmuck oder die Hieroglyphen – davon konnte ich nie genug bekommen. Daher weiß ich, dass dieser Gegenstand ein Schwert aus Bronze ist, wie es die ägyptischen Soldaten führten. Es kann seine Herkunft von einer Sichel nicht verleugnen, daher diese eigenartige Form.“
„Ist es echt?“
„Es sieht zumindest so aus, doch Sie sollten lieber einen Spezialisten fragen. Das gilt auch für die anderen Gegenstände.“
Er öffnete den verschlossenen Schrank. „Hier! Sehen Sie. Ich glaube, dass es sich bei diesen Keramikgefäßen um echte Stücke handelt. Sie stammen aus verschiedenen Kulturen. Die beiden Glasgefäße sind wahrscheinlich in Syrien hergestellt, und die Bronzefigur dürfte in Italien entstanden sein.“
Brocks Respekt vor Ritter wuchs noch ein Stück. Er deutete auf die Wand.
„Hier war etwas befestigt.“
Ritter nickte. „Ja, offensichtlich der Dolch, mit dem das Opfer ermordet wurde. Sehen Sie sich die Bilder an, die auf der Anrichte stehen. Auf einem der Fotos ist Diefenbach zu sehen, wie er genau vor der Wand steht. Sie können den Dolch gut erkennen.“
Brock fand das angesprochene Bild sofort. Ein breit grinsender Diefenbach blickte in die Kamera, während er auf eine Statuette zeigte, die auf der Anrichte stand und einen bärtigen Mann darstellte, der sich auf eine riesige Keule stützte. Er nahm den gleichen Platz ein, auf dem jetzt der Kopf stand.
„Herkules“, erläuterte Ritter. „Die Statue haben wir jedoch nicht gefunden. Es ist kein antikes Stück, dürfte aus der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts stammen. Vielleicht ist es auch nur eine moderne Kopie wie die anderen Stücke dort drüben in den Vitrinen.“
Brock nickte gedankenversunken und studierte das Foto. Der Dolch an der Wand besaß eine Klinge, die am Griffstück ziemlich breit war und in einer Spitze auslief – wie ein langgezogenes Dreieck. Die Länge der Waffe war gut abzuschätzen, da Diefenbach unmittelbar danebenstand. Der Dolch wirkte alt und rostig, schien aber noch intakt zu sein, auch wenn die Spitze ziemlich stumpf schien. Es musste einen hohen Kraftaufwand bedeuten, eine solche Klinge bis zum Heft in einen Körper zu stoßen.
In der Mitte der Klinge waren bis zur Spitze hinunter schwache Zeichen zu erkennen, die Vogelspuren im Sand glichen.
„Sind das Schriftzeichen?“, überlegte Brock laut.
„Ich kenne jemanden, der Ihnen helfen könnte, diese Waffe genauer zu identifizieren und auch das, was möglicherweise darauf steht“, sagte Ritter. „Ich schicke Ihnen die Adresse, dann können Sie ihn anrufen, wenn es nötig ist. Der Betreffende hat uns schon mehrfach mit Gutachten geholfen.“
„Danke. Hier gibt es so viele Dinge, die uns bei der Suche nach einem Motiv für den Mord hilfreich sein könnten. Da der Täter jedoch diesen Dolch von der Wand genommen hat, war es vermutlich kein geplanter Mord, sondern eher eine Tat im Affekt. Wir werden sehen.“
Einer der Spurensicherer erschien oben an der Treppe, die ins obere Geschoss führte. Eine junge Frau, die Brock vom Sehen kannte.
„Das müssen Sie sich ansehen, Chef!“, rief sie herunter.
„Kommen Sie mit“, sagte Ritter, und Brock folgte ihm nach oben.
Die Treppe führte auf einen Flur, der sich offenbar über die gesamte Breite des Hauses zog. Zur Rückseite gab es zwei Türen, zur Vorderseite des Hauses einige mehr. Alle waren geöffnet.
„Nach vorne zur Straße gibt es ein weiteres Schlafzimmer mit einem Badezimmer“, erklärte die junge Kollegin. „Es scheint unbenutzt. Am Ende des Ganges ist noch ein Arbeitszimmer mit einem teuren Computer, einem hochmodernen Farbdrucker sowie Aktenschränken und Regalen. Zur Rückseite, also direkt über dem unteren Wohnraum, ist ein großer Schlafraum mit einem ebenfalls sehr großen Badezimmer.“
„Das Arbeitszimmer sehe ich mir später an“, sagte Brock.
Sie ging voraus durch die nächste offene Tür.
„Wow!“, stieß Brock hervor.
Sie standen in einer schwülstigen Orgie von Pink und Weiß. Teppiche, Kissen, Vorhänge – alles in diesen Farben. Den Mittelpunkt des Raumes bildete ein großes Bett mit einem Baldachin, daneben Nachttische im verspielten Rokoko-Stil. Es gab eine Sitzgruppe aus weißem Leder, einen mannshohen Spiegel und verschiedene Kleinmöbel, dazu Lampen in unterschiedlichen Größen. Eine offen stehende Tür führte in ein Ankleidezimmer.
„Seine Schwester hatte wohl recht“, murmelte Cornelius Brock.
Ritter sah ihn fragend an.
Brock grinste. „Sie kommen schon noch drauf, was in diesem Schlafzimmer kaum zu übersehen ist.“
Die junge Frau winkte sie zum Bett. „Sehen Sie selbst.“
Brock und Ritter verstanden sofort, was sie ihnen zeigen wollte.
„Diefenbach hat hier nicht allein geschlafen“, stellte Brock fest. Das Bett war in seiner ganzen – beträchtlichen – Breite komplett zerwühlt. Einige kleinere Kissen waren zu Boden gefallen. Ein zweiter weißgekleideter Kollege der Spurensicherung war damit beschäftigt, mit einer Lupe das Bett zu untersuchen und mit einer Pinzette Haarproben aufzusammeln.
„Hier ist es aber hoch hergegangen“, meinte Ritter.
Er legte seine Stirn in Falten. „Ich kann mir kaum vorstellen, dass eine Frau die Kraft gehabt hätte, ihrem Liebhaber auf diese Weise den Dolch in die Brust zu rammen.“
Brock lächelte unwillkürlich. „Hier gab es vermutlich auch keine Frau.“
Ritter sah ihn irritiert an. „Ich verstehe nicht ...“
„Diefenbach war schwul. Das hat mir jedenfalls seine Schwester erzählt. Sie kennt angeblich den Namen seines Partners nicht. Jedenfalls käme ein Mann als Täter wohl eher infrage. Da müssen wir noch mal nachhaken, ob sie nicht doch etwas mehr über die Gewohnheiten ihres Bruders weiß, als sie zugeben will.“
Brock deutete auf ein Tablett mit einer Weinflasche und zwei Gläsern, das auf einem der Nachttische stand. Aus den Gläsern war getrunken worden. Sie waren mit einem feinen Pulver bestäubt.
„Fingerabdrücke?“
„Ja, die haben wir schon abgenommen“, erläuterte die junge Frau. „Es handelt sich um zwei verschiedene Abdrücke. Wir haben sie bereits an die Zentrale gesendet und hoffen, dass wir bald ein Ergebnis haben.“
„Ist das eine Nagelfeile, die dort liegt?“, fragte Brock verwundert und sah auf eine Stelle vor dem Bett.
„Ja“, antwortete der Kollege, der das Bettlaken prüfte, und sah hoch. „Bitte nicht berühren. Wir haben alles fotografiert, aber noch nicht überprüft.“
„Es sieht aus, als sei Blut daran“, fuhr Brock fort.
Ritter beugte sich hinunter und musterte die kleine Feile. „Getrocknetes Blut, das habe ich schon oft genug gesehen.“
„Als Mordwaffe ist das Ding zu klein“, überlegte Brock.
„Vielleicht hat der Täter es erst damit versucht und dann doch lieber den Dolch genommen“, meinte Ritter.
„Und das Opfer ist freiwillig nach unten mitgegangen?“ Brock schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht. Es muss eine andere Erklärung geben.“
„Haben Sie schon eine Theorie, was hier passiert sein könnte?“, fragte Ritter.
„Dazu ist es noch zu früh. Offensichtlich scheint mir nur zu sein, dass Diefenbach sich mit einem Partner im Bett vergnügt hat. Sie haben Wein getrunken. Dann hat einer sich aus Versehen oder freiwillig mit der Nagelfeile verletzt. Sie gingen nach unten. Es kam zum Streit ...“
Brock schüttelte den Kopf. „Nein, das passt alles nicht zusammen. Mit einer blutenden Verletzung geht man ins Badezimmer und nicht in den Salon. Warum sind sie nach unten gegangen?“
Ritter hob die Schultern. „Das verraten uns die Spuren leider nicht.“
Brock musterte die Nachtschränkchen. „Haben Sie hier oben eine goldene Uhr gefunden? An seinem Handgelenk war sie nicht. Diefenbachs Schwester sagte, dass er die Uhr selten ablegte.“
Ritter hob die Schultern. „Bisher haben wir überhaupt keine Armbanduhr gefunden. Aber wir haben noch nicht alles überprüft.“
„Sagen Sie mir bitte Bescheid, wenn Sie das teure Stück finden. Ich habe den Eindruck, dass diese Uhr eine gewisse Rolle spielt.“
*
Der Rechtsmediziner war mit der Untersuchung der Leiche gerade fertig geworden, als Hauptkommissar Brock die Treppe herunterkam.
„Können Sie schon etwas über den Todeszeitpunkt sagen?“
Fischer streifte die Handschuhe von den Fingern. „Sie stellen auch immer die gleichen Fragen, die ich nicht präzise beantworten kann. Meine vorläufige Vermutung wäre, dass der Tod gestern zwischen einundzwanzig Uhr und Mitternacht eintrat.“
„Das ist eine ziemliche Spanne.“
Der Rechtsmediziner hob die Schultern. „Die Obduktion wird einen genaueren Zeitpunkt ergeben. Kommen Sie morgen Vormittag in unser Institut, dann weiß ich mehr.“
Er gab seinen beiden Mitarbeitern ein Zeichen, und sie bugsierten den Toten vorsichtig auf eine Bahre. Brock hatte Mühe, seinen Blick von dem Dolchgriff zu wenden, der immer noch aus der Brust des Opfers ragte. Er wartete, bis der Ermordete aus dem Raum getragen worden war, dann wandte er sich seinem Assistenten zu, der ihm erwartungsvoll entgegensah.
Kommissaranwärter Horst Spengler stand neben dem Schreibtisch, der ein ganzes Stück neben der Sitzgruppe schräg zum Fenster aufgestellt war.
Spenglers Wangen waren leicht gerötet, wie immer, wenn er seinem Chef etwas Wichtiges mitteilen wollte.
„Ich habe mir den Schreibtisch gründlich angeschaut“, begann er mit leicht zitternder Stimme. „Und ich habe einiges von Interesse gefunden.“
„Dann lassen Sie mal hören.“
Spengler deutete auf ein großes und dickes Buch im Querformat. „Darin sind die offiziellen Einnahmen und Ausgaben handschriftlich notiert. Das dürfte die Unterlage für das Finanzamt sein.“
Er nahm eine Art Kladde hoch. „Hier haben wir die weniger offiziellen Zahlen. Darin sind Verkäufe an verschiedene Kunden notiert, ohne die Beträge der Umsatzsteuer. Teilweise handelt es sich um recht hohe Beträge für Antiquitäten aller Art. Die Namen und Anschriften der Kunden hat Diefenbach ebenfalls festgehalten. Wenn wir damit fertig sind, werden die Kollegen der Steuerfahndung gern in dem Buch blättern wollen.“
Er nahm eine weitere ähnliche Kladde in die Hand. „Das sind die Ankäufe. Die Namen der Verkäufer sind abgekürzt, nur ihre Standorte sind lesbar, also zum Beispiel Kairo, München oder Florenz. Anhand der von Diefenbach gezahlten Preise kann ich mir kaum vorstellen, dass es sich bei den genannten antiken Stücken um Originale handelt.“
„Lassen Sie mal sehen! Ich habe den Eindruck, dass unser Opfer die Geschichte mit der doppelten Buchführung irgendwie falsch verstanden hat.“
Spengler grinste breit. „Aber ordentlich war er!“
Brock studierte einige Seiten der Kladde. „Hinter der Bezeichnung der einzelnen Stücke steht in Klammern ein Buchstabe: O oder F. Ich denke, das steht für Original und Fälschung. Diefenbachs Schwester hat angedeutet, dass einige der Geschäfte ihres Bruders ihrer Meinung nach nicht ganz legal waren.“
Er sah hinüber zur anderen Seite des Raumes. Udo Ritter war ebenfalls wieder im sogenannten Salon und damit beschäftigt, einzelne Stücke aus dem Schrank zu fotografieren.
Brock hatte seine Stirn gerunzelt, wie er es oft tat, wenn er angestrengt nachdachte. Er blätterte in der Kladde.
„Wenn ich diese Unterlagen – und das, was sich in diesem Raum befindet – richtig interpretiere, dann handelte Diefenbach offiziell mit Reproduktionen beziehungsweise mit echten Stücken, die er bei Auktionen kaufte, und inoffiziell mit Fälschungen beziehungsweise wiederum mit echten Stücken aus dunklen Quellen.“
Er sah Spengler an. „Was ist ein Kunde, der eine Fälschung gekauft hat?“
„Ein betrogener Kunde?“
Brock nickte. „Sehr richtig – und was hat ein betrogener Kunde?“
„Ein Motiv!“, antwortete Spengler eifrig.
Er nahm einige Papiere vom Tisch. „Das hier würde zu den Fälschungen passen.“
„Was ist das?“
„Es sind Dokumente in englischer Sprache. Das eine ist eine Rechnung, ausgestellt in Bagdad, das andere sieht aus wie eine Exportbescheinigung. Angeblich stammen die Papiere aus der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg. Sie sehen aber ziemlich neu aus.“
Er zog eine Schublade auf. „Dann habe ich das hier entdeckt. Tinte in verschiedenen Farben, Schreibfedern, unterschiedliche Stempelkissen und jede Menge Stempel, dazu alt aussehendes Papier – eine kleine Fälscherwerkstatt.“
Er hielt Brock die Papiere vor die Nase. „Eines verstehe ich jedoch nicht. Wieso kauft man in Bagdad einen assyrischen Seehund? Oder gleich drei davon! Was ist das überhaupt?“
Brock musste lächeln. „Das englische Wort seal bedeutet Seehund oder Robbe, da haben Sie schon recht. Doch der Begriff steht auch für Siegel, und hier dürften assyrische Rollsiegel gemeint sein.“
Ein Leuchten zog über Spenglers Gesicht. „Oh, ich weiß, was Sie meinen. Das sind diese kleinen Röllchen, mit denen man ein Bild in einen weichen Untergrund drücken kann. So wie mit einem Siegelring.“
„Genau. Diefenbach hat für seine gefälschten Objekte wohl auch gleich die passenden gefälschten Papiere angefertigt.“
„Das heißt“, sagte Spengler nachdenklich. „Wir haben in der Kundenkartei theoretisch jede Menge Menschen mit einem Motiv. Und wenn wir jemand finden, der obendrein schwul ist, dann ...“
„Keine voreiligen Schlüsse!“, unterbrach Hauptkommissar Brock „Mir ist nur eines klar, wir haben sehr viel Arbeit vor uns.“
„Bleibt die Frage, wo diese Siegel jetzt sind. Ich habe sie nicht gefunden.“
Ihm schien noch etwas einzufallen, und Spengler zog eine weitere Schublade auf. Brock blickte auf einen Karton voller Handys.
„Wegwerftelefone“, erklärte Spengler. „Fast ein Dutzend. Herr Diefenbach scheint ein sehr vorsichtiger Mensch gewesen zu sein, was seine Kommunikation angeht.“
Eine steile Falte erschien auf Brocks Stirn. „Da haben wir wohl in ein richtiges Wespennest gefasst. Übrigens: Haben Sie hier unten eine Uhr entdeckt?“
„Sie meinen nicht die Standuhr dort drüben, oder?“
„Nein, eine goldene Armbanduhr der Marke Chopard.“
„Ich habe inzwischen alle Schränke und Schubladen überprüft. Eine solche Uhr wäre mir aufgefallen.“
Brock drehte sich einmal um seine Achse.
„Es sieht hier nicht nach einem missglückten Einbruch aus oder auch nur nach einem Diebstahl. Alles scheint an seinem Platz zu sein. Und doch fehlen drei Rollsiegel und eine wertvolle Uhr. Sehr seltsam.“
Spengler starrte seinen Chef an, doch der äußerte sich nicht weiter.