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6. Kapitel

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Hauptkommissar Cornelius Brock hatte heute eine Stunde länger schlafen können, da er von seiner Wohnung an der Alsterdorfer Straße direkt zum UKE, fahren wollte, dem Universitätsklinikum Eppendorf. Er brauchte keine zwanzig Minuten, da der Berufsverkehr schon abgeflaut war.

Die Gebäude der Rechtsmedizin lagen am Rande des riesigen Geländes. Das Krankenhaus war in der Kaiserzeit entstanden und verfügte bereits in seinem Gründungsjahr weit über tausend Betten. Heute waren es noch sehr viel mehr, und Brock wusste, dass sich hier über zehntausend Mitarbeiter um die Belange der Patienten kümmerten.

An seinem Zielort gab es jedoch keine Patienten, jedenfalls keine lebenden. Er stellte seinen Wagen auf einem der reservierten Parkplätze ab und machte sich auf den Weg zu dem Flachbau, in dem sich das Institut für Rechtsmedizin befand.

Die Besuche hier gehörten nicht zu Brocks Lieblingsaufgaben. Obwohl er dank seines Berufes zwangsläufig mit dem Tod zu tun hatte, spürte er immer eine gewisse Scheu vor dem Betreten dieser Einrichtung. Er war jedes Mal dankbar, wenn die eigentliche Obduktion schon beendet war. Doktor Bernd Fischer, der leitende Rechtsmediziner, kannte seine Antipathie und nahm normalerweise Rücksicht darauf. Brock hoffte, dass ihm auch heute eine nähere Betrachtung des Opfers erspart blieb.

Nachdem er sich angemeldet hatte, zog er die vorgeschriebene Schutzkleidung über, die auch nicht gerade zum Wohlfühlen gedacht war.

„Sie können gleich durchgehen“, sagte die Dame am Empfang. „Sie kennen ja den Weg, der Doktor erwartet Sie bereits.“

Brock sammelte sich einen Moment, bevor er den Sektionssaal betrat. Mit einem raschen Blick stellte er fest, dass von den drei Tischen nur einer belegt war, der an der hinteren Wand.

Doktor Fischer stand mit dem Rücken zu ihm an dem langen Tresen mit den Unterbauschränken, der sich um den ganzen Raum herumzog. Er war damit beschäftigt, aus einem Sterilisator einige blinkende Instrumente herauszunehmen, deren Zweck Brock sich lieber nicht vorstellen wollte.

Fischer hatte wohl den Luftzug der geöffneten Tür gespürt, denn er drehte sich sofort herum.

„Herr Hauptkommissar, einen wunderschönen Guten Morgen.“

Brock grüßte zurück. Aufs Händeschütteln verzichtete er. Die leicht bedrückende Atmosphäre des Raumes nahm ihn wie immer sofort gefangen. Der Geruch, den die leise summenden Ventilatoren nie ganz vertreiben konnten, umhüllte ihn wie eine Wolke, und er vermied es krampfhaft, den Leichnam auf dem Tisch zu betrachten.

Stattdessen richtete er seinen Blick auf die Arbeitsplatte, vor der Fischer stand. Dort lag ein Beweismittelbeutel, und er enthielt die Mordwaffe, die Brock jetzt zum ersten Mal komplett im Original sah. Das letzte Drittel der Klinge war abgebrochen und lag separat in der Plastikhülle.

Brock beugte sich vor. „Das ist also der antike Dolch. Sieht gar nicht so bedrohlich aus.“

„Er ist mit großer Wucht in den Körper gestoßen worden“, erläuterte Fischer. „Ich hatte einige Mühe, ihn herauszubekommen. Dabei ist die Klinge zerbrochen. Ich weiß nicht, wie alt das Ding ist, doch das Material hat im Laufe der Zeit viel von seiner ursprünglichen Substanz verloren. Materialermüdung nennt man das wohl.“

„Besonders scharf ist die Waffe ja nicht“, bemerkte der Hauptkommissar.

„Nein, die Ränder der Klinge sind sehr schartig. Doch das spielte keine Rolle, weil es in diesem Fall nur auf die Spitze ankam – und die reichte für ein tiefes Eindringen aus. Der Mörder hatte Glück, wenn man so will, denn zufällig traf er genau die Lücke zwischen zwei Rippen. Damit hatte die Waffe keinen Widerstand mehr und durchbohrte den Herzbeutel und eine der Hauptarterien. Das erklärt auch den hohen Blutverlust. Der Tod muss ziemlich schnell eingetreten sein.“

„Haben Sie schon prüfen können, ob Fingerabdrücke auf dem Dolch sind?“

Der Rechtsmediziner schüttelte den Kopf. „Da war nichts zu finden. Auf der Klinge fanden wir nur das Blut des Opfers, und die Spuren auf der Drahtumwicklung des Griffstücks waren so stark verwischt, dass sie nichts hergaben.“

Fischer machte eine Pause und lächelte breit. Brock kannte den Mediziner gut genug, um zu wissen, dass er seine Entdeckungen gern mit einer gewissen Theatralik ausschmückte.

„Nun reden Sie schon!“

„Wir konnten jedoch mit etwas Glück die DNA auf dem Griff sichern. Vielleicht haben wir einen Treffer in der Datenbank. Auf jeden Fall haben wir einen Beweis, um den Täter festzunageln, wenn Sie ihn kriegen.“

Jetzt lächelte Brock ebenfalls. Das war eine gute Nachricht.

„Kann ich die Waffe mitnehmen? Ich möchte sie gern einem Experten zeigen, auch wenn ich noch nicht weiß, ob es für den Fall von Bedeutung ist.“

„Ja, das können Sie. Die Spuren sind gesichert. Wir haben auch einige Fotos gemacht, auf denen sich die Zeichen auf der Klinge gut erkennen lassen. Das könnte für Ihren Fachmann hilfreich sein.“

Fischer trat an den benachbarten Stahltisch, auf dem der einzige Leichnam im Raum lag. Brock hatte jetzt keine Chance mehr, seinen Blick abzuwenden. Immerhin war der größte Teil des Körpers mit einem Tuch bedeckt. Dennoch spürte er, dass seine Hände feucht wurden.

„Ich hätte Ihnen das gern erspart“, sagte Doktor Fischer. „Doch ich muss Ihnen etwas zeigen, das für Ihre Ermittlungen möglicherweise eine gewisse Bedeutung haben kann.“

Er schlug das Tuch ein Stück zurück, sodass Brock freie Sicht auf den Oberkörper des Toten bekam.

Die Wunde, die der tödliche Stoß verursacht hatte, war deutlich zu erkennen. Ein hässlicher breiter Riss in der Haut. Das Blut war abgewaschen worden.

„Worauf soll ich achten?“, fragte Brock. Seine Stimme klang leicht belegt.

Fischer deutete auf eine Stelle etwas oberhalb der großen Wunde. „Das hier wollte ich Ihnen zeigen.“

Brock musste sich dicht über den Ermordeten beugen, um zu sehen, was dem Pathologen aufgefallen war. Es war ein winziger Einschnitt, kaum einen Zentimeter breit. Eigentlich war es nur eine dünne Linie.

Fischer sah Brock an. „Erinnern Sie sich an die Nagelfeile?“

Brock trat einen Schritt zurück und nickte. Er war innerlich dankbar, nicht mehr so dicht bei dem Toten stehen zu müssen. „Ja, sie lag neben dem Bett.“

„Diese kleine Wunde wurde durch die Nagelfeile verursacht. Da wir vermuten können, dass das Opfer sich diese Verletzung nicht selbst beigebracht hat, nehme ich an, dass es jemand anders war.“

„Hat der Täter es erst mit der Feile versucht?“

„Erinnern Sie sich, was ich Ihnen am Tatort gezeigt habe? Diese kleine Wunde hat einen Blutfleck auf der Innenseite des T-Shirts verursacht, das der Tote trug. Das heißt, er hat es erst nach der Verletzung angezogen. Der tödliche Dolchstoß erfolgte später unten im Wohnzimmer. Zu dem Zeitpunkt war das Blut der ersten Wunde schon fast wieder geronnen.“

„War die Feile gefährlich?“, fragte Brock.

Fischer deckte den Toten wieder zu. „Nein. Das war nur ein Kratzer in der Haut. Hat wahrscheinlich etwas gebrannt, aber ein Pflaster hätte als Behandlung gereicht.“

Brock überlegte. „Das passt alles irgendwie nicht zusammen. Diefenbach wird verletzt, zieht sich daraufhin wieder an, geht dann nach unten und empfängt dort die tödliche Wunde. Warum sollte der Täter ihn erst mit einer lächerlichen Nagelfeile leicht verletzen, um ihn später mit einer ganz anderen Waffe zu töten? Das macht doch keinen Sinn!“

Fischer lächelte amüsiert. „Es sei denn ...“

„Es sei denn“, wiederholte Brock den Satz und ergänzte ihn:

„Es sei denn – es waren zwei Täter!“

*



Zurück im Präsidium, wurde Hauptkommissar Cornelius Brock von seinem aufgeregt wirkenden Assistenten empfangen. Horst Spengler konnte es kaum erwarten, dass sie sich endlich an Brocks Schreibtisch gegenübersaßen.

„Ich habe herausgefunden, wer der geheimnisvolle Partner von Markus Diefenbach war. Das werden Sie nicht glauben.“

Brock lehnte sich zurück. „Bei diesem Fall glaube ich so langsam alles.“

„Ich habe gleich heute Morgen die Schwester besucht. Sie wollte sich gerade auf den Weg in ihre Buchhandlung machen. Vielleicht hatte sie es eilig, jedenfalls fiel ihr plötzlich ein Name ein. Stefan Matzke. Sie meinte, ihr Bruder hätte mal davon gesprochen, dass er ihm ein Darlehen gegeben hätte, weil er ein guter Freund sei. Wie auch immer, es soll schon ein, zwei Jahre her sein, und sie wusste auch nicht, was aus diesem Geschäft später geworden ist. Ihr Bruder hätte diesen Namen danach nie mehr erwähnt.“

„Und wer ist nun dieser Stefan Matzke?“, fragte Brock geduldig.

„Das ist ja der Knaller. Das ist der Türsteher und Rausschmeißer einer bekannten Schwulenbar an der Reeperbahn. Ich habe einen Kollegen von der Sitte gefragt, und der hat mir bestätigt, dass Matzke dort bestens bekannt sei. Er wurde schon mal wegen Drogenbesitz erwischt und hat eine Bewährungsstrafe wegen Körperverletzung bekommen. Im Moment liegt allerdings nichts gegen ihn vor. Seine Adresse habe ich übrigens auch, falls wir ihn besuchen wollen.“

„Den wollen wir ganz bestimmt besuchen!“

Spengler schien den Beweismittelbeutel, den Brock auf seinen Tisch gelegt hatte, erst jetzt zu bemerken.

„Ist das die Waffe?“

Brock nickte. „Wir werden sie dem Herrn Professor Hochstein zeigen und ihn um seine Meinung bitten. Das ist ein guter Vorwand, ihn zu besuchen und ihm auf den Zahn zu fühlen.“

„Wann?“

„Jetzt gleich. Doch vorher rufen Sie bitte einen Ihrer Freunde beim LKA dreiundvierzig an.“

„Die Kollegen vom Diebstahl?“

„Ja. Die sollen prüfen, ob irgendwo die teure Uhr angeboten wird, die bei Diefenbach geklaut worden ist. Der Dieb wird sicher versuchen, seine Beute schnell wieder loszuwerden. Den Informanten bleibt so ein teures Stück doch sicher nicht verborgen.“

„Wenn wir den Dieb haben, hätten wir ja auch unseren Mörder“, schloss Spengler.

„Da wäre ich nicht so sicher.“

„Wieso?“

„Das erzähle ich Ihnen unterwegs. Sie fahren!“

*



Im Univiertel war Hauptkommissar Brock schon lange nicht mehr gewesen. Die Abteilung für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients befand sich in einem der modernen Flügelbauten neben dem alten Hauptgebäude der Universität Hamburg, in der Edmund-Siemers-Allee, nur einen Steinwurf vom Dammtor-Bahnhof entfernt. Parken war hier allerdings unmöglich, deshalb stellten sie den Wagen auf der Rückseite des Gebäudes in einer Nebenstraße der Rothenbaumchaussee ab.

Ihre Ausweise verhinderten Fragen nach dem Grund ihres Besuches, sodass sie problemlos das Vorzimmer von Professor Hochstein erreichten. Dort saß eine ältere Dame hinter einem Schreibtisch, die nicht so aussah, als würde sie irgendjemand noch weiter vordringen lassen.

Der kleine Büroraum war vollgestopft mit Akten und Papierstapeln aller Art. Die Bretter eines Regals bogen sich unter der Last schwerer Bücher.

Brock setzte sein charmantestes Lächeln auf und stellte sich und seinen Assistenten höflich vor.

Der sanfte Tonfall veränderte die strenge Miene der Frau wenigstens ein bisschen, auch wenn es zu einem Lächeln nicht reichte.

„Sie wünschen?“

„Wir würden gern mit Professor Hochstein reden. Wir brauchen seine Hilfe in einer dringenden Angelegenheit.“

Die Sekretärin musterte die dünne Aktenmappe, die Spengler unter dem Arm trug. Brock hätte sie auch selbst getragen, doch so etwas ließ sein eifriger Assistent nicht zu.

„Der Herr Professor spricht gerade mit einem seiner Studenten, und anschließend ist er zu einem Mittagessen verabredet. Insofern weiß ich nicht, ob heute ...“

„Es geht um Mord“, unterbrach Brock, diesmal in deutlich ernsterem Tonfall.

Sie erschrak. Ihre Finger zuckten von der Tastatur zurück, als hätte sie eine giftige Schlange angefasst.

„Oh, Gott ... was ... wer ...das ist doch ...“

„Sagen Sie ihm einfach, dass wir ihn dringend sprechen müssen.“

Die Sekretärin ging um ihren Schreibtisch herum und vermied dabei jede Nähe zu den beiden Kriminalbeamten, als seien sie für den angesprochenen Mord verantwortlich.

Brock bemerkte auf einem Regal einen Stapel Faltblätter mit dem Porträt des Professors auf der Titelseite, die wohl für die Teilnehmer seiner Seminare gedacht waren. Er steckte eines davon ein.

Die Sekretärin klopfte an die Tür zum nächsten Raum, öffnete sie und verschwand. Es dauerte keine Minute, bis ein junger Mann mit hochrotem Kopf aus der Tür kam und durch das Sekretariat stürmte, als sei der Teufel hinter ihm her.

„Setzen! Fünf!“, kommentierte Horst Spengler grinsend. „Oder vielleicht Thema verfehlt.“

Die Tür öffnete sich erneut, und die Sekretärin machte eine einladende Handbewegung.

„Sie können jetzt eintreten.“

Der Raum war deutlich größer als das Vorzimmer. Die hohen Fenster ließen eine Menge Licht herein. Die Möbel waren modern und aus hellem Holz, so ganz anders, als Brock sich das Reich eines Geschichtsprofessors vorgestellt hatte. Nur die zahlreichen Bücherregale verrieten, dass dies kein normales Büro war. Trotz der sommerlichen Temperaturen waren die Fenster geschlossen, und es roch nach altem Papier.

An einer Seite des Raumes stand eine Vitrine mit offensichtlich antiken Artefakten. Kleine menschenähnliche Figürchen aus verschiedenen Materialien in unterschiedlicher Größe. Brock fragte sich, ob es sich um echte Stücke oder um Kopien handelte. Allerdings hätte er den Unterschied wohl kaum erkennen können.

Auf dem Schreibtisch stand ein weiteres Stück, eine bauchige Vase mit einem Deckel in Form eines Hundekopfes, etwa dreißig Zentimeter hoch. Brock erinnerte sich, in Diefenbachs Salon irgendwo etwas Ähnliches gesehen zu haben. Er speicherte die Information ab.

Professor Ernst Hochstein war eine beeindruckende Figur. Als er von seinem Schreibtisch aufstand überragte er Cornelius Brock, der auch nicht gerade klein war, um mindestens fünf Zentimeter.

Er war jünger als erwartet, vielleicht ein paar Jahre älter als Brock. Sein modischer Anzug verriet eine fast athletische Figur. Auf seinem Kopf saß eine wahre Haarpracht, die jedoch erste Anzeichen einer Graufärbung zeigte. Seine Augen blickten neugierig, und auf der Nase saß eine randlose Brille, die leicht nach vorn gerutscht war.

Er kam um den Schreibtisch herum. Sein Händedruck war fest.

„Was kann ich für Sie tun, meine Herren?“

„Wir sind von der Hamburger Mordkommission“, begann Brock, wohl wissend, dass dieses Wort immer ein gewisses Erschrecken auslöste.

Der Professor reagierte jedoch überhaupt nicht. Nur auf seinem Gesicht erschien ein fragender Ausdruck.

Brock und Spengler legten ihre Visitenkarten auf die Tischplatte und sahen sich nach einer Sitzgelegenheit um.

Der Schreibtisch besaß zwar eine kreisförmige Verlängerung, die für kleinere Besprechungen gedacht war, die dazu gehörenden Stühle waren aber alle mit Büchern und Papierstapeln belegt.

„Oh, Verzeihung!“, sagte Professor Hochstein und räumte die Stapel weg. „Nehmen Sie bitte Platz.“

Brock deutete auf die Vitrine. „Sie haben eine interessante Sammlung antiker Stücke. Sieht ägyptisch aus, oder?“

Hochstein sah Brock aufmerksam an, ehe er zu der Vitrine blickte. „Mit Ägypten haben Sie recht Es sind Uschebtis.“

„Uschebtis?“, wiederholte Brock. „Das Wort habe ich noch nie gehört.“

„Ich auch nicht“, fügte Spengler hinzu.

Hochstein lächelte. „Das Wort kommt im normalen Sprachgebrauch kaum vor. Es ist die Bezeichnung für kleine Figuren, die einem Verstorbenen im alten Ägypten mit auf den Weg gegeben wurden. Sie stellen ihn selbst dar und übernehmen stellvertretend für ihn die Arbeiten, die man im Jenseits von ihm verlangt. Manche Gräber von hoch gestellten Persönlichkeiten, die ganz sicher gehen wollten, enthalten Dutzende davon. Es gibt sie ziemlich häufig.“

„Das ist clever von den alten Ägyptern“, wunderte sich Spengler.

„Sind die alle echt?“, fragte er anschließend. „Ich meine, stammen die Figuren tatsächlich aus alten Gräbern?“

„Ja, Ich habe die Sammlung von meinem Vater geerbt. Er war Archäologe und mit jahrelangen Ausgrabungen in Ägypten beschäftigt. Von ihm habe ich wohl auch mein Interesse für den alten Orient. Doch ich nehme an, Sie sind nicht gekommen, um mich über meine Sammlung zu befragen.“

„Nein.“ Brock gab seinem Assistenten einen Wink, und Spengler legte die schmale Aktenmappe auf den Tisch. Brock öffnete sie und zog den zerbrochenen Dolch in seiner Plastikhülle heraus.

Professor Hochstein starrte wie gebannt auf die Waffe.

„Woher haben Sie das?“, fragte er schließlich. Seine Stimme klang leicht belegt.

„Das ist eine Mordwaffe“, entgegnete Brock. „Wir würden gern mehr über sie erfahren."

„Darf ich den Dolch herausnehmen?“

„Leider nicht. Er ist zwar kriminaltechnisch untersucht, doch es handelt sich um ein Beweisstück. Sie dürfen ihn aber in die Hand nehmen.“

Vorsichtig nahm Professor Hochstein die Waffe in ihrer Hülle hoch. Langsam drehte er sie dicht vor seinen Augen.

„Da sind Schriftzeichen“, stellte er fest.

Brock griff wieder in die Aktenmappe und zog einige großformatige Fotos daraus hervor, die er auf der überladenen Tischplatte ausbreitete. Sie zeigten in hoher Auflösung und starker Vergrößerung die Schriftzeichen.

„Wir haben davon mit einer Spezialkamera Aufnahmen gemacht. So sind die Zeichen viel besser zu lesen als auf dem Original.“

Professor Hochstein studierte die Fotos gründlich.

„Es ist hethitische Keilschrift“, stellte er schließlich nach einer ganzen Weile fest. „Wie Sie vielleicht wissen, kommt die Keilschrift ursprünglich aus Mesopotamien, und breitete sich dann im ganzen Vorderen Orient aus. Auch die Hethiter übernahmen sie, als sie ihr Reich immer weiter ausdehnten, dessen Kerngebiet in der heutigen Türkei lag. Neben dem alten Ägypten wurden sie schließlich zur zweiten Großmacht der Region. Die hethitische Herkunft erklärt auch das Material des Dolches.“

„Inwiefern?“, wollte Spengler wissen.

„Sie waren die Einzigen in der Region, die Eisen herstellen konnten, alle anderen verwendeten Bronze. Die Hethiter hatten aufgrund dessen die besseren Waffen, denn Eisen ist sehr viel härter als Bronze. Und diese Waffe ist aus Eisen.“

„Haben Sie eine Ahnung, wie alt sie ist?“, fragte Brock.

„Wissen Sie, wo sie gefunden wurde?“, kam die Gegenfrage.

Spengler zog das alte Tagebuch von Johannes Diefenbach aus der Aktenmappe. „Der Dolch wurde laut diesem Tagebuch von einem Archäologen in den zwanziger Jahren in einem unvollendeten Grab im Tal der Könige gefunden, unter einer Schutthalde.“

Hochstein schwieg eine ganze Weile.

„Zeitlich ergibt das einen gewissen Sinn“, sagte er schließlich.

„Unter Ramses dem Zweiten kam es zu einer Entscheidungsschlacht zwischen Ägyptern und Hethitern. Sie ging unentschieden aus, was den Pharao nicht hinderte, sie in der Heimat als großen Sieg darzustellen. So etwas soll es ja auch heute noch geben. Immerhin kann man sich daher verschiedene Möglichkeiten vorstellen, wie die Waffe an den Nil kam.“

Er unterbrach sich kurz. „Das ist weit über dreitausend Jahre her.“

„Können Sie entziffern, was auf dem Dolch geschrieben steht?“, fragte Brock.

„Ich konnte den Namen Tarhunna lesen. Das ist der Wettergott, der höchste Gott der Hethiter.“

Er stand auf und ging zum Bücherregal, wo er nach einigem Suchen einen dicken Folianten herauszog und zum Schreibtisch schleppte. Er blätterte hektisch in dem Buch, während er gleichzeitig die Fotos studierte.

Schließlich lehnte er sich zurück. „Einiges ist unverständlich, aber ich kann die Worte für vernichten und Feind entziffern. Wenn Sie mich nach einer Interpretation fragen, würde ich sagen, dass der Besitzer des Dolches seinen Gott gebeten hat, seine Feinde zu vernichten.“

„Das reicht uns schon“, sagte Brock. „Zumindest haben wir eine Ahnung, was es mit der Mordwaffe auf sich hat. Dann wollen wir Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen.“

Sie erhoben sich, und Spengler packte Dolch und Fotos wieder in die Mappe.

„Es ist doch eigentlich egal, was auf dem Dolch steht, oder?“, fragte Spengler, als sie die Treppe hinuntergingen.

„Ja, ist es. Ich wollte dem Professor nur den Eindruck vermitteln, dass es um seine Kompetenz als Sachverständiger geht. Wir müssen noch sehr viel mehr herausfinden, bevor wir ihn in Zusammenhang mit dem Mord bringen könnten.“

Als sie wieder vor der Tür standen, atmeten sie tief durch. Die frische Luft tat den Lungen gut.

„Warum haben Sie ihn nicht gefragt, ob er Diefenbach kennt oder ob er für ihn Gutachten erstellt hat?“, stellte Spengler die nächste Frage.

Cornelius Brock blinzelte in den blauen Himmel. „Er sollte nicht den Eindruck haben, dass wir ihn in irgendeiner Form verdächtigen. Das wäre viel zu früh. Wir sind erst am Anfang unserer Ermittlung.“

Sie machten sich auf den Weg zu ihrem geparkten Auto, und Spengler grübelte vor sich hin, bis ihm seine Gedanken keine Ruhe mehr ließen.

„Ich frage mich die ganze Zeit, warum Professor Hochstein sich nicht ein einziges Mal erkundigt hat, wer der Ermordete ist.“

Hauptkommissar Brock setzte ein rätselhaftes Lächeln auf. „Vielleicht wusste er es schon, weil er den Dolch schon mal gesehen hat.“

*



Die letzte Kundin hatte sich endlich verabschiedet, und Abdullah konnte seinen Laden schließen. Seine Angestellten hatten die Gemüse- und Obstkisten hereingetragen, die tagsüber vor dem Laden aufgestapelt waren, während die Kundin immer noch ihre uninteressanten Geschichten erzählte. Abdullah war ein geduldiger Mensch, und er hörte ihr zu, was ihr Mann offensichtlich nicht tat. Nun, irgendwie konnte er ihn verstehen.

Um die Reinigung des Ladens würde sich sein Personal kümmern. Er konnte sich auf die Leute verlassen. Ihm kam die angenehmere Aufgabe zu, die Tageseinnahmen zu zählen. Er nahm den Kasseneinsatz heraus, um ihn nach oben zu tragen. Er würde auch heute wieder mit dem Geschäft zufrieden sein. Das sah er auf den ersten Blick an den prall gefüllten Fächern.

Doch bevor er sich an die Arbeit machte, würde er sich in aller Ruhe die Regionalnachrichten im Fernsehen ansehen, denn tagsüber gab es dafür keine Zeit. Abdullah schätzte seine regelmäßigen Rituale. Sie gaben ihm ein Gefühl von Sicherheit. Anschließend würde seine Frau das Essen auf den Tisch stellen, und seine Töchter würden ihm erzählen, wie es in der Schule gewesen war.

Abdullah stellte den Kasseneinsatz auf einem Tisch ab und machte es sich auf seinem Lieblingssessel bequem. Seine Frau und seine Kinder wussten, dass er jetzt nicht gestört werden wollte. Später würde er Zeit für sie haben.

Er nahm die Fernbedienung in die Hand und drückte auf eine Taste.

Abdullah erstarrte, als er die Nachrichtensprecherin einen bestimmten Namen sagen hörte, und dann war auch schon ein Bild zu sehen. Das Gesicht des Mannes kannte er nicht, doch seinen Namen schon. Schließlich hatte er ihn jüngst im Telefonbuch gefunden.

Er drehte den Ton etwas lauter, um kein Wort zu verpassen. Die deutsche Sprache war immer noch schwer für ihn, und er hatte einige Mühe, die schwierigen Wörter zu verstehen. Seine Töchter hätten damit keine Probleme, doch sie schienen ihm noch zu jung, um mit Nachrichten dieser Art in Berührung zu kommen.

Nach den letzten Worten der Meldung war Abdullahs Gesicht aschfahl geworden. Seine Hände zitterten leicht, und er wischte sich über die Augen, die feucht geworden waren.

Was hatte sein Neffe getan?

Weshalb war er wirklich nach Hamburg gekommen?

Dieser Mord war nicht zufällig jetzt erfolgt. Noch am ersten Abend hatte Amir ihm erzählt, welche tragische Verbindung es zwischen Diefenbach und seiner Familie gab. Die Erzählung war für Abdullah äußerst verstörend gewesen, doch nie im Traum hätte er daran gedacht, dass ein solches Ende bevorstand. Amir hatte gesagt, er wolle mit dem Mann reden, ihn zu einer Entschädigung zwingen.

War die Situation eskaliert?

Abdullahs Gedanken rasten. Amir würde bald hier sein. Er hatte den Tag genutzt, um sich die Stadt anzusehen. Wer weiß, was er noch vorhatte?

Abdullah sprang auf. Er konnte einen Mörder nicht unter seinem Dach beherbergen, Familie hin oder her. Er musste an seine eigene Familie denken, an seine Frau und seine Kinder.

Sie mussten aus dem Haus. Sofort!

Er rannte in die Küche. Seine Frau stand am Herd und sah ihm erschrocken entgegen.

„Du musst mit den Mädchen zu deiner Mutter fahren. Jetzt sofort!“

Sie sah ihn ratlos an. „Aber das Essen ...“

„Dafür ist jetzt keine Zeit. Ich erkläre dir morgen alles. Pack’ schnell ein paar Sachen ein, nur für eine Nacht. Morgen ist alles wieder in Ordnung, versprochen.“

Abdullah zählte die Sekunden, bis seine Frau und die Kinder endlich fertig waren. Er begleitete sie nach unten und hielt ein Taxi an, was hier am Steindamm nicht lange dauerte. Seine Frau fragte nicht mehr nach dem Grund für diesen plötzlichen Aufbruch, sie war es gewohnt, dass die Männer das letzte Wort hatten, auch wenn Abdullah ein vorbildlicher Ehemann war.

Er sah dem Wagen noch eine Zeit lang nach, bis er nicht mehr zu sehen war. Dann ging er zu einer Telefonzelle, die nur ein paar Meter von seinem Laden entfernt war. Er war froh, dass es immer noch ein paar der Dinger gab, auch wenn sie selten geworden waren. Er fürchtete, dass man sofort wissen würde, wer angerufen hatte, falls er sein Handy benutzte.

Abdullah zögerte noch einen kurzen Moment. Dann wählte er eine Nummer.

Eine kurze Nummer.

*



Hauptkommissar Cornelius Brock und Kommissaranwärter Horst Spengler hatten beschlossen, allmählich Feierabend zu machen. Mit der Durchsicht der Papiere Diefenbachs waren sie noch nicht fertig geworden. Der Kunsthändler hatte alles aufgehoben, was seine Geschäfte betraf, und das über viele Jahre hinweg.

Einerseits fanden sie zahlreiche Hinweise für die Ermittlungen, andererseits war die Menge an Material schwer zu bewältigen.

Spengler hatte sich in das Tagebuch von Johannes Diefenbach vertieft. Er hob den Kopf.

„Das ist eine spannende Lektüre. Der Großvater war ein guter Beobachter. Er hat alles notiert, was ihm wichtig erschien. Seine Erfolge als Archäologe waren zwar begrenzt, aber er hat viel über das Land und seine Menschen mitzuteilen.

„Dann wissen wir ja, von wem Markus Diefenbach seine Faszination für das Geschriebene hat“, bemerkte Brock.

Sein Telefon klingelte. Er warf einen unwilligen Blick darauf. Ein interner Anruf!

„Wer will denn jetzt noch was von mir?“, knurrte er und nahm den Hörer auf.

„Ja? Brock hier!“

„Guten Abend, Herr Hauptkommissar. Hier ist die Notrufzentrale. Wir hatten einen Anrufer, der behauptet hat, er kenne den Mörder von Markus Diefenbach.“

„Und wer war das?“

„Ein anonymer Anrufer. Von einer Telefonzelle am Steindamm.“

„Haben Sie den Anruf aufgenommen?“

„Selbstverständlich!“ Die Stimme klang leicht empört. „Wie alle Anrufe.“

„Wir müssen uns unbedingt das Original anhören.“

„Ich schicke Ihnen die Datei. Sie müssten sie gleich auf Ihrem Computer haben.“

Brock legte auf und sah seinen Assistenten an. „Eine interessante neue Entwicklung. Da behauptet jemand, zu wissen, wer Diefenbachs Mörder ist.“

Brock schaltete seinen bereits heruntergefahrenen Computer wieder ein. Es dauerte nicht lange, bis eine neue Datei im internen Kommunikationsnetz auftauchte.

Brock drehte die Lautstärke hoch, und sie lauschten der unbekannten Stimme.

„Hallo ... hallo ... Polizei? Ich ... ich weiß, wer Mörder von Diefenbach ... ist Amir Al-Farad. Fliegt morgen nach Kairo zurück.“

Ein Schluchzen folge, dann nichts mehr.

„Kein Deutscher“, stellte Spengler fest.

Brock wiederholte die Aufnahme. „Afrikaner oder Araber, vermute ich. Hören Sie, wie er am Schluss weint?“

Er überlegte. „Kairo ... Kairo ... da war doch was? Gab es dort nicht einen Kontakt, der plötzlich abgebrochen wurde? Schauen Sie mal in den Unterlagen nach!“

Spengler suchte hektisch in den Papierstapeln und Ordnern, die über den Tisch ausgebreitet waren. Endlich fischte er die gesuchte Kladde heraus und blätterte darin.

„Hier ist es! Die Geschäftsverbindung nach Kairo, die vor zehn Jahren plötzlich abgerissen ist.“

„Wie ist der Name?“, drängte Brock.

„Hassan Al-Farad! Der Anrufer ist kein Spinner. Die Namensgleichheit ist kein Zufall. Der Sache müssen wir unbedingt nachgehen.“

„Da haben Sie völlig recht. Nun wird es leider nichts mit dem Feierabend. Wir müssen herausfinden, welche Flugverbindungen es morgen nach Kairo gibt, vermutlich über Frankfurt. Informieren Sie die Kollegen am Flughafen. Wir müssen einen Einblick in die Passagierlisten bekommen. Dieser Amir Al-Farad darf uns nicht entwischen. Wir wissen nicht, ob er tatsächlich der Mörder ist, aber es existiert auf jeden Fall ein Zusammenhang mit dem Mord. Gehen wir an die Arbeit.“


Alstermorde: 9 Hamburg Krimis

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