Читать книгу Alstermorde: 9 Hamburg Krimis - Hans-Jürgen Raben - Страница 42

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Als ich sie sah, war mein erster Gedanke: Kein Wunder, dass ihr der Mann weggelaufen ist! Sie war von knochiger Hässlichkeit, hinter den dicken Brillengläsern wirkten ihre Augen scharf und misstrauisch. Zu allem Überfluss hatte sie auf dem Kinn eine behaarte Warze. In ihren leicht strähnigen Haaren zeigten sich die ersten grauen Stellen.

„Sie kommen wegen Bernd?“, fragte sie und zog die Luft durch die Nase.

Ich nickte und zeigte ihr den LKA-Dienstausweis.

Auf der Fußmatte stand in riesigen Lettern WELCOME, aber weder die Frau noch die Wohnung sahen einladend aus. Es herrschte die klinische Sauberkeit eines Operationssaales, alles war wie festgeschraubt, alles hatte einen festen Platz. Keine Zeitungen lagen herum, keine unordentlich hingelegte Decke auf der Couch und die Kissen auf der selbigen waren akkurat gerichtet, in jeder Ecke eins.

Ich schaute mich weiter um und wusste Bescheid. Hier durfte ein Mann nach Feierabend weder die Füße hochlegen geschweige eine Kippe im Aschenbecher lassen. Hier herrschte Ordnung. Noch ein Grund mehr für Bernd Roding, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, dachte ich, aber dann schob ich den Gedanken rasch beiseite.

Schließlich hatte Roding fast ein Vierteljahrhundert an der Seite dieser Frau gelebt. Es war nicht einzusehen, weshalb er ausgerechnet im 56. Lebensjahr eine unwiderstehliche Sehnsucht nach Freiheit verspürt haben sollte.

„Setzen Sie sich, bitte!“, sagte sie und nahm auf einem hochlehnigen Stuhl am Tisch Platz, kerzengerade und auf der vordersten Kante, als ginge es darum, den Stuhl zu schonen. Ich ließ mich ihr gegenüber nieder und versuchte den penetranten Geruch von Putzmittel zu ignorieren, der den Raum erfüllte.

Frau Roding blinzelte mich verkniffen an. Sie schien genau zu wissen, wie sie auf Männer wirkte. Das veranlasste sie offenbar, mir mit eisiger Kühle zu begegnen. Ich legte mein Notizbuch und einen Kugelschreiber auf den Tisch.

„Fangen wir an!“, sagte ich.

„Wissen Sie nicht schon alles?“, fragte sie ungehalten. „Bernd ist vorgestern früh zur gewohnten Zeit weggegangen. Abends kehrte er nicht zurück. Er kam überhaupt nicht wieder! Ich rief am folgenden Morgen seinen Arbeitgeber an und erfuhr, dass er nicht im Büro gewesen war. Bernd hat weder seinen Chef noch mich verständigt. Er ist einfach verschwunden. Kein Mensch weiß wo er ist!“

„Haben Sie die Polizei benachrichtigt?“ Ich war schon recht verwundert, dass eine Ehefrau nach so vielen Jahren Ehe sich keine Sorgen macht, wenn der Ehemann am Abend nicht nach Hause kommt.

„Nein – das hat Herr Geißler erledigt.“ Ich nickte. Geißler war Rodings Chef. Er hatte sich direkt an uns gewandt – aus Gründen, die mit Rodings wichtiger Stellung zusammenhingen.

In Deutschland verschwinden ständig Männer – sie gehen morgens weg, ohne äußere Anzeichen von Erregung, mit den beschmierten Broten in der Tupperbox, und kehren nicht zurück. Sie werden in einer Vermisstenstelle erfasst, ohne dass die Polizei deshalb in große Aufregung gerät. Manche der Männer tauchen nach wenigen Tagen reumütig wieder auf, andere melden sich Wochen später aus Südamerika oder Europa, und einige wenige entdeckt man als Opfer eines Verbrechens.

Bernd Roding war Angestellter bei einer Entwicklungsgesellschaft der Bundesdruckerei und galt als der tüchtigste Mann seines Fachs. Er entwickelt mit einem Team Hard- und Software im Bereich der Erfassung und Personalisierung von ID-Dokumenten.

„Ich brauche Ihnen nicht zu erklären, was das bedeutet“, hatte Herr Hartmann, mein Chef, zu mir gesagt. „Natürlich ist es denkbar, dass sich hinter Rodings Verschwinden ganz private und mehr oder weniger harmlose Gründe verbergen. Es ist aber ebenso gut möglich, dass er entführt wurde. Was ist, wenn eine Fälscherbande auf die Idee gekommen sein sollte, den besten Mann, den sie bekommen konnten, für sich arbeiten zu lassen? Roding bliebe nichts anderes übrig, als sich dem brutalen Zwang einer Gangsterbande zu beugen und genau das herzustellen, was man von ihm fordert.“

Ich blickte die Frau an. „Benutzte Ihr Mann zur Fahrt ins Büro einen Wagen?“, fragte ich.

„Nein, er fuhr mit der U-Bahn.“

„Immer mit dem gleichen Zug?“

„Ja. Bernd ging an jedem Morgen um sieben Uhr vierzig aus dem Haus. Die Station ist nur zwei Minuten von hier entfernt.“

„Auf dem Wege dorthin traf er also stets die gleichen Leute, genau wie im Zug.“

„Das ist anzunehmen.“

„Gibt es Kollegen oder Bekannte, mit denen er auf der Fahrt zur Arbeit ins Gespräch kam?“

„Ja – ein Mann namens Breisinger. Die beiden kennen sich seit Jahren. Herr Breisinger ist Angestellter bei der Maklerfirma Erikson & Erikson.“

„Haben Sie sich mit Herrn Breisinger in Verbindung gesetzt und ihn gefragt, ob er Ihren Mann vorgestern in der U-Bahn getroffen hat?“

„Nein“, sagte sie. „Möchten Sie eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wasser?“, fragte sie höflich.

„Ich werde bei der Maklerfirma mal anrufen, vielleicht bringt uns das weiter. Und ja, eine Tasse Kaffee wäre nett.“

„Tun Sie das“, sagte sie, während sie aufstand um in die Küche zu gehen. Ihr Gang war steif und schwunglos. Ich kramte mein Handy aus der Tasche, googelte die Nummer der Maklerfirma und schrieb sie in mein Notizbuch. Zwei Minuten später hatte ich Herrn Breisinger am Apparat. Ich nannte meinen Namen und erklärte kurz, worum es ging. Während des Telefonats ging ich im Wohnzimmer auf und ab und beobachtete Frau Roding, wie sie mit zwei Tassen Kaffee auf einem Tablett zurückkam.

„Ich habe mich gewundert, wo er bleibt“, erinnerte sich Herr Breisinger. „Er ist doch sonst nie krank gewesen! Und plötzlich war er nicht zur gewohnten Zeit an dem U-Bahnsteig.“

„Wann haben Sie ihn das letzte Mal gesehen?“

„Das war am Montag, also vor drei Tagen.“

Ich bedankte mich, legte auf und nahm dann wieder am Tisch Platz. „Offenbar hat Ihr Mann vorgestern morgen die U-Bahn nicht benutzt“, sagte ich. „Es sei denn, er ist in einen anderen Wagen gestiegen, um ein Zusammentreffen mit Herrn Breisinger zu vermeiden.“

„Dazu bestand doch kein Grund!“, meinte sie. Ihre nadelkopffeinen Pupillen schienen mich durchbohren zu wollen. Sie hatte sehr blasse, schmale Lippen, die sie beim Sprechen kaum bewegte.

„An dem betreffenden Morgen hat er also vermutlich einen anderen Weg oder ein anderes Transportmittel gewählt“, stellte ich fest.

„Mit dem Wagen ist er nicht gefahren“, erklärte Frau Roding. „Der steht in der Garage.“

„Was hatte Herr Roding an, als er vorgestern Morgen das Haus verließ?“

„Eine graue Flanellhose. Dazu trug er ein weißes Hemd mit blaugrau gestreifter Krawatte und schwarze Halbschuhe. Er hatte einen Öko-Beutel mit Obst und eine Tupperdose mit Broten bei sich – sonst nichts.“ „Bargeld?“

„Zehn Euro fünfzig“, erwiderte sie. Ich war nicht überrascht, dass sie auf den Cent genau Bescheid wusste. Bestimmt teilte sie ihm das Taschengeld in wöchentlichen Raten zu. Innerlich bedauerte ich diesen armen Kerl, er hatte bei dieser Frau sicher nichts zu lachen.

„Es war an dem betreffenden Morgen wie sonst – oder?“

„Völlig ruhig und normal“, bestätigte sie. „Bernd ist kein Mann, der vor oder nach dem Frühstück viel spricht. Überhaupt macht er den Mund ungern auf.“

„Ich muss jetzt einige Fragen stellen, die Sie möglicherweise etwas peinlich berühren“, sagte ich. „Ich hoffe, Sie ziehen daraus keine falschen und voreiligen Schlüsse, aber...“

„Schon gut“, unterbrach sie mich. „Sie sind Polizist und müssen an jede Eventualität denken. Bitte.“

„Wie hoch sind Herrn Rodings Ersparnisse?“

„Einhundertfünfzigtausend Euro“, erwiderte sie prompt und mit einem kurzen, stolzen Aufleuchten der Augen.

Das war eine Menge Geld, aber die Angabe entsprach meinen Erwartungen. Herr Rodings Tätigkeit war gut bezahlt. An der Seite dieser Frau dürfte er kaum Gelegenheit gehabt haben, viel auszugeben.

„Ist kurz vor oder nach seinem Verschwinden etwas von dem Geld abgehoben worden?“

„Nein.“

„Sie wissen, wie viel Ihr Mann verdient?“

„Natürlich“, sagte sie. „Ich habe den völligen Überblick auf unsere Bankkonten. Es ist ihm lieber, wenn ich das Geld verwalte.“

„Frönt er irgendwelchen Hobbys?“

„Er sitzt jeden Abend vor dem Fernseher und starrt in die Glotze“, sagte sie. „Dazu trinkt er eine Flasche Bier. Damit ist er zufrieden.“

„Gibt es Dinge, für die er sich besonders interessiert?“

„Er schaut sich gern die Sportsendungen an, vor allem Fußball. Außerdem liest er ab und zu mal einen Kriminalroman.“

„Empfing er in den letzten Tagen vor seinem Verschwinden Briefe oder Anrufe, die ihn aufregten oder in Unruhe versetzten?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Wer ist sein bester Freund?“

„Tja – ich würde sagen, dass er sich mit Herrn Breisinger am besten versteht.“

Ich steckte Notizbuch und Kugelschreiber ein und erhob mich. „Vielen Dank, Frau Roding – das ist zunächst alles.“

Die Frau stand auf, sehr schnell, wie mir schien, und irgendwie erleichtert.

„Ich bin in schrecklicher Sorge!“, sagte sie. Die Worte klangen wenig überzeugend und irgendwie einstudiert. „Wenn ich nur wüsste, was dahintersteckt! Ich kann mir nur denken, dass er einen Unfall hatte.“

„Er trägt doch seine Papiere bei sich, nicht wahr? In diesem Fall wären Sie also längst benachrichtigt worden.“

„Ja, gewiss – aber in letzter Zeit leidet Bernd gelegentlich an Schwindelanfällen und Gleichgewichtsstörungen. Ich befürchte, dass er in irgendeiner dunklen Ecke zusammengebrochen ist und noch nicht gefunden wurde.“

„Gibt es auf dem Wege vom Haus zur U-Bahn-Station solche dunklen Ecken?“

„Eigentlich nicht...“, sagte sie zögernd.

„Befindet er sich wegen dieser Geschichten in ärztlicher Behandlung?“

„Nein. Ich habe ihn wiederholt dazu aufgefordert, aber er hat eine unüberwindliche Abneigung gegen alle Ärzte.“

„Warum?“

„Das frage ich ihn auch immer. Er weiß darauf keine Antwort.“

In diesem Moment ertönte aus dem Nebenzimmer ein Geräusch. Es hörte sich an, als fiele ein schwerer, metallischer Gegenstand zu Boden.

Ich war mit wenigen Schritten an der weißlackierten Tür und riss sie auf.

Drei Meter von mir entfernt stand ein Mädchen. Sie war nicht viel älter als zwanzig Jahre.

Das Mädchen war hellblond, ziemlich groß und sehr schlank. Sie war umwerfend schön. Und wahnsinnig interessant. In der Rechten hielt sie nämlich eine Waffe. Die Mündung zielte genau auf mein Herz.

„Habe ich Sie erschreckt?“, fragte ich.

Alstermorde: 9 Hamburg Krimis

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