Читать книгу Alstermorde: 9 Hamburg Krimis - Hans-Jürgen Raben - Страница 28
10. Kapitel
ОглавлениеAls Hauptkommissar Cornelius Brock das Flugzeug verließ, spürte er, dass hier auf Sizilien vieles anders war als in seiner Heimatstadt: die Luft wärmer, der Himmel blauer, die Gerüche intensiver. Es war auch lauter.
Dennoch konnte er ein Gähnen nicht unterdrücken. Er war sehr früh aufgestanden, um die erste Maschine nach Frankfurt zu erwischen. Zum Glück war es von seiner Wohnung in der Alsterdorfer Straße nicht sehr weit zum Flughafen. Der Taxifahrer hatte zu dieser frühen Stunde nur gut zehn Minuten gebraucht.
Er trug als einziges Gepäckstück eine schmale Aktenmappe bei sich, da er am gleichen Tag zurückfliegen wollte. Während sich die anderen Passagiere um das Gepäckband scharten, ging er direkt zum Ausgang.
Er hatte noch in Hamburg überlegt, ob er die Polizeikollegen in Palermo über seinen Besuch informiere sollte, hatte sich jedoch dagegen entschieden. Schließlich wollte er hier keine Ermittlungen durchführen, sondern nur ein fast privates Gespräch führen.
In der Ankunftshalle war viel Betrieb, der Geräuschpegel enorm. Ankommende Reisende wurden lautstrak von ganzen Pulks von Menschen begrüßt Rufe, Gesprächsfetzen, Lautsprecherdurchsagen, das Geräusch rollender Koffer. Brock blieb einen Moment stehen, um sich an die neue Umgebung zu gewöhnen.
Dann entdeckte er das handgeschriebene Schild, das ein bulliger Kahlkopf vor seine Brust hielt. Die Narbe auf seiner rechten Wange gab ihm ein gefährliches Aussehen.
Block – stand da in etwas ungelenken Buchstaben.
Er ging auf den Mann zu, der ihm sofort seine Aufmerksamkeit zuwandte.
Er tippte auf das Schild. „Das ist nicht ganz richtig, Ich heiße Brock. Sie wollen mich abholen?“
Der andere nickte und antwortete ebenfalls in englischer Sprache. „Guten Morgen. Ich bin Gino und bringe Sie zu Mister Tomaselli.“
Dann drehte er sein Schild um und studierte die Buchstaben, die er offensichtlich selbst geschrieben hatte.
„Brock!“, sagte er laut und grinste. „Tut mir leid. Kommen Sie.“
Gino sah nicht so aus, als würde ihm der kleine Fehler wirklich leidtun. Er drehte sich um und ging in Richtung Ausgang. Brock blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Der Sizilianer trug über seiner Hose ein kurzärmeliges weit geschnittenes weißes Hemd.
Draußen traf ihn die sommerliche Hitze erst richtig, und er spürte, wie ein feiner Schweißfilm seinen Nacken überzog.
Gino steuerte auf eine dunkelblaue Maserati-Limousine zu, die direkt vor dem Ausgang geparkt war, drei Meter von einem Halteverbotsschild entfernt. Ein uniformierter Polizist stand neben dem Auto. Brock dachte, jetzt würde es einen Strafzettel geben, doch der Polizist legte nur grüßend die Hand an seinen Mützenschirm und trat achtungsvoll einen Schritt zurück, als er Gino bemerkte. Offensichtlich hatte er das Auto bewacht.
Hier gingen die Uhren wohl etwas anders, wenn man ein wichtiger Mann war, und das schien Allessandro Tomaselli zu sein. Der Name einer bestimmten Organisation drängte sich in seine Gedanken, doch es wäre wohl keine gute Idee, ihn jetzt auszusprechen.
Gino öffnete die hintere Tür.
„Ich sitze lieber vorn“, sagte Brock und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der Wagen roch wie neu und war äußerst gepflegt. Gino schwang sich hinter das Steuer und startete den Motor. Es war kaum etwas zu hören.
„Sind Sie Mister Tomasellis Chauffeur?“, fragte Brock.
„Gelegentlich“, kam die knappe Antwort.
Sie verließen den Flughafenbereich, durchquerten einige städtische Areale, und erreichten schließlich eine Schnellstraße, die sie aus der Stadt hinausführte.
„Der Padrone wohnt außerhalb“, erläuterte Gino. „Es wird eine Weile dauern.“
Brock beschloss, die vorbeifliegende Landschaft zu genießen, die im Wesentlichen aus Wohnvierteln und Industrieanlagen bestand. Der Verkehr hielt sich in Grenzen. Hin und wieder sah Brock das Aufblitzen des Meeres. Sie fuhren in Küstennähe.
Endlich wurde der Wagen langsamer, und sie verließen die mehrspurige Schnellstraße. Hier gab es keine Hochhäuser mehr, sondern Gärten und Villen.
„Dort vorn ist es“, sagte Gino.
Sie kamen an einer langen Mauer vorbei, die plötzlich durch ein breites Gittertor unterbrochen wurde. Hinter der Mauer war ein kleines Wachhäuschen zu sehen. Gino betätigte eine Fernbedienung, und das Tor schwang auf.
Aus dem Häuschen trat junger ein Mann in Khakikleidung und mit einer Baseballmütze auf dem Kopf. Über seiner Schulter hing eine Schrotflinte. Er hob grüßend die Hand, und sie rollten auf das Gelände.
Brock registrierte aufmerksam alle Einzelheiten. Tomaselli schien sehr um seine Sicherheit besorgt, und auch der Fahrer war bewaffnet. Brock hatte den Umriss der Pistole unter Ginos Hemd gut erkennen können.
Das Grundstück war riesig. Der asphaltierte Weg führte an Hecken und Blumenrabatten vorbei, an denen zwei Gärtner arbeiteten, die sich von dem vorbeifahrenden Auto nicht stören ließen. Auf dem kleinen Hügel, der direkt vor ihnen lag, standen Pinien und Zypressen.
Als sie den Hain durchfahren hatten, öffnete sich ein fantastischer Anblick. Das Grundstück befand sich auf einer Art Halbinsel, die auf drei Seiten vom Meer umgeben war. Brock kniff die Augen zusammen, da ihn das Glitzern des Wassers blendete.
Ein Stück den Hang hinunter erhob sich eine prachtvolle Villa, eher schon ein Palast. Etwas entfernt davon gab es noch einige Nebengebäude.
Das Haupthaus war im Stil der Renaissance erbaut. Brock kam sofort der berühmte Architekt Palladio in den Sinn, der im sechzehnten Jahrhundert zahlreiche Bauten in seinem typischen Stil entworfen hatte, die teilweise noch heute existierten.
Typisch waren der Säulenvorbau mit den seitlichen Treppen im Zentrum des Gebäudes, sowie die sorgfältig gegliederte Fassade. Auch modernere Architekten hatten sich gelegentlich bei den Ideen Palladios bedient, vor allem im neunzehnten Jahrhundert bei der Planung öffentlicher Gebäude.
Gino hielt auf dem Vorplatz direkt vor einer der Treppen. Er stieg aus, kam um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür.
„Kommen Sie, bitte. Der Padrone erwartet Sie.“
Gino stieg vor ihm die Treppe hoch. Ein Flügel der breiten und ungewöhnlich hohen Eingangstür stand offen. Gino blieb stehen und ließ ihm den Vortritt.
Cornelius Brock trat ein und fühlte sich wie in einem Museum. Er stand in einer halbrunden Empfangshalle auf einem schwarz-weißen Marmorboden. Ringsum an den Wänden waren lebensgroße Statuen auf Sockeln platziert. Geradeaus führte eine breite Freitreppe nach oben. Zu beiden Seiten öffneten sich Durchgänge in die weiteren Räume. Von dem Kuppelgewölbe hing ein gewaltiger Kronleuchter aus Murano.
Zwischen den Statuen standen einige Vitrinen, die in der großen Halle etwas verloren wirkten. Bei den darin ausgestellten Gegenständen schien es sich um antike Stücke zu handeln.
Aus dem rechten Durchgang trat plötzlich ein Mann, der ihm freundlich zunickte.
„Buongiorno, commissario. Ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen Flug.“
Der Mann trat näher, sein Englisch war fast akzentfrei. Er streckte Brock die Hand entgegen.
„Ich bin Allessandro Tomaselli. Ich freue mich, dass Sie es einrichten konnten, mich zu besuchen.“
Brock schüttelte die angebotene Hand. „Cornelius Brock. Sie sagten, dass Sie interessante Neuigkeiten für mich hätten.“
Tomaselli lächelte. „In der Tat. Kommen Sie, wir setzen uns in die Loggia.“
Ihre Schritte hallten auf dem Marmor, während sie den Raum durchquerten, und Brock hatte Gelegenheit, seinen Gastgeber zu mustern. Tomaselli war um die fünfzig Jahre alt, groß, von hagerer Gestalt, und er trug teure Kleidung. Als Brock hinter ihm ging, roch er ein angenehmes Duftwasser.
Der Sizilianer hatte gelächelt, war höflich und zuvorkommend – und dennoch: Als sie sich begrüßten, waren Brock die eisgrauen Augen hinter der randlosen Brille aufgefallen. Sie hatten nicht mitgelächelt.
Die Loggia, also eine überdachte Terrasse, nahm die halbe Breite des Gebäudes ein. Von hier aus hatte man über einen sanft abfallenden Hang einen freien Blick auf das Meer. Brock genoss die Aussicht, bevor er sich auf einen der angebotenen Stühle setzte, die um einen runden Tisch gruppiert waren. Auf einem Servierwagen in der Nähe waren Gläser und Flaschen aufgebaut.
„Was darf ich Ihnen zu trinken anbieten?“
„Ein Glas Orangensaft wäre jetzt das Richtige.“
Tomaselli füllte zwei Gläser aus einem silbernen Krug und stellt sie auf den Tisch. „Eine gute Wahl“, erklärte er. „Die Orangen stammen aus eigenem Anbau. Meine Familie ist seit sehr langer Zeit in der Landwirtschaft tätig.“
Brock verstand unbewusst, dass er nicht gleich zum eigentlichen Thema kommen durfte. Das galt hier vermutlich als äußerst unhöflich. Also ließ er sich auf ein allgemeines Gespräch ein.
„Sie haben ein wundervolles Haus“, begann er. „Es sieht nach einem Entwurf von Palladio aus.“
In Tomasellis Gesicht erschien ein respektvollerer Ausdruck.
„Im Prinzip schon“, erwiderte er. „Sie wissen sicher, dass dieser große Architekt bis heute kopiert wird? Nun, dieses Gebäude wurde von meinen Vorfahren in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts errichtet, als die Stile der Vergangenheit wieder modern wurden. Vorher stand hier ein Barockbau, der aber so baufällig geworden war, dass er abgerissen werden musste. Meine Familie verfügte nicht zu allen Zeiten über die nötigen Mittel.“
„Sie leben schon lange hier?“
Tomaselli nickte. „Meine Familie stammt eigentlich aus einem kleinen Dorf im Landesinneren. Das ist viele Generationen her. Durch fleißige Arbeit und – wie ich zugeben muss – eine geschickte Heiratspolitik wuchs das Vermögen. Keiner der Erben hat es verschleudert. Heute gehören uns große Ländereien auf der Insel. Wir bauen Oliven, Tomaten und Wein an. Dazu kommen die entsprechenden Verarbeitungsbetriebe sowie Transportunternehmen. Wir bieten vielen Familien Arbeit und ein entsprechendes Einkommen. Das war auf Sizilien nicht immer selbstverständlich.“
Brock verkniff sich jede Erwähnung der Mafia, die viel dazu beigetragen hatte, dass Sizilien zu einem Armenhaus wurde. Einer seiner Kollegen hatte ihn gewarnt, diesen Begriff tunlichst nicht zu gebrauchen. Das würde in diesem Haus ganz gewiss nicht gut ankommen.
„Kennen Sie die Geschichte der Insel?“, fuhr Tomaselli fort.
„Nur sehr flüchtig.“
„Sizilien war eigentlich immer unter fremder Herrschaft. Die Griechen, die Karthager, die Römer – später die Araber und die Normannen. Der einzige Herrscher, den die Sizilianer wirklich liebten, war der Stauferkönig Friedrich der Zweite. Er ist hier in Palermo begraben. Nach ihm kamen die Spanier und sogar eine Zeit lang die Österreicher. Erst in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Insel mit Italien vereint. Zu dieser Zeit entstand auch dieses Haus. Nach dem zweiten Weltkrieg wurde Sizilien zu einer autonomen Region innerhalb Italiens. Eine so lange Fremdherrschaft verändert natürlich auch die Natur der Menschen, die hier leben.“
Will mir Tomaselli die Bedeutung der verbrecherischen Mafia schmackhaft machen? Gehört er selbst zu diesen Leuten? Es spricht vieles dafür.
Eine Bewegung unten am Hang, in der Nähe der Küste, erregte Brocks Aufmerksamkeit. Zwei Männer in ähnlicher Kleidung wie der Wachtposten am Tor patrouillierten dort auf einem schmalen Weg. Sie führten einen großen Hund an einer Leine. Über ihren Schultern ragten die Läufe von Gewehren. Sicherheit wurde hier großgeschrieben. Es würde seine Gründe haben.
„Wir stießen in den Unterlagen von Markus Diefenbach auf Ihren Namen“, kam Brock endlich zur Sache. „Er hat Ihnen kürzlich einige Artefakte verkauft.“
Tomaselli lächelte schwach. „Das ist richtig. Ich hatte geschäftlich in Genf zu tun und nutzte die Gelegenheit, um eine Antiquitätenmesse zu besuchen. Dort stieß ich auf den Verkaufsstand von diesem Diefenbach. Er hat mir einige interessante Objekte gezeigt, die ich dann gekauft habe.“
„Sind Sie Sammler?“
Tomaselli überlegte kurz, ehe er antwortete.
„In diesem Haus befinden sich viele wertvolle Dinge, die von Generationen meiner Vorfahren zusammengetragen worden sind. Sehr unterschiedliche Dinge. Ich wollte und will etwas Eigenes aufbauen. Moderne Kunst oder Design sammeln fast alle. Also habe ich mich entschlossen, mich auf Antiken zu verlegen. Keiner meiner Bekannten hat eine solche Sammlung, die im Übrigen auch gut zum Stil dieses Hauses passt. Meine Besucher sind fasziniert von den alten Stücken.“
„Ich frage mich ...“ Brock brach ab, weil er nicht recht wusste, wie er die Frage formulieren sollte.
Tomaselli lachte auf. „Ich weiß schon, was Sie sich fragen. Ist es mir egal, ob es sich um Originale oder Fälschungen handelt? Ich habe meine Erwerbungen von Diefenbach durch einen Experten prüfen lassen, und daher weiß ich, dass er mir zwei Fälschungen verkauft hat. Das habe ich schon in Genf geahnt. Ich wollte jedoch unbedingt die echte etruskische Bronze haben, die mehr wert ist, als ich für alle drei Stücke bezahlt habe. Außerdem merkt keiner meiner Gäste, ob die ausgestellten Stücke echt sind oder nicht. Ich wollte den Kunsthändler bei Laune halten, da ich hoffte, er würde mir noch weitere echte Artefakte anbieten. Damit wird es ja nun nichts mehr.“
Mit dieser Antwort zerrann ein eventuelles Mordmotiv wie Butter in der sizilianischen Sonne.
„Haben die hiesigen Medien über einen Mord in Hamburg berichtet?“, wollte Brock wissen.
„Nein, das habe ich aus anderer Quelle erfahren, und damit kommen wir auch zum Grund Ihres Besuches.“
Brock beugte sich vor. „Sie machen mich neugierig.“
Ein merkwürdiges Lächeln erschien auf Tomasellis Gesicht. Er machte eine kurze Handbewegung, und wie aus dem Boden gewachsen, stand plötzlich Gino neben ihm. Brock hatte ihn nicht kommen hören.
Der Chauffeur trug in der Hand einen kleinen Gegenstand, den er auf die Mitte der Tischplatte legte.
Brock erkannte sofort, worum es sich handelte. Es war ein USB-Stick!
Er wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. „Darf ich fragen, was dort gespeichert ist?“
Tomasellis Lächeln wurde breiter.
„Auf diesem Datenspeicher finden Sie Fotos und auch kurze Videos. Sie wurden vor dem Haus von Markus Diefenbach aufgenommen. Am Abend seines Todes. Ich kann mir vorstellen, dass sie für Ihre Ermittlungen sehr nützlich sein könnten.“
Brocks Blick wanderte zu Gino. „Sie haben das aufgenommen. Sie saßen in einem Auto und haben während Ihrer Beobachtung Zigaretten geraucht.“
Gino senkte den Kopf. Tomasellis Lächeln gefror.
Für eine Weile herrschte Schweigen, während alle auf den winzigen Gegenstand starrten, der unschuldig auf dem Tisch lag und nicht verriet, welche Geheimnisse er verbarg.
„Ihr Auto wurde bemerkt“, erklärte Brock schließlich. „Mich würde interessieren, aus welchem Grund Sie das Haus des Kunsthändlers beobachtet haben.“
„Ich behalte die Menschen, mit denen ich Geschäfte mache, gern im Auge, zumindest am Anfang“, beantwortete Tomaselli die Frage.
Brock fragte sich insgeheim, ob dies alles ein Ablenkungsmanöver war. Denn mit der Anwesenheit von Gino am Tatort wurde Tomasellis Motiv durch die bisher fehlende Gelegenheit ergänzt. Seine Neugier auf den Inhalt des Datenspeichers wuchs.
Soll vielleicht dadurch die Schuld an Diefenbachs Tod jemand anderem in die Schuhe geschoben werden?
Tomaselli schien Brocks Gedanken zu ahnen. „Das Material ist echt. Ebenso wie die Zeitstempel.“
Er stand abrupt auf. „Nehmen Sie ihn. Gino wird Sie zurück zum Flughafen bringen.“
„Könnte ich vielleicht einen Blick ...?“
„Nein!“ Tomaselli schien jedes Interesse an Brock verloren zu haben.
„Schauen Sie es sich in Hamburg an“, sagte er, während er zurück ins Haus ging. „Anschließend vergessen Sie am besten, dass wir uns je getroffen haben.“
„Fahren wir“, ergänzte Gino. „Wenn wir uns beeilen, schaffen Sie die nächste Maschine nach Rom.“
Brock entgegnete nichts, schnappte sich den USB-Stick und folgte Gino.
Hier gab es nichts mehr zu sagen.
*
Zur gleichen Zeit betrat Kommissaranwärter Horst Spengler den Laden im Erdgeschoss des Hauses, in dem Jonas Dücker ermordet worden war. Er wusste, dass den Zeugen bei einem zweiten Gespräch oft noch Dinge einfielen, die sie in der ersten Aufregung vergessen hatten.
Sein Chef hatte ihn gebeten, während der Reise nach Palermo noch einmal in den Laden zu gehen, da sie nach der Entdeckung des Toten zu abgelenkt waren, um erneut mit dem Ladenbesitzer zu sprechen. Bei ihrem ersten Besuch hatten sie schließlich noch nichts von dem Mord gewusst und daher auch nicht fragen können, ob er irgendeine fremde Person gesehen hätte.
Es war wie eine Wiederholung der gleichen Szene. Die Glocke bimmelte, und nach einer Weile schlurfte der alte Mann aus dem dunklen Hintergrund heran. Er schien Spengler wiederzuerkennen.
„Ach, Sie sind es. Haben Sie etwas gesehen, das Sie kaufen möchten? Sehen Sie sich um. Sie finden bestimmt einige interessante Dinge.“
Spengler schüttelte den Kopf. „Das ist nicht der Grund meines Besuches.“
Ein listiger Ausdruck erschien auf dem Gesicht des Alten. „Sie wollen wissen, ob ich jemanden gesehen habe, der nicht zum Haus gehört, oder?“
„Ja, das ist genau der Grund, weshalb ich hier bin. Haben Sie jemanden gesehen?“
„Wollen Sie nicht doch etwas kaufen? Wissen Sie, mein Gedächtnis ist nicht mehr so gut wie früher.“
Er kicherte. „Schauen Sie mal, diese Schreibtischlampe müsste zu Ihnen passen. Da fehlt nur der Schirm, der ist leicht zu ersetzen. Für zehn Euro gehört sie Ihnen.“
Spengler begriff, dass die Information, die er brauchte, ihren Preis hatte. Knurrend zücke er seine Brieftasche und drückte dem Mann den gewünschten Betrag in die Hand.
„Wie steht es jetzt mit Ihrer Erinnerung?“
Der Alte nickte bedächtig mit dem Kopf. „Jetzt, wo Sie danach fragen. Ich erinnere mich an den Tag, bevor Sie mit Ihrem Kollegen bei mir erschienen sind. Also, an dem Abend davor, ich wollte gerade mein Geschäft abschließen, da sah ich einen Mann, der offenbar ins Haus gehen wollte. Den hatte ich noch nie zuvor gesehen.“
„Wann war das?“
„Das war kurz vor acht, glaube ich.“
„Können Sie den Mann näher beschreiben?“
„Tja, da müsste ich überlegen. Ich bin nicht sicher, ob ich meine Brille aufgesetzt hatte. Während ich nachdenke, können Sie sich diese Federschale ansehen. Sie passt hervorragend zu der Lampe. Die Schale hat ein paar Kratzer, aber sie ist auch billig. Ich denke, für zehn Euro könnte sich sie Ihnen überlassen.“
Innerlich kochend, zückte Spengler einen weiteren Schein. Der wertlosen Blechschale widmete er keinen weiteren Blick.
„Ich habe hier ein paar Fotos. Vielleicht erkennen Sie den Mann, den Sie gesehen haben.“
Nacheinander zeigte er die Bilder. Moosbacher und den jungen Ägypter, deren Fotos während der kurzen Untersuchungshaft aufgenommen worden waren. Stefan Matzke, dessen Foto aus einer alten Polizeiakte stammte, als er wegen einer Körperverletzung festgenommen worden war. Schließlich Professor Hochstein, dessen Foto von dem Faltblatt stammte, dass Brock mitgenommen hatte.
Der Alte studierte die Fotos aufmerksam – ohne Brille.
Schließlich tippte er auf eines der Bilder, nachdem er sie ein zweites Mal durchgesehen hatte.
„Ich bin nicht ganz sicher, aber wenn ich mich festlegen müsste, dann war es dieser hier.“
Spengler atmete erleichtert aus. Endlich ein brauchbarer Zeuge!
„Danke. Sie haben mir sehr geholfen.“ Spengler eilte zum Ausgang und drehte sich noch einmal um. „Sie würden doch auch vor Gericht bei Ihrer Aussage bleiben?“
Der Alte nickte.
„Ihre Einkäufe!“, rief er ihm hinterher.
„Draußen steht ein großer Müllbehälter. Nehmen Sie den!“
*
Horst Spenglers nächster Weg führte ihn wieder auf die Reeperbahn. Da war noch eine offene Frage mit Stefan Matzke zu klären, dem ehemaligen Freund von Markus Diefenbach.
Dass er die Nummer von Matzke in der Kontaktliste des Telefons von Jonas Dücker entdeckt hatte, hatte er seinem Chef gerade noch rechtzeitig mitteilen können. Insofern machte er diesen Besuch nicht auf eigene Faust. Er hoffte, nach Brocks Rückkehr aus Palermo eine befriedigende Antwort auf die Frage präsentieren zu können, woher sich die beiden kannten.
Auch an diesem Tag hatte die Bar noch nicht geöffnet. Auf den ersten Blick wirkte die Reeperbahn zu dieser Tageszeit wie eine ganz normale Straße. Erst am Abend, wenn überall die Reklamelichter funkelten, wurde sie zur berühmten Vergnügungsmeile, die immer noch zahlreiche Touristen anzog, die in ihren Heimatstädten nichts Vergleichbares vorfanden.
Die Tür zur Bar war, wie auch beim letzten Mal, nicht verschlossen. Die Musik war heute jedoch deutlich lauter.
Er musste sich nach dem hellen Tageslicht einen Augenblick an die dunkle Atmosphäre im Inneren gewöhnen.
Aus einer schwer einsehbaren Ecke drang Klatschen und Johlen. Spengler zwängte sich an der Bar vorbei, bis er die Quelle der Geräusche identifizieren konnte. Ein Pulk Männer stand dort dicht gedrängt vor einer Wand. Nach der Kleidung zu urteilen, handelte es sich um das Personal der Bar.
Beim Näherkommen entdeckte Spengler den Grund der Zusammenkunft. Stefan Matzke stand vor einer Dartscheibe mit einem Wurfpfeil in der Hand. Er zielte sorgfältig. Zwei Pfeile steckten bereits in der Scheibe. Spengler verstand nichts von den Feinheiten des Spiels. Nach der Reaktion der Zuschauer zu urteilen, schien es jetzt um den entscheidenden Wurf zu gehen.
Ein fast atemloses Schweigen breitete sich aus.
„Hallo, Herr Matzke!“, rief Spengler in dem Moment, als der Angesprochene warf. Vor Schreck verriss er den Wurf, und der Pfeil traf die Wand knapp neben der Scheibe und fiel zu Boden.
Ein halbes Dutzend Gesichter wendeten sich zu ihm um. In Matzkes Augen funkelte kalter Zorn. Er ließ die noch erhobene Hand langsam sinken.
Spengler ging auf ihn zu, während sich die Zuschauer rasch verdrückten. Sie hatten sofort erkannt, dass er Polizist war, und wollten keinesfalls in seiner Nähe sein.
„Was wollen Sie?“, fragte Matzke mit mühsam unterdrückter Wut.
„Nur mit Ihnen reden.“
„Sie hätten mich anrufen können.“
„Wir sehen den Menschen gern in die Augen, wenn wir mit ihnen reden.“
Er drehte den Kopf. „Können wir uns irgendwo setzen?“
Matzke hob die Hand. „Dort drüben in der Sitzecke. Da ist die Reinigungstruppe schon durch.“
Das Personal hatte sich inzwischen im Raum verstreut und ging verschiedenen Beschäftigungen nach. Gläser klirrten, ein Staubsauger heulte auf, und ein junger Mann schleppte eine Leiter auf die Tanzfläche, um anschließend an einem der Scheinwerfer das Leuchtmittel auszutauschen.
„Sie haben mich gerade fünfzig Euro gekostet“, murrte Matzke. „Ich hätte den Pfeil ganz sicher genau ins Ziel gebracht, als Sie mich angesprochen haben.“
„Das tut mir echt leid.“
Spenglers Gesichtsausdruck strafte ihn Lügen, und Matzke biss die Zähne zusammen.
„Na, los! Ich habe nicht viel Zeit.“
Spengler blätterte in seinem Notizbuch.
„Sie haben uns bei unserem letzten Besuch erzählt, dass Markus Diefenbach einen jungen Mann in seinem Haus hatte. Einen Stricher, wie Sie vermuteten.“
Matzke nickte. „Ein widerlicher Bengel. Ich ahnte, wer er war. Markus hat mir oft vorgehalten, wie gut dieser Jonas im Bett sei.“
„War er vorher nur einmal dort? Oder haben Sie Jungen mehrfach bei Ihrem damaligen Freund angetroffen?“
Matzke kniff die Augen zusammen. „Ich weiß nicht. Ich bin nicht sicher. das ist schon so lange her.“
„Kannten Sie seinen Namen?“
Matzke schüttelte den Kopf. „Natürlich nicht. Mit so einem Typen wollte ich nichts zu tun haben. Ich wusste auch nicht, wo Markus ihn aufgegabelt hat. In Hamburg gibt es diverse Treffpunkte, wo man diese Kerle findet.“
„Und Sie haben seine Dienste nie in Anspruch genommen?“, bohrte Spengler nach.
Eine leichte Röte kroch über Matzkes Wangen. „Ich gebe mich doch nicht mit einem so versifften Wichser ab!“
Aus seinen Worten klang echte Empörung.
„Dann frage ich mich“, fuhr Spengler mit sanfter Stimme fort, „weshalb wir in seiner Kontaktliste Ihren Namen gefunden haben.“
Matzke starrte ihn sprachlos an.
„Das ... das ... kann ich mir auch nicht erklären. Vielleicht hat er sie von Markus bekommen. Für den Notfall. Falls Markus etwas zustößt.“
Er schien sich für die Idee zu begeistern. „Es kann ja immer was passieren. Markus mochte es gern auf die harte Tour. Mir war es irgendwann zu viel. Wahrscheinlich war das einer der Gründe, weshalb er sich von mir getrennt hat. Er brauchte wohl einen anderen Partner für seine Fantasien.“
Spengler klappte sein Notizbuch zu. „Klingt einleuchtend. Dann bleibt nur noch die Frage, warum Jonas Dücker, das war nämlich der Name des Jungen, kurz vor seinem Tod ausgerechnet Sie angerufen hat. Haben Sie dafür eine Erklärung?“
Langes Schweigen, bis sich Matzkes Gesicht aufhellte.
„Jetzt fällt es mir wieder ein. Er wollte mir erzählen, dass Markus ermordet worden ist.“
Er blickte Spengler fast bittend an, wohl in der Hoffnung, dass man ihm diese lahme Ausrede abnehmen würde.
Spengler erhob sich.
„Ach, ja?“, war sein einziger Kommentar.