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7. Kapitel

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Der junge Ägypter wirkte nervös. Er konnte seine Hände nicht stillhalten. Seine Augen zuckten nervös hin und her. Dann schaute er wieder sekundenlang direkt in die Kamera.

Hauptkommissar Cornelius Brock beobachtete Amir Al-Farad auf dem Monitor, der das Bild der Kamera im Verhörraum wiedergab. Er studierte die Körpersprache des jungen Mannes und versuchte, sich ein Bild von der Persönlichkeit zu machen.

Wie ein Mörder sah er nicht aus. Doch wer sah schon so aus?

Es war nicht sehr schwierig gewesen, ihn aufzuhalten, bevor er das Land verlassen konnte. Die Passagierlisten der infrage kommenden Flugzeuge nach Frankfurt waren rasch überprüft. Amir hatte den Flug unter seinem richtigen Namen gebucht. Vor dem Einchecken hatte ihn die Polizei am Flughafen unauffällig festgenommen.

Anschließend war er ins Präsidium gebracht worden, und nun saß er hier im Verhörraum zwei und wartete darauf, dass jemand mit ihm sprach.

In seinem Reisegepäck hatte man nichts Verdächtiges gefunden. Weder die verschwundene Uhr, noch die Rollsiegel oder ein anderes Stück, das möglicherweise zum Besitz von Markus Diefenbach gehörte. Das verringerte eindeutig die Chance, dass sie bereits den Täter gefasst hatten.

Brock sah auf seine Uhr. Es wurde Zeit.

„Ich zeichne schon auf“, meldete sich der diensthabende Beamte, der neben ihm saß und die Monitore überwachte. „Das ist doch richtig?“

„Auf jeden Fall. Ich gehe jetzt zu ihm.“

Bevor er den Überwachungsraum verlassen konnte, erschien Kommissaranwärter Spengler in der Tür.

Er hatte wieder seinen aufgeregten Gesichtsausdruck, und Brock wusste, dass es Neuigkeiten gab.

„Sie erinnern sich, dass ich die Kollegen beim Fachkommissariat Diebstahl gebeten habe, darauf zu achten, ob eine Uhr angeboten wird, die eventuell bei Diefenbach entwendet wurde.“

Brock nickte. „Und?“

„Sie hatten bereits einen Tag nach dem Mord den Anruf eines Pfandleihers aus St. Georg, dem eine solche Uhr sowie ein paar merkwürdige Gegenstände aus Stein angeboten worden waren. Erst nach meiner Anfrage haben sie diese Information mit dem Anruf in Verbindung gebracht. Auf jeden Fall soll es sich bei der Uhr um eine goldene Chopard mit Brillanten handeln, und das sieht doch sehr nach dem Eigentum unseres Opfers aus.“

„Sie haben recht. An solche Zufälle glaube ich auch nicht. Hat der Pfandleiher die Uhr angenommen?“

„Nein, der potentielle Verkäufer soll ein junger Mann gewesen sein, der nach einem Junkie aussah.“

„Gut. Ich rede jetzt mit dem Ägypter, und Sie finden in der Zwischenzeit heraus, wer dieser Pfandleiher ist und wo wir ihn finden können.“

„Wird gemacht!“

Spengler stürzte sich mit Feuereifer auf seine nächste Aufgabe, während sich Brock auf den Weg in den Verhörraum machte.

Noch ein Verdächtiger, dachte er. Es wird schwieriger.

Amir Al-Farad sah erschrocken auf, als Brock den kleinen fensterlosen Raum betrat, der eine gewollt nüchterne Atmosphäre verbreitete.

Brock stellte sich vor und nahm auf der anderen Seite des Tisches Platz. Er legte Amirs aufgeschlagenen Pass vor sich hin.

„Das ist Ihre erste Auslandsreise“, begann er.

Der Ägypter sah ihn ratlos an. „Ich spreche nur Englisch“, sagte er.

Brock wechselte sofort in die Sprache, die er sehr gut beherrschte. „Brauchen Sie einen Dolmetscher? Das würde jedoch eine ganze Weile dauern, weil wir beim ägyptischen Konsulat anfragen müssten.“

Amir schüttelte den Kopf. „Englisch ist in Ordnung.“

„Sie sind noch nicht verhaftet, sondern nur vorläufig festgenommen, weil wir mit Ihnen reden müssen. Wenn Sie jetzt schon einen Anwalt wollen, können Sie den bekommen.“

Amir schüttelte den Kopf. „Ich habe nichts getan.“

„Können Sie mir sagen, aus welchem Grund Sie nach Hamburg gekommen sind?“

Amir hatte seine Hände gefaltet und blickte trotzig auf den Boden.

Cornelius Brock schwieg.

Endlich bequemte sich der junge Ägypter zu reden. „Ich wollte jemanden besuchen.“

„Markus Diefenbach, nehme ich an.“

Amir erschrak sichtlich. „Das ... das ... woher wissen Sie das?“

„Erzählen Sie mir einfach, weshalb Sie hier sind.“

Es dauerte noch ein, zwei Minuten, ehe Amir sich entschloss, den Mund aufzumachen. Dann sprudelte es nur so aus ihm heraus.

Hauptkommissar Brock erfuhr, dass Amirs Vater für Diefenbach Kopien antiker Kunstwerke hergestellt hatte, dass sie irgendwann Streit bekommen hatten und dass es schließlich zu einer tödlichen Auseinandersetzung gekommen war. Die Polizei in Kairo hatte nie etwas von dem Mord erfahren. Es sollte alles in der Familie bleiben. Amirs Mutter hatte die Erinnerung an ihren getöteten Mann immer wachgehalten. Als die Zeit reif war und Amir alt genug, sollte er nach Hamburg fahren und den Mörder seines Vaters zur Rede stellen.

„Doch dann haben Sie ihn erstochen!“, fuhr Brock dazwischen.

„Nein, nein! Es sollte um eine Entschädigung gehen.“

Amir sank in sich zusammen. „Als ich gestern zu ihm wollte, sah ich ein Großaufgebot von Polizeifahrzeugen vor seinem Haus. Ich versteckte mich hinter einem Wagen, der am Straßenrand stand und beobachtete das Geschehen. Es dauerte nicht lange, da brachte man einen Sarg zu einem wartenden Fahrzeug. Ich ging davon aus, dass Diefenbach tot war und wusste nicht, was ich machen sollte. Daher entschloss ich mich, nach Hause zurückzukehren. Schließlich wurde ich festgehalten, bevor ich das Flugzeug besteigen konnte. Ich hatte Angst, dass man mich verantwortlich machen würde.“

„So ist es ja auch gekommen“, sagte er nach einer Pause.

„Sie werden verstehen, dass es mir schwerfällt, Ihre Geschichte zu glauben. Sie wollten mit Diefenbach reden, er wird ermordet, und kurz danach wollen Sie das Land erlassen.“

Amir wischte eine Träne ab, die ihm über das Gesicht lief. „Ich bin kein Mörder“, sagte er stockend.

Brock blätterte im Reisepass des Ägypters. Amir war einundzwanzig Jahre alt, fast noch ein Junge. Er sah nicht besonders kräftig aus, aber um einen Dolch in ein Herz zu stoßen, brauchte man kein Herkules zu sein. Die Seiten für die Visa im Pass waren bis auf den deutschen Einreisestempel leer. Offensichtlich war dies seine erste Auslandsreise, wahrscheinlich seine erste Reise überhaupt. Seine Mutter musste viel Vertrauen zu ihm haben, wenn sie ihn so weit fortschickte.

Amir hatte den Kopf auf seine Hände gestützt, die fast zur Hälfte in seinem lockigen schwarzen Haar versanken. Er schluchzte leise.

Amir sollte von Diefenbach eine Entschädigung verlangen?

Wie hoch ist eine Entschädigung für einen Mord? Wie berechnet man so etwas? Kann man dem jungen Mann glauben?

Cornelius Brock war noch nicht bereit, Amir laufen zu lassen. Immerhin war da noch der unbekannte Anrufer, der behauptet hatte, dass Amir der Mörder sei. Wer war das und warum hatte er den jungen Ägypter verpfiffen?

Brock traf eine Entscheidung. Die Verdachtsgründe waren schwerwiegend. Sie würden den jungen Mann vorläufig wegen Mordverdacht verhaften müssen. Der zuständige Staatsanwalt musste hinzugezogen werden. Der würde dann bestimmen, wie es weiterging. Die letzte Entscheidung würde der Haftrichter treffen.

„Es tut mir leid, doch Sie müssen noch eine Weile unser Gast sein; bis wir überprüft haben, ob Sie wirklich unschuldig sind. Wenn es stimmen sollte, was Sie mir erzählt haben, werden Sie in Kürze wieder bei Ihrer Familie sein können.“

Er erhob sich. „Man wird sich gleich um Sie kümmern.“

Amir sah ihm traurig hinterher.

*



„Hier hat sich in den letzten Jahrzehnten viel verändert“, sagte Hauptkommissar Brock nach einem Rundblick über den Hansaplatz mit seinem riesigen Denkmal in der Mitte.

„Eigentlich ist dieses Bauwerk ein Brunnen“, erklärte er. „Erbaut in der Kaiserzeit gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Die Figuren zeigen wichtige Persönlichkeiten der Hamburger Geschichte, und das krönende Standbild ist eine Allegorie auf die Macht des Städtebundes der Hanse.“

Spengler war wieder mal beeindruckt von den Kenntnissen seines Chefs.

„Ich habe noch nie so richtig auf das Bauwerk geachtet.“

„Das geht vielen so“, entgegnete Brock.

„Wahrscheinlich ist hier nachts immer noch ein Treffpunkt der Junkies und Kleinkriminellen sowie der leichten Mädchen. Stundenhotels gibt es hier natürlich auch. Dort drüben, wo die Lange Reihe beginnt, sind sehr viele neue Bauten entstanden, viele alte sind saniert und in moderne Eigentumswohnungen umgewandelt worden, und die Preise sind entsprechend gestiegen. So dicht an der Stadtmitte ist die Gegend natürlich sehr gefragt.“

Kommissaranwärter Spengler wusste nicht so recht, was er zu diesem Ausflug in Stadtplanung sagen sollte und entschloss sich zu einem Themenwechsel.

„Das Leihhaus ist dort drüben, im ersten Stock.“

Sie marschierten über den großen Platz, der inzwischen nur noch für Fußgänger gedacht war. Ihr Ziel war ein Gebäude, das hier bestimmt schon seit hundert Jahren stand. Die Fassade mit ihren Fenstergiebeln, den Verzierungen und Ornamenten entsprach einem anderen Schönheitsideal als die modernen Zweckbauten in Glas, Beton und Edelstahl.

Zur Eingangstür führten einige Stufen hoch, die schon etwas ausgetreten waren. Ein blank geputztes Messingschild neben der Tür verwies auf das Leihhaus Walden & Sohn.

Die Haustür war nicht verschlossen. Sie betraten einen dämmerigen Flur, der zu einem Treppenhaus führte. Die Holzstufen knarrten unter ihren Schritten. In der ersten Etage standen sie vor einer massiven modernen Tür, auf der ein kleineres Schild den Eingang zum Leihhaus wies.

Im Gegensatz zum Treppenhaus war der Geschäftsraum des Leihhauses hell und freundlich. Rechts und links standen Vitrinen mit Uhren und Schmuckstücken. Ein teilweise verglaster Tresen zog sich über die ganze Breite des Raumes. Dahinter befanden sich zwei Schreibtische, Regale mit Aktenordnern, und an der Wand zwischen den Fenstern stand ein altertümlicher mannshoher Tresor.

An einem der Schreibtische saß ein Mann in den besten Jahren, der aufstand, als die Neuankömmlinge sein Geschäft betraten. Er lächelte, doch seine Augen blickten wachsam.

„Was kann ich für Sie tun, meine Herren?“

Brock und Spengler zückten ihre Ausweise.

„Wir hoffen, dass Sie etwas für uns tun können“, sagte Brock. „Ich nehme an, Sie sind Kurt Walden, der Inhaber dieser Pfandleihe.“

„Kriminalpolizei – ich bin überrascht. Ich hätte bestenfalls mit einem Streifenwagen gerechnet. Es ist ja nichts passiert.“

Brock überging den Einwand. „Sie haben bei uns angerufen, weil ein junger Mann einige Dinge anbieten wollte, die Sie jedoch für Diebesgut hielten. Ist das soweit richtig?“

Walden nickte. „Der Junge zeigte mir eine Uhr, die ich sofort erkannte. Eine goldene Chopard mit Brillanten. Neu dürfte das gute Stück mehr als zwanzigtausend Euro kosten. Dass ein Junkie wie er Besitzer einer solchen wertvollen Uhr sein sollte, kam mir unwahrscheinlich vor. Daher habe ich es abgelehnt, die Uhr als Pfand anzunehmen.“

„Woher wissen Sie, dass es sich um einen Drogensüchtigen handelte?“

„Dafür habe ich im Lauf der Jahre einen Blick entwickelt. Manchmal sehe ich sie draußen auf den Treppen des Brunnens sitzen, gelegentlich versuchen sie, mir etwas zu verkaufen. Man sieht ihnen die Drogensucht an, die Blässe, die Einstiche, die oft abgemagerte Gestalt, und vor allem der Ausdruck in den Augen.“

„Hat der Mann außer der Uhr noch andere Dinge angeboten?“, fragte Spengler.

Walden nickte. „Ja. Er hatte noch einige fingergroße Zylinder, die mit Reliefs geschmückt waren. So etwas hatte ich noch nie gesehen.“

„Rollsiegel“, erläuterte Brock knapp.

Der Pfandleiher zog irritiert die Augenbrauen hoch.

„Im Übrigen haben Sie recht, die Dinge stammen tatsächlich aus einem Diebstahl. Allerdings handelt es sich gleichzeitig um einen Mordfall, und deshalb sind wir hier. Ihr potentieller Kunde ist vielleicht der Täter, zumindest aber ein wichtiger Zeuge.“

Walden blickte erschrocken auf. „Mord?“

„Können Sie uns den jungen Mann beschreiben?“, fragte Brock.

„Ich habe etwas viel Besseres.“ Er deutete nach oben auf die hinteren Zimmerecken.

„Die Lautsprecher?“, wunderte sich Spengler.

Walden lachte. „Das denken sie alle. Das ist auch der Zweck der Übung. In den Gehäusen sind kleine Kameras versteckt. Die Geräte sind heutzutage winzig. Sie sind auf den Tresen und auf die Eingangstür ausgerichtet und schalten sich ein, wenn jemand den Raum betritt. Ich habe also eine Aufzeichnung, in Farbe und gestochen scharf.“

Brock und Spengler waren überrascht und sahen sich gegenseitig an. Es kam selten vor, dass ihre Ermittlungen auf diese Weise leichter gemacht wurden.

Walden griff unter den Tresen und brachte eine DVD in einer neutralen Hülle zum Vorschein.

„Da ich damit gerechnet habe, dass jemand von der Polizei erscheint, habe ich die Aufzeichnung bereits kopiert. Sie können sie mitnehmen. Hören können Sie allerdings nichts, es wird nur das Bild aufgezeichnet, aber kein Ton.“

„Ein Bild reicht uns völlig zur Identifikation“, sagte Brock. „Sie haben den jungen Mann vorher noch nie gesehen?“, vergewisserte er sich.

Walden schüttelte den Kopf. „Nein, er war noch nie hier. Ich hätte ihn wiedererkannt, ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter. In dieser Gegend hier ist das auch notwendig. Wenn ich Ihnen noch einen Tipp geben darf: Ich hatte den Eindruck, dass der Junge nicht nur ein Junkie, sondern auch ein Stricher ist. Damit verdienen sich diese Typen den nächsten Schuss. Einige von denen lungern am Hauptbahnhof am Ausgang Kirchenallee herum. Vielleicht finden Sie ihn dort.“

„Danke für Ihre Auskünfte“, beendete Brock ihren Besuch. „Das war sehr hilfreich.“

Walden lächelte breit. „Ich brauche einen guten Draht zur Polizei, denn vielleicht brauche ich einmal Ihre Hilfe.“

Spengler schnappte sich die DVD, und sie verließen den Pfandleiher.

„Ist schon ein merkwürdiges Geschäft“, bemerkte Spengler, als sie wieder auf dem Hansaplatz standen.

„Mit einer langen Tradition“, ergänzte Brock. „Meine Mutter erzählte mir, dass meine Großmutter ihren Pelzmantel im Sommer in ein Leihhaus brachte und pünktlich zum Winteranfang wieder abholte. Das tat sie, weil damit ihr Pelz mottensicher aufbewahrt wurde, besser als in ihrem Kleiderschrank.“

„Heute besitzt ja kaum jemand noch einen echten Pelzmantel“, sagte Spengler voller Überzeugung.

„Zum Glück für die Tiere!“

*



Es dauerte ein paar Sekunden, bis das erste Bild des Films auf dem Monitor erschien. Gebannt betrachteten Brock und sein Assistent die Szene.

Ein junger Mann drückte vorsichtig die Tür auf und sah sich rasch um, als befürchtete er, angegriffen zu werden. Er schien erleichtert, als er feststellte, dass er der einzige Kunde war.

„Das schmächtige Kerlchen wiegt doch keine sechzig Kilo“, kommentierte Spengler. „Ich weiß nicht, ob der Typ kräftig genug ist, die Mordwaffe überhaupt zu halten.“

„Das weiß man nie“, entgegnete Brock. „Jedenfalls war er am Tatort.“

Als sich der junge Mann dem Tresen näherte, erfasste die Kamera auch sein Gesicht. Es wirkte eingefallen, die Haut war blass, die Augen zuckten. Er war sehr jung, vermutlich noch keine zwanzig Jahre alt. Er trug weiße Jeans, darüber ein hellblaues, leicht zerknittertes Leinensakko, das er nur über die Schultern gelegt hatte, sodass die Arme zu sehen waren. Einstiche waren auf dem Video nicht zu sehen, dazu reichte die Bildauflösung dann doch nicht aus.

Brock konnte nachvollziehen, was den Pfandleiher zu seiner Einschätzung gebracht hatte.

Walden war inzwischen ins Bild gekommen, nur sein Rücken war durch die Kameraperspektive zu sehen. Der Junge legte ein paar kleine Gegenstände auf den Tisch, wobei sich sein Mund bewegte.

„Das sind die Rollsiegel“, kommentierte Spengler.

Die Gestik der beiden Personen machte klar, dass Walden an den Siegeln nicht interessiert war.

Dann blitzte es golden auf, und die Uhr kam zum Vorschein.

„Wir lassen eine Vergrößerung von der Uhr machen und zeigen sie der Schwester des Toten. Vielleicht kann sie uns sicher sagen, ob es tatsächlich die Uhr ihres Bruders ist.“

Spengler machte sich eine Notiz.

„Von dem jungen Mann brauchen wir natürlich auch ein paar Fotos. Vielleicht kennen die Kollegen vom LKA 42 ihn sogar.“

„Schon möglich“, meinte Spengler, „die Jungs von der Sitte sind ja oft genug als Zivilfahnder unterwegs. Ich frage mal nach.“

„Die Bahnpolizei sollte auch einen Blick auf das Foto werfen. Wenn der Typ wirklich ein Strichjunge ist, wird ihn jemand erkennen.“

Schweigend sahen sie sich den Rest des Videos an, auf dem nur noch das Verschwinden des Jungen zu erkennen war. Seine hängenden Schultern verrieten, dass er sich ein anderes Ergebnis seines Besuches erhofft hatte.

„Ist das wirklich unser Mörder?“, dachte Spengler laut.

Brock stoppte die Aufzeichnung. „Sehen wir uns die Fakten doch mal an. Diefenbach war schwul, wie seine Schwester bestätigte. Wenn der Junge ein Stricher ist, würde das seine Anwesenheit erklären, vielleicht auch die kleine Verletzung mit der Nagelfeile. Die beiden haben sich im Bett vergnügt, jedenfalls eine Zeit lang. Dann ist etwas Ungewöhnliches passiert. Ich meine nicht nur die Nagelfeile, sondern auch den Grund dafür, weshalb Diefenbach nach unten ging, wo er den tödlichen Stich erhielt. Es muss noch jemand im Haus gewesen sein. Der Junge ist später geflohen und hat ein paar Dinge mitgenommen, die er zu Geld machen wollte.“

Spengler nickte. „Klingt überzeugend.“

„Wir müssen den Jungen finden“, stellte Brock fest. „Wenn er nicht der Mörder ist, hat er ihn vielleicht gesehen.“

„Was ist mit dem ehemaligen Freund von Diefenbach? Dem Türsteher von der Reeperbahn?“

„Den habe ich nicht vergessen. Den gehen wir jetzt besuchen.“

„Der Laden dürfte noch nicht geöffnet sein“, wandte Spengler ein.

„Dann weiß bestimmt jemand, wo er wohnt.“

*



Bei Tageslicht wirkte die Reeperbahn fast wie eine gewöhnliche Straße. Zahlreiche Autos waren unterwegs, während die Fußgänger auf den breiten Bürgersteigen eher spärlich waren. Hier begann das Leben erst nach Einbruch der Dunkelheit.

Die meisten Kneipen, Nachtclubs und Bars sowie die Theater und Stripschuppen waren noch geschlossen. Einige wenige leicht bekleidete Damen lehnten in den Hauseingängen und hofften auf ein schnelles Tagesgeschäft.

Brock und Spengler überquerten die Reeperbahn an der nächsten Ampel, nachdem sie ihren Wagen am Spielbudenplatz geparkt hatten. Die Bar, die sie suchten, befand sich schräg gegenüber der berühmten Davidwache, die auch außerhalb der Hansestadt bekannt war.

„Auch hier hat sich viel verändert“, stellte Brock fest. „Wie überall in der Stadt.“

Spengler nickte nur. Er fühlte sich nicht alt genug, um zu wissen, wie es früher hier ausgesehen hatte. Und mein Chef ist eigentlich auch zu jung, dachte er.

Die Tür zur Bar war nicht verschlossen. Ein Schild verriet die offiziellen Öffnungszeiten. In einer Stunde würde es so weit sein. Damit war zu erwarten, dass Leute vom Personal bereits mit Vorbereitungen beschäftigt sein würden. Rechts und links vom Eingang gab es Schaukästen mit Fotos und Hinweisen auf besondere Veranstaltungen.

Spengler deutete auf einen der Kästen. „Sehen Sie mal, hier gibt es sogar Live-Musik.“

„Wahrscheinlich deutsche Schlager, die sind doch in diesen Kreisen sehr beliebt.“

Drinnen empfing sie leise Hintergrundmusik und gedämpftes Licht. Der Raum war nicht sehr breit, aber langgezogen. Der Bartresen mit zahlreichen Hockern davor befand sich am hinteren Ende. Rechts und links gab es abgetrennte Sitzgruppen auf einem erhöhten Podest, in der Mitte des Raumes eine kleine Tanzfläche neben einer winzigen Bühne mit einem Flügel und einigen Instrumentenständern.

Ein Typ mit einer weißen Schürze wischte die Tische und Stühle ab, ein anderer sortierte Flaschen hinter dem Tresen. Beide blickten auf, als die Kriminalbeamten eintraten.

„Wir haben noch geschlossen!“, blaffte der mit dem Wischtuch in der Hand.

Brock und Spengler streckten ihm ihre Ausweise entgegen.

„Für uns nicht“, sagte Brock.

„Was wollen Sie?“

„Wir würden gern mit Herrn Stefan Matzke sprechen.“

Der Angestellte nahm seine Arbeit wieder auf und widmete sich hingebungsvoll den Stühlen und Tischen. „Kenne ich nicht!“

„Wir können Sie auch mitnehmen und gemeinsam warten, bis die Erinnerung sich wieder eingestellt hat“, erklärte Horst Spengler.

Zwischen den abstehenden Ohren des Mannes schien sich eine rege Gedankentätigkeit zu entfalten, und in seinem Gesicht arbeiteten verschiedene Muskeln, bis er sich zu einer Entscheidung durchgerungen hatte. Er hob die Hand und deutete auf eine Tür neben dem Bartresen.

„Er ist dort hinten. Sie spielen Karten.“

Der Mann an der Bar beobachtete sie misstrauisch, als sie an ihm vorbeigingen, machte aber keine Anstalten sie aufzuhalten. Das wäre ihm wohl auch schwergefallen, denn im Boxring wäre er höchstens als Fliegengewicht durchgegangen.

Die Tür führte in einen kurzen Gang, der mit Getränkekisten vollgestellt war. Weiter hinten war eine schwer gesicherte Tür mit Notausgang beschriftet.

„Das sollte sich das Ordnungsamt mal ansehen“, bemerkte Spengler sarkastisch.

Brock steuerte auf den Raum zu, aus dem Stimmengewirr und seltsame Geräusche drangen.

Vier überraschte Gesichter drehten sich zu ihnen, als sie im Türrahmen standen, die Ausweise in der Hand.

„Welch ein unerwarteter Besuch!“, höhnte eine Stimme, die einem großen Kerl mit gebrochener Nase gehörte.

Brock warf einen Blick auf die Quelle der Geräusche: Spielkarten, die gemischt wurden, und Plastikjetons, die über den Tisch rollten.

„Wie ich sehe, spielen Sie nicht um Geld“, sagte er ironisch.

„Machen wir nie!“, entgegnete ein kleiner Dicker und lachte wiehernd. Die anderen drei stimmten in das Gelächter ein.

Brock wartete entspannt, bis sich die Männer beruhigt hatten. Er hatte sie inzwischen genau gemustert und war sich ziemlich sicher, wer von ihnen Stefan Matzke war. Ein großer bulliger Kerl mit einem Kurzhaarschnitt und Tätowierungen auf beiden Armen hatte zwar mitgelacht, doch seine Blicke waren hin und her gezuckt, als würde er nach einem Ausweg aus einer hoffnungslosen Lage suchen. Seine großen Hände lagen zusammengeballt auf der Tischplatte.

Brock richtete seinen Blick auf den Mann. Er war etwa Mitte dreißig und trug ein knappes T-Shirt, das die Muskeln seines Oberarmes besonders betonte.

„Sie müssen Stefan Matzke sein. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie. Allein, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Es geht um den Tod von Markus Diefenbach. Sie wissen ja sicher, dass er ermordet wurde, oder?“

Der Angesprochene nickte und gab seinen Kumpanen ein Zeichen. Sie verdrückten sich ohne ein weiteres Wort.

Brock und Spengler setzten sich auf die nun freigewordenen Stühle an den Tisch und schoben Spielkarten und Jetons zur Seite. Spengler zückte sein Moleskin-Notizbuch, das ein Geschenk seiner Freundin war, wie Brock wusste. Er löste den Gummizug des schwarzen Büchleins und blätterte eine freie Seite auf.

„Sie waren mit Markus Diefenbach befreundet“, begann Brock das Gespräch.

Matzke zögerte. Sein Blick zuckte zwischen den beiden Beamten hin und her. Er wirkte nervös. Schließlich nickte er.

„Ja, ich kannte Markus flüchtig.“

„Flüchtig?“, wiederholte Spengler. „Nach unserer Kenntnis waren Sie eng befreundet, um nicht zu sagen, Sie waren ein Paar.“

„Wer sagt das?“

„Jemand, der es wissen muss.“

„Homosexualität ist kein Verbrechen“, fuhr Brock fort. „Das ist alles völlig normal und interessiert uns nicht. Was uns jedoch interessiert, ist die Ermordung von Markus Diefenbach. Nach unserer Erfahrung ist bei einem Mord der Täter in den meisten Fällen im Umfeld des Opfers zu suchen. Also reden wir mit den Menschen, die in einer näheren Beziehung zu Diefenbach standen.“

Matzke schlug auf die Tischplatte.

„Wollen Sie behaupten, dass ich ihn ermordet habe?“, brüllte er.

Brock blieb ruhig. „Keineswegs. Doch Sie müssen uns alles über Ihre Beziehung erzählen. Jede Einzelheit könnte wichtig sein. Diese Befragungen dienen auch dazu, jemanden auszuschließen.“

„Es ist richtig. Ich hatte eine Beziehung mit Markus Diefenbach.“

„Wo haben Sie sich kennengelernt?“, fragte Spengler.

„Hier in diesem Club. Er war häufig bei uns, machte hohe Rechnungen und verteilte großzügige Trinkgelder an das Personal. Deshalb sahen wir darüber hinweg, dass er oft andere Gäste anbaggerte, wobei es ihn nicht interessierte, ob diese bereits in festen Händen waren. Es kam deshalb manchmal zum Streit. In diesen Fällen wurde ich gerufen, um die Auseinandersetzung zu beenden. Bei einer solchen Gelegenheit lernten wir uns näher kennen.“

Spengler lachte glucksend. „Haben Sie ihm eine reingehauen?“

Matzke sah ihn strafend an. „Nein. Markus war ziemlich zugedröhnt. Nach der Größe seiner Pupillen zu schließen, hat er sich wahrscheinlich neben dem Alkohol auch eine Linie Koks reingezogen. Ich habe ihm ein Taxi bestellt. Dabei hielt er sich an mir fest und befühlte meine Muskeln. Er bat mich, ihn nach Hause zu bringen. Es würde sich für mich lohnen. Ich tat ihm den Gefallen, und so fing alles an.“

„Wann war das?“, fragte Brock.

„Das ist etwa zwei Jahre her. Es ging eine Zeit lang gut. Ich war oft bei ihm, und er war nicht mehr so häufig im Club. Als ich ihn eines Tages fragte, ob wir nicht zusammenziehen sollten, wurde er sauer. Das wäre noch viel zu früh. Dann hat er noch ein paar abfällige Bemerkungen über mich gemacht. Ich mochte Markus sehr, aber in diesem Moment ging etwas in die Brüche.“

Er schwieg und blickte auf die Tischplatte.

„Wie ging es weiter?“, fragte Brock leise.

„Es kam noch schlimmer. Ich wollte ihn eines Tages besuchen, weil ich mir frei genommen hatte. Normalerweise rief ich ihn an, doch diesmal nicht. Ich hatte es einfach vergessen. Irgendein junger Bursche war bei ihm, wahrscheinlich ein Stricher, den er bezahlt hat. Markus hat sich noch nicht mal entschuldigt und ist fast ausgerastet. Er brüllte rum, dass wir nicht verheiratet seien und dass mich das alles nichts anginge, dass er mit seinem Leben machen könne, was er wolle und dass er mich jetzt nicht sehen wolle. Das war für mich das Ende.“

Eine einsame Träne rann über Matzkes Gesicht.

„Wie lange ist das her?“, fragte Spengler.

„Ein paar Monate.“

„Haben Sie sich seitdem gesehen?“

Matzke nickte. „Ich musste ein paar Sachen abholen, die noch in seinem Haus waren.“

„Wussten Sie, was er beruflich machte?“, erkundigte sich Brock.

„Er handelte mit Kunst und Antiquitäten. Doch davon verstehe ich nichts. Darüber haben wir auch nicht gesprochen. Ich habe nur gelegentlich mitbekommen, dass er mit irgendwelchen Kunden telefonierte. Was er mit ihnen besprach, weiß ich nicht, weil er bei diesen Gelegenheiten mit seinem Handy in ein anderes Zimmer ging.“

„Kam Ihnen das nicht komisch vor?“

„Eigentlich nicht. Seine Geschäfte gingen mich nichts an.“

Spengler hatte sich eifrig Notizen gemacht. Jetzt hob er den Kopf.

„Wann haben Sie Markus Diefenbach zum letzten Mal gesehen?“

„Das ist vielleicht drei oder vier Wochen her. Er kam an einem Samstagabend in den Club, wobei er mich völlig ignorierte. Er hat wieder versucht, sich an andere Gäste heranzumachen, hatte an jenem Abend jedoch keinen Erfolg. Er ging noch vor Mitternacht, wobei er bewusst an mir vorbeigesehen hat.“

„Wo waren Sie in der Nacht des Mordes?“, wollte Brock wissen. „Das war die Nacht vom Sonntag zum Montag.“

Stefan Matzke zupfte an seinem Kinn und versuchte den Eindruck zu erwecken, als müsste er sich konzentrieren.

„Na, ich war hier. Wo sonst? Ich bin am Abend meistens hier.“

„Kann das jemand bezeugen?“

„Sie wollen wissen, ob ich ein Alibi habe?“ Matzke klang verblüfft. „Bin ich verdächtig?“

„Das gehört zur Routine“, erläuterte Spengler. „Also?“

„Hier waren viele Gäste. Ich war oft vor der Tür, um die Gäste zu begrüßen. Aber ich kenne ihre Namen nicht, jedenfalls nicht alle. Doch viele werden mich gesehen haben. Auch meine Kollegen, denke ich.“

„Wann war Ihr Dienst denn zu Ende?“

Matzke wirkte unschlüssig. Endlich bequemte er sich zu einer Antwort: „Ich habe mich am Sonntag nicht so gut gefühlt. Ich glaube, ich bin etwas eher gegangen als sonst.“

„Wann?“, fragte Brock scharf.

„Ich ... ich weiß nicht ... vor Mitternacht wahrscheinlich.“

„Na, schön, dann beenden wir das Gespräch fürs Erste. Bleiben Sie in der Stadt, falls wir weitere Fragen haben.“

Die beiden Beamten spürten Matzkes Blicke im Rücken, der ihnen nachsah, als sie die Bar verließen. Auf der Straße waren inzwischen deutlich mehr Menschen unterwegs, die auf der Suche nach Vergnügungen der verschiedensten Art waren.

„Was halten Sie von seinem angeblichen Alibi?“, erkundigte sich Spengler.

„Nichts. Er hat keins“, erwiderte Hauptkommissar Brock.


Alstermorde: 9 Hamburg Krimis

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