Читать книгу Alstermorde: 9 Hamburg Krimis - Hans-Jürgen Raben - Страница 24
8. Kapitel
Оглавление„Ich habe inzwischen eine Antwort vom Landeskriminalamt München bekommen“, verkündete Kommissaranwärter Horst Spengler. „Sie erinnern sich, es ging um diese Verbindung zu einer Frau Moosbacher, zu der Diefenbach eine lange Geschäftsbeziehung unterhielt.“
„Ja, was ist mit ihr?“, fragte Hauptkommissar Brock zurück.
„Sie wurde vor einigen Tagen festgenommen.“
Brock setzte sich hinter seinen Schreibtisch. „Bitte?“
Spengler bekam glänzende Augen, wie immer, wenn er interessante Neuigkeiten zu verkünden hatte.
„Es gab einen anonymen Hinweis, dass Thekla Moosbacher mit illegal ausgegrabenen antiken Stücken handelt, die sie privat an Sammler weiterverkauft oder über das Auktionshaus, in dem sie beschäftigt ist, in den Markt schleust. Der Anrufer besaß wohl ziemlich präzise Kenntnisse, sodass es zu einer Hausdurchsuchung kam. Dabei wurde sofort ein fragwürdiges Stück entdeckt, und Frau Moosbacher wurde vorläufig festgenommen. Es gab dann eine zweite und gründlichere Durchsuchung, wobei ein ganzes Warenlager gefunden wurde. Der Kollege sagte mir, dass es wohl zu einer Anklage kommen wird.“
„Wurde inzwischen herausgefunden, wer der Anrufer war?“
Spengler schüttelte den Kopf. „Nein, aber da gibt es noch einen bemerkenswerten Hinweis. Bei der zweiten Durchsuchung war der Ehemann verreist. Man fand nur die Rechnung eines Reisebüros für ein Flugticket nach Hamburg. Da gegen den Ehemann bisher nichts vorliegt, ging man der Sache nicht weiter nach.“
Brock lehnte sich zurück. „Sehen Sie doch mal nach, welche Geschäfte unser Opfer als Letztes mit dieser Frau Moosbacher gemacht hat.“
Spengler blätterte in einem der Notizbücher.
„Hier ist es. Diefenbach hat ihr für einen fünfstelligen Betrag eine kor... korin...“
„Korinthisch!“, unterbrach Brock.
„Richtig. Also eine korinthische Vase verkauft.“
Er hob den Blick und grinste. „Bezeichnet mit einem großen F.“
Brock grinste ebenfalls. „Er hat ihr also eine Fälschung angedreht, und sie hat es vermutlich gemerkt. Kein Wunder, dass es das letzte gemeinsame Geschäft der beiden war. Ich bin sicher, dass sie ihr Geld zurückhaben wollte. Diefenbach wollte jedoch nicht zahlen und hat ihr stattdessen die Polizei auf den Hals gehetzt. Deshalb ist ihr Mann nach Hamburg geflogen.“
Spengler wurde ganz aufgeregt. „Er wollte zu dem Kunsthändler, natürlich. Welchen Grund sollte er sonst haben, um nach Hamburg zu reisen? Es kam zu einer Auseinandersetzung, und dann ...“
„Keine voreiligen Schlüsse“, stoppte Brock seinen Assistenten. „Setzen Sie ein paar Kollegen darauf an, die Hotels anzurufen. Als Erstes die großen Häuser. Ich denke, wir müssen ihn finden und möglichst bald mit ihm reden.“
„Wird erledigt.“
Brock starrte nachdenklich auf seinen Bildschirm, auf dem nur das Polizeilogo zu sehen war.
„Da war doch noch eine Visitenkarte von einem Kunden aus Sizilien, dem Diefenbach vor kurzer Zeit ebenfalls Fälschungen verkauft hat. Dort werde ich anrufen. Mal sehen, was uns der Mann sagen kann. Sie kümmern sich inzwischen um Moosbacher.“
Spengler verschwand, und Brock wählte die lange Auslandsnummer. Es klingelte lange, bis abgehoben wurde.
„Pronto?“ Eine tiefe männliche Stimme.
Brock wechselte ins Englische, in der Hoffnung, dass sein unbekannter Gesprächspartner diese Sprache verstehen würde.
„Ich möchte gern Mister Allessandro Tomaselli sprechen. Mein Name ist Cornelius Brock, Kriminalpolizei Hamburg.“
Schweigen.
Dann: „Im Ernst?“
„Ja, im Ernst. Ich habe hier die Visitenkarte von Mister Tomaselli. Es geht um den Mann in Hamburg, dem er sie gegeben hat.“
„Warten Sie einen Moment.“
Brock hörte Schritte, dann entferntes Stimmengemurmel, dann wurde das Telefon erneut aufgenommen.
Eine andere Stimme. Eine Stimme, die klang, als würde sie keinen Widerspruch dulden.
„Tomaselli. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich bin Hauptkommissar Brock von der Hamburger Kriminalpolizei. Wir ermitteln in einem Mordfall. Ich rufe Sie an, weil wir bei dem Opfer Ihre Visitenkarte gefunden haben.“
„Es handelt sich um Markus Diefenbach, nehme ich an.“
Brock war verblüfft. Er hätte erwartet, dass der Mann am anderen Ende erst mal jede Kenntnis abstreiten würde. Das war nach seiner leidvollen Erfahrung bei den meisten Zeugen wie ein unbewusster Reflex.
„Woher wissen Sie das?“
Tomaselli lachte. „Ich habe einen Anruf der Polizei fast erwartet. Mir war klar, dass Sie auf meinen Namen stoßen würden.“
„Nun, ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten. Führt Sie Ihr Weg vielleicht in den nächsten Tagen nach Deutschland?“
Tomaselli lachte erneut. „Nein, das nicht. Doch Sie sind ganz herzlich eingeladen, mein Gast zu sein. Besuchen Sie unsere wunderschöne Insel. Lassen Sie mir einfach eine Nachricht zukommen, wann Ihr Flugzeug in Palermo landet. Mein Fahrer Gino wird Sie am Flughafen abholen. Ich könnte mir vorstellen, dass ich interessante Informationen für Sie habe. Sie werden es nicht bereuen. Und wenn Sie einige Tage bleiben wollen, um Sizilien zu erkunden, wäre das kein Problem. Mein Haus verfügt über Gästezimmer.“
Tomaselli unterbrach die Verbindung, und Brock starrte verdutzt auf den Hörer, bevor er ihn langsam in die Halterung senkte.
Sein Assistent kam zurück und sah ihn gespannt an.
„Das war sehr merkwürdig“, sagte Brock. „Er möchte, dass ich nach Palermo komme. Er hätte interessante Informationen.“
Spengler grinste breit. „Viel Vergnügen beim Beantragen einer Auslandsreise. Da wird die Chefin nicht erfreut sein, wenn das knappe Budget auf diese Weise belastet wird.“
„Ich hatte den Eindruck, dass der Mann tatsächlich etwas weiß.“
Spengler wurde wieder ernst. „Und wenn es eine Falle ist?“
„Wieso sollte mir dieser Tomaselli eine Falle stellen? Er kennt mich nicht. Er hätte einfach sagen können, dass er nicht weiß, wovon ich rede. Wir haben überhaupt keinen konkreten Verdacht gegen ihn.“
„Er ist immerhin von Diefenbach kürzlich mit Fälschungen betrogen worden“, wandte Spengler ein. „Das wäre zumindest ein Motiv.“
„Ich rede mit der Chefin. Flüge kosten heutzutage nicht mehr die Welt.“
Sein Telefon klingelte.
„Brock. Hallo!“
Der Hauptkommissar hörte kurz zu.
„Das ging aber schnell. Danke!“
Er legte auf und sah seinen Assistenten an. „Haben Sie den Kollegen gesagt, dass die Adresse von Moosbacher brandeilig sei, weil sie ganz oben benötigt würde?“
Spengler machte ein unschuldiges Gesicht. „Ich weiß nicht, was ich genau gesagt habe.“
„Na jedenfalls haben die Kollegen sehr schnell herausgefunden, wo der Mann von Thekla Moosbacher steckt.“
„Und wo?“
„Er ist unter eigenem Namen im Hotel Vier Jahreszeiten abgestiegen. Die Kollegen haben mit der Suche bei den ersten Häusern der Stadt begonnen. Daher hat es nicht lange gedauert, ihn zu finden, genau genommen nur zwei Anrufe.“
„Wie gehen wir weiter vor?“, fragte Spengler.
Brock stand auf. „Wir gehen ihn besuchen. Es ist noch früh am Morgen. Vielleicht sitzt er noch beim Frühstück. Dann leisten wir ihm Gesellschaft. Der Kaffee ist dort bestimmt besser als in unserer Kantine.“
*
Das Hotel Vier Jahreszeiten lag direkt an der Binnenalster und besaß eine lange Tradition sowie einen Ruf, der weit über die Grenzen der Stadt hinausreichte. Luxuriöse Zimmer und eine exzellente Küche waren eine Selbstverständlichkeit.
Hauptkommissar Cornelius Brock und Kommissaranwärter Horst Spengler standen nebeneinander vor dem Eingang und sahen an der weißen Fassade hoch.
„Waren Sie schon einmal drin?“, fragte Spengler.
Brock nickte. „Ja, bei einem internationalen Polizeitreffen. Ich musste damals ein hohes Tier von der englischen Polizei abholen. Das ist viele Jahre her.“
Der Portier hatte sie gründlich gemustert und wohl längst erraten, welchem Beruf sie nachgingen. Er hielt ihnen wortlos die Tür auf.
Drinnen wandte sich Brock nach links zum Café Condi, in dem das Frühstück serviert wurde. Spengler folgte ihm und sah sich dabei bewundernd um.
An einem kleinen Tisch am Eingang des Raumes erwartete sie ein Kellner mit einer Speisekarte in der Hand. Er schien sofort zu ahnen, dass sie keine Gäste des Hotels waren, wie sein prüfender Blick verriet.
„Meine Herren, was kann ich für Sie tun?“
Brock wollte seinen Ausweis zücken, doch der Kellner reagierte rasch.
„Ich bitte um Diskretion. Wir wollen die Gäste doch nicht durch Ihre Anwesenheit beunruhigen.“
Brock ließ seinen Ausweis stecken. „Kein Problem. Wir würden nur gern mit Herrn Moosbacher ein paar Worte wechseln.“
Der Kellner nahm eine Liste vom Tisch und blätterte darin. „Er sitzt dort drüben allein am Fenster.“
Er legte die Stirn in Sorgenfalten. „Sie wollen ihn doch nicht verhaften, oder?“
„Keine Sorge, wir wollen wirklich nur reden. Und bringen Sie uns bitte einen Kaffee.“
Moosbacher hatte sein Frühstück bereits beendet und las in einer Zeitung. Er registrierte die beiden Beamten erst, als sie vor seinem Tisch standen und blickte erschrocken hoch.
„Guten Morgen, Herr Moosbacher“, sagte Brock. „Bleiben Sie bitte sitzen und lassen Sie sich nichts anmerken. Wir sind von der Kriminalpolizei und haben ein paar Fragen an Sie.“
„Weshalb?“
„Es geht um den Mord an Markus Diefenbach.“
„Damit habe ich nichts zu tun!“, rief Moosbacher etwas lauter als notwendig. Seine Stimme klang schrill. Vom Nachbartisch sah ein Gast irritiert herüber.
„Beruhigen Sie sich. Wir werfen Ihnen nichts vor und wollen nur reden.“
„Brauche ich einen Anwalt?“
„Das sollten Sie selbst am besten wissen“, sagte Spengler.
Moosbacher zupfte am Tischtuch herum und überlegte.
„Was wollen Sie wissen?“, stieß er schließlich hervor.
„Wann haben Sie Herrn Diefenbach zuletzt gesehen?“, fragte Brock.
Moosbacher sah ihn irritiert an. „Wie meinen Sie das? Ich habe den Kerl vielleicht vor einem halben Jahr gesehen, als er bei uns in Tutzing war. Meine Frau war seine Geschäftspartnerin. Ich hatte damit nicht viel zu tun.“
Der Kellner brachte den bestellten Kaffee, und Brock nahm einen Schluck. Kein Vergleich mit der Kantine!
„Aber Sie sind doch hier in Hamburg, um ihn zu sehen!“, fuhr er fort.
Es dauerte, bis Moosbacher sich zu einer Erklärung durchrang: „Das stimmt schon, doch ich habe ihn nicht getroffen. Ich wollte ihn bitten, das Geld zurückzuzahlen, das er von meiner Frau bekommen hat. Sie konnte das aus Zeitgründen nicht selbst erledigen.“
Spengler lachte auf. „Halten Sie uns für blöd? Ihre Frau wurde verhaftet, weil sie tief in den illegalen Handel mit Antiquitäten verstrickt ist. Wir haben mit den Kollegen in München gesprochen, und sie haben uns die ganze Geschichte erzählt. Diefenbach hat Ihrer Frau eine seiner Fälschungen als echtes Stück verkauft, und sie ist zunächst darauf hereingefallen. Dann gab es wohl Streit, und nun sind Sie hier, um das Geld zurückzufordern. Als Sie ihn besuchten, gab es eine Auseinandersetzung, die tödlich endete.“
Moosbacher sah Brocks Assistenten sprachlos an. Seine Lippen zitterten. „Nein, nein, so war das nicht. Ich bin doch kein Mörder.“
Er sank in sich zusammen. „Ich wollte diesen Mistkerl bitten, die Anschuldigungen gegen meine Frau zurückzunehmen. Wir glauben nämlich, dass er den anonymen Anruf bei der Münchner Polizei getätigt hat. Das hat sich dann aber erübrigt, nachdem mein Anwalt mir berichtet hat, dass es eine weitere Hausdurchsuchung gab, die der Polizei genügend Beweismaterial lieferte. Insofern bestand keine Notwendigkeit mehr, mit Diefenbach zu sprechen. Meine Frau steckte ohnehin in großen Schwierigkeiten.“
Er setzte sich wieder senkrecht hin. „Ein Mord hätte das auch nicht geändert.“
Brock trank seinen Kaffee aus. „Wo waren Sie denn am Sonntagabend? Wir wissen, dass Sie bereits im Hotel waren.“
Moosbacher hatte den Blick gesenkt. „Ich bin an der Alster spazieren gegangen. Es war schon dunkel. Dann habe ich auf meinem Zimmer ferngesehen, eine Sportsendung, glaube ich.“
Spengler sah Brock fragend an. Der Hauptkommissar nickte.
„Wir müssen Sie vorläufig festnehmen“, sagte Spengler. „Wir gehen jetzt ganz unauffällig zur Rezeption.“
Sie standen auf und marschierten zum Ausgang. Der Oberkellner hatte registriert, was an dem Fenstertisch vorgefallen war. Er nickte Brock dankbar zu, erleichtert, dass keiner der anderen Gäste etwas Ungewöhnliches bemerkt hatte. Der Ruf des Hauses war nicht angetastet worden, und Brock lächelte leicht, als ihm bewusst wurde, welcher Stein dem Oberkellner vom Herzen gefallen sein musste.
*
Die Erste Hauptkommissarin Birgit Kollmann saß wie immer am Kopfende des Konferenztisches.
Sie war schlank und groß, hatte ein offenes Gesicht, das Vertrauen ausstrahlte, grüne Augen, in denen häufig Humor aufblitzte, sowie eine etwas zu groß geratene Nase über vollen Lippen. Eine aschblonde Kurzhaarfrisur krönte das Ganze. Heute war sie wie sehr oft konservativ gekleidet: grauer Rock, weiße Bluse, darüber eine kurze sommerliche Jacke in einem kräftigen Blau.
Birgit Kollmann war ebenso alt wie Brock, hatte ihre Karriere aber anders geplant, nachdem sie ihre Ausbildung zur gleichen Zeit wie Brock gemacht hatte. Sie besaß die Begabung, komplizierte Sachverhalte mittels Power Point-Software in anschauliche Grafiken, Tabellen und Übersichten zu verwandeln. Ihre speziellen Präsentationen beschäftigten sich viel mit Effizienz, Kostenreduzierung und Personalplanung. Das kam oben gut an und war schon bis zum Präsidenten vorgedrungen.
Brock hingegen wollte immer nur Ermittler sein. Er wusste, dass er ein guter Ermittler war, und Birgit Kollmann wusste das auch. Sie ließ ihm viel Spielraum. Außerdem war sie in ihrer Abteilung sehr beliebt, da sie immer für ihre Mitarbeiter eintrat. Das war in einer solchen großen Behörde nicht unbedingt selbstverständlich. Nach ihr war Cornelius Brock der ranghöchste Beamte. Sie schätzten sich gegenseitig und wussten, dass sie sich immer auf den anderen verlassen konnten.
So war es keine Überraschung, dass sie Brock, der rechts neben ihr saß, als Erstem das Wort erteilte, nachdem sie alle Anwesenden begrüßt hatte. Außer Brock waren sein Assistent Horst Spengler und Udo Ritter von der Spurensicherung anwesend. Ritter hatte ebenfalls eine Begleitung mitgebracht, eine junge Frau, die Brock bereits an mehreren Tatorten gesehen hatte.
„Was haben wir bis jetzt im Fall Diefenbach?“, fragte die Erste Hauptkommissarin.
Brock hatte nur wenige Unterlagen vor sich liegen. Er hatte ein gutes Gedächtnis. Spengler dagegen war wie immer mit einem dicken Stapel Papieren erschienen, obwohl auch er selten etwas vergaß.
„Fangen wir mit dem Obduktionsbericht an“, begann Brock. „Es gab keine großen Überraschungen nach dem ersten Eindruck vom Tatort. Bemerkenswert ist nur, dass Diefenbach vor dem tödlichen Stich eine kleine Wunde zugefügt wurde, verursacht durch eine Nagelfeile. Wir nehmen an, dass sie von einem jungen Mann stammt, den Diefenbach in sein Bett geholt hat. Unser Opfer war nämlich schwul.“
„Habe ich mir schon gedacht“, sagte Kollmann sarkastisch.
„Warum es zu dieser Verletzung kam, wissen wir nicht, doch wir haben ein Foto von einem Jungen, wie er versucht, einem Pfandleiher einige gestohlene Gegenstände zu verkaufen, die eindeutig unserem Opfer gehörten. Wir gehen davon aus, dass er sich zur Tatzeit in Diefenbachs Wohnung aufhielt.“
„Den Jungen suchen wir noch“, ergänzte Spengler ungefragt.
„Derzeit glauben wir“, fuhr Brock fort, „dass der Junge nicht der Mörder war, sondern eine weitere Person, die sich ebenfalls am Tatort befand. Wir können den jungen Mann noch nicht ausschließen, doch nach dem jetzigen Befund hat Diefenbach sich nach dem ersten harmlosen Stich sein Shirt angezogen und ist nach unten gegangen. Dort kam es dann zu einer tödlich endenden Auseinandersetzung, wobei die Mordwaffe ein antiker Dolch war, der an der Wand hing. Es war demnach vermutlich ein spontaner Angriff mit der nächstbesten Waffe, die zur Hand war.“
„Hat der Junge den Mord gesehen?“, fragte Birgit Kollmann.
„Möglicherweise. Das wird er uns beantworten können, wenn wir ihn haben.“
„Warum schließt ihr ihn als Täter aus? Auf ihn treffen doch die drei wichtigsten Bedingungen zu. Er hatte ein Motiv, verfügte über die Mittel und die Gelegenheit, also das, was wir immer als Erstes überprüfen.“
Brock lächelte. „Das trifft auf andere ebenfalls zu.“
Birgit Kollmann machte ein erstauntes Gesicht. „Ihr habt noch mehr Verdächtige?“
Brock nickte. „Oh, ja. Einen haben wir heute Morgen vorläufig festgenommen. Die Geschichte ist ein wenig kompliziert, jedenfalls hat er ein starkes Motiv. Das Mittel, also die Mordwaffe, stand jedem zur Verfügung, der sich im Haus aufhielt. Der Festgenommene, ein gewisser Herr Moosbacher, kam nach Hamburg, um mit Diefenbach zu reden und hat kein Alibi. Damit also auch die Gelegenheit. Dann haben wir noch den ehemaligen Freund unseres Opfers, bei dem wir auch alle drei Punkte abhaken können. Und schließlich wäre da noch ein Mann aus Sizilien, der ein Motiv hätte, weil Diefenbach ihm einige Fälschungen für teures Geld angedreht hat. Mit ihm muss ich unbedingt reden, da er behauptet, sehr interessante Informationen zu besitzen.“
„Sizilien?“, fragte Kollmann langsam und jede Silbe betonend.
„Ich könnte sehr früh über Frankfurt nach Palermo fliegen. Der Rückflug am gleichen Tag ist etwas schwierig, aber irgendwie schaffe ich das schon.“
„Du hast ja alles bereits konkret geplant.“
„Die Flüge kosten nicht viel mehr als ein paar Taxifahrten in Hamburg.“
Birgit Kollmann seufzte. „Wenn es dir so wichtig ist ...“
„Danke! Ich fliege so bald wie möglich.“
Seine Chefin blickte ihn scharf ab, sagte jedoch nichts mehr, sondern wandte sich ihren Unterlagen zu.
„Einen Verdächtigen haben wir noch vergessen“, wandte Spengler ein.
„Richtig!“, ergänzte Brock. „Amir Al-Farad, der junge Ägypter. Auch das ist eine lange Vorgeschichte. Jedenfalls hat er ein starkes Motiv, und er ist ausdrücklich nach Hamburg gekommen, um mit dem Opfer zu reden. Wir haben ihn ebenfalls vorläufig festgenommen.“
„Habt ihr einen Hauptverdächtigen?“, fragte Birgit Kollmann.
„Dafür ist es noch zu früh.“
„Nun, gut. Kommen wir zur Spurensicherung.“ Sie blickte auffordernd zu Ritter.
Der Spezialist von der Spurensicherung gab seiner Begleiterin einen Wink, und sie tippte auf ihrem Laptop herum. Sofort erschien ein Bild auf dem großen Monitor, der an der Wand gegenüber von Birgit Kollmann befestigt war. Das Bild war deutlich besser als früher, als noch ein Beamer unter der Decke hing, der auf eine Leinwand projizierte. Die Modernisierung hatte sich auf jeden Fall gelohnt, denn jetzt waren auch die kleinsten Einzelheiten erkennbar.
Zunächst war nicht zu sehen, was dort dargestellt wurde. Die junge Frau hantierte mit ihrer Maus, die separat an den Laptop angeschlossen war, und alle Linien und Flächen auf dem Monitor drehten sich, bis ein dreidimensionales Abbild des Tatortes erschien. Sie justierte etwas nach, und dann konnten alle schräg von oben auf den Salon sehen, in dem der Mord verübt worden war. In Farbe und in hoher Auflösung.
„Das ist das Bild unseres Faro Laser Scanners“, erläuterte Ritter. „Er tastet das gesamte Umfeld mit einer Geschwindigkeit von bis zu zwei Millionen Punkten pro Sekunde ab und erlaubt uns, am Computer den Tatort von allen Seiten dreidimensional zu betrachten. Wir haben das in diesem Fall gemacht, da sich in dem unübersichtlichen Raum zahlreiche Gegenstände und Möbel befanden, und wir sichergehen wollten, dass bei der anschließenden Spurensuche nichts verändert wurde. Fotografiert wurde natürlich auch.“
Ritter legte einen Stapel großformatiger Fotos auf den Tisch. Brock nahm sie als Erster an sich und blätterte sie durch. Eines behielt er in der Hand, dann hob er den Kopf und sah wieder auf den Monitor.
„Ich sehe dort drei Vasen mit Tierköpfen in einer Reihe auf dem Regal an der Schmalseite. Könnten Sie die Ansicht so weit drehen, dass wir direkt von vorn auf die Vasen blicken können?“
Ritter lächelte. „Ich glaube, ich weiß, was Sie sehen wollen. Das ist mir auch schon aufgefallen.“
Die Darstellung drehte sich langsam, bis die Vasen aus einer anderen Perspektive nebeneinander zu sehen waren.
„Eine fehlt“, stellte Brock fest. „Wir wissen, dass Markus Diefenbach nicht nur penibel Buch geführt, sondern seine Ausstellungsstücke sorgfältig angeordnet hat. Eine solche Lücke zwischen der dritten und vierten Vase von links hätte er wahrscheinlich nicht geduldet.“
„Das ist sicher interessant“, mischte sich Birgit Kollmann ein. „Doch ist es wichtig für unsere Ermittlung?“
Brock grinste breit. „Ich denke, es ist sehr wichtig. Denn ich weiß, wo sich die fehlende Vase befindet.“
Alle sahen ihn an.
Spengler schnippte mit den Fingern. „Natürlich! Sie steht bei Professor Hochstein auf dem Schreibtisch!“
„Ja, genau. Das wird uns der Herr Professor erklären müssen.“
„Noch ein Verdächtiger?“, fragte die Erste Hauptkommissarin.
„Das wissen wir nicht“, antwortete Brock wahrheitsgemäß. „Hier fehlen uns Motiv und Gelegenheit.“
„Gut. Was geschieht als Nächstes?“
Brock starrte wieder auf den Monitor.
„Da wäre noch eine Sache. Kann man die Darstellung so drehen, dass man vom oberen Absatz der Treppe im ersten Stock auf die Couch mit dem Mordopfer hinunterblicken kann?“
„Kein Problem“, entgegnete Ritter, und seine Assistentin bediente ihren Laptop.
Alle folgten gebannt, während sich das Laserbild schräg nach oben drehte. Im Vordergrund waren jetzt mehrere senkrechte Streben zu sehen. Ansonsten war der Raum gut zu überblicken.
„Vorn ist das Geländer“, erklärte Ritter. „Sie sehen, dass man von dort oben ohne Weiteres den Mord beobachten könnte, ohne gleich gesehen zu werden.“
„Vielleicht hat der junge Bettgenosse von Diefenbach genau das getan“, überlegte Brock laut. „Das würde bedeuten, dass er auch den Mörder gesehen hat.“
Er stand auf und schob seinen Stuhl zurück.
„Spengler, kommen Sie. Es ist höchste Zeit, dass wir den Kerl finden.“
*
Vor dem Hauptbahnhof herrschte wie immer hektische Betriebsamkeit. Behutsam steuerten Autos über den engen Parkplatz, Taxis luden Menschen aus, andere stiegen ein. Zahlreiche Fußgänger liefen kreuz und quer über den Vorplatz an der Kirchenallee.
Hauptkommissar Brock und Kommissaranwärter Spengler standen auf der anderen Straßenseite und beobachteten das bunte Treiben.
„Wird nicht leicht, in dem Gewühl jemanden zu entdecken“, äußerte sich Spengler.
„Wir teilen uns auf“, entschied Brock. „Sie arbeiten sich von der linken Seite zur Mitte vor, ich nehme die rechte Seite. Sie haben das Foto dabei?“
„Natürlich, Chef!“, entrüstete sich Spengler.
„Gut. Dann legen wir los.“ Sie überquerten die Straße vorschriftsmäßig an der Fußgängerampel.
Horst Spengler blickte aufmerksam hin und her und arbeitete sich langsam durch die Menge. Nichts. Ähnlich aussehende junge Leute gab es, doch der Gesuchte war nicht darunter.
Er betrachtete noch einmal das Foto auf seinem Handy. Das Aussehen des Jungen war unverändert in seiner Erinnerung gespeichert. War er heute nicht hier? War er gerade mit einem Freier unterwegs?
Brock steuerte auf ihn zu. Er schüttelte den Kopf. Also hatte auch er den Gesuchten nicht bemerkt.
„Scheint nicht hier zu sein“, kommentierte Spengler.
Brock reagierte nicht, da er angestrengt über Spenglers Schulter schaute.
„Wir fragen den jungen Mann.“
Spengler drehte sich um und erkannte sofort, wen Brock meinte.
An einem der Pfeiler, die das Vordach des Bahnhofeingangs stützten, lehnte betont lässig ein anderer junger Mann, der fast einer Kopie des gesuchten Mordzeugen glich. Auch er war nicht älter als neunzehn oder zwanzig. Ein gut gekleideter Mann stand vor ihm und redete auf ihn ein. Der junge Mann schüttelte den Kopf, stieß sich von der Säule ab und schlenderte zur nächsten, wo er eine ähnliche Haltung wie vorher einnahm.
Sein Haar war kurz geschoren, am rechten Ohrläppchen baumelte ein Ring, und eine tätowierte Schlange züngelte an seinem Hals empor. Er trug ein dünnes gelbes Sakko zu einer weißen Jeans und an den Füßen rote Sneakers.
Brock und Spengler gingen langsam auf ihn zu. Der junge Mann sah sie kommen und spuckte einen Kaugummi aus. Er musterte sie abschätzend.
„Einen Dreier mache ich eigentlich nicht, vor allem, wenn es die Bullen auch noch umsonst haben wollen.“
„Wir sind nicht von der Sitte“, entgegnete Brock. Er wusste, dass man ihnen irgendwie den Polizisten ansah. Typen wie der junge Stricher besaßen dafür einen sechsten Sinn.
„Wir würden Ihnen gern eine Frage stellen“, fuhr Brock fort. Er zückte sein Handy und hielt das Display mit dem Foto des Gesuchten dem Jungen vor die Nase.
„Verraten Sie uns, wer das ist, und wir sind sofort wieder weg.“
Der Junge packte umständlich einen neuen Kaugummi aus und schob ihn in den Mund.
„Was wollen Sie von ihm?“
„Er ist Zeuge in einem Mordfall. Wir brauchen dringend seine Aussage.“
Bei der Erwähnung eines Mordes war der Junge zusammengezuckt. Sein Mund hörte auf zu kauen.
„Mord? Nie und nimmer.“
„Dann kennen Sie ihn?“, bohrte Brock nach.
Der junge Mann nickte. „Das ist Jonas.“
„Geht es ein bisschen genauer?“, fuhr Spengler dazwischen.
„Jonas Dreher... oder Drücker... oder so ähnlich. Er wohnt dort drüben in der Bremer Reihe. Dier Hausnummer weiß ich nicht, doch unten im Haus ist so ein Trödelladen, sie wissen schon, An- und Verkauf.“
„Die Bremer Reihe führt zum Hansaplatz, oder?“
Der Junge sah Brock irritiert an. „Wo soll sie denn sonst hinführen?“, kam die pampige Antwort.
„Nicht so vorlaut!“, warnte Spengler.
„War Jonas heute schon hier?“, fragte Brock.
Der Junge schüttelte den Kopf. „Habe ihn noch nicht gesehen. Dabei ist er eigentlich jeden Tag hier. Er braucht das Geld.“
„Dann finden wir ihn vielleicht in seiner Wohnung.“
Ein bitteres Auflachen. „Wohnung? In seiner Bruchbude ist er nur zum Schlafen. Ein kleines Loch unter dem Dach mit ein paar wackligen Möbeln. Was Besseres kann er sich nicht leisten.“
„Er verdient doch Geld“, überlegte Spengler laut. „Vielleicht hat er sogar einen großzügigen Gönner.“
Wieder das bittere Lachen. „Ja, hat er. So ein reiches Arschloch. Ein Kunsthändler. Der ist einmal in der Woche hier. Aber die Kohle reicht trotzdem nicht. Er muss für seine kranke Mutter und seine kleineren Geschwister sorgen.“
„Die Geschichte glaubt doch niemand!“, sagte Spengler.
„In diesem Falle stimmt sie aber. Der Vater hat die Familie sitzen lassen, und sie lebt von der Sozialhilfe. Jonas liefert den größten Teil seines Verdienstes ab. Für ihn bleibt da nicht viel übrig. Er hat mir mal seine Geschichte erzählt. Ich habe sie anfangs auch nicht geglaubt, weil die meisten von uns solche Stories auf Lager haben. Und sie stimmen selten Da haben Sie schon recht. Aber er hat mir Fotos gezeigt, und die sahen verdammt echt aus.“
„Wo könnte er sonst stecken?“, erkundigte sich Brock. „Falls er nicht doch in seiner Wohnung ist.“
„Keine Ahnung. Wir kennen uns nicht so gut, dass wir echte Freunde wären und er mich auf dem Laufenden hält.“
„Wir versuchen es in seiner Wohnung“, entschied Brock.
Der Junge streckte ihnen seine Hand entgegen. „Ein Trinkgeld für die Informationen wäre doch angemessen.“
Spengler grinste. „Die Stadt Hamburg ist Ihnen zu Dank verpflichtet.“
*
„Das muss es sein“, stellte Brock fest. „Der Hansaplatz mit dem Pfandleiher ist gleich dort vorn. Die Gegend scheint uns bei diesem Fall förmlich anzuziehen. Zwei Minuten zu Fuß.“
Spengler nickte. „An- und Verkauf, wie es uns der Junge beschrieben hat.“
Sie hatten die Bremer Reihe ein ganzes Stück hinuntergehen müssen, bis sie das Schild des Ladens entdeckten. Die ausgestellten Waren hinter der verschmutzten Fensterscheibe waren leicht angestaubt, und Brock fragte sich, wer diesen alten Trödel noch kaufen würde. Doch irgendwie gab es für alles noch eine Verwendung.
Das Haus war alt, und die Fassade hätte einen neuen Anstrich gebrauchen können. Spengler studierte die Namenschilder an den Klingeln. Die meisten waren mit der Hand geschrieben. Er hob die Schultern.
„Kein Name, der ähnlich klingt.“
„Wir fragen mal im Laden nach“, entschied Brock.
Eine Glocke bimmelte leise, als sie die Tür aufdrückten. Der Laden sah genauso aus, wie es nach der äußeren Ansicht zu erwarten war. Übereinander gestapelte Möbel, Lampen ohne Schirme, Porzellan mit Rissen, verrostete Werkzeuge, angeschlagene Gläser und allerlei anderer Trödel. Es dauerte eine halbe Minute, bis im Dämmerlicht ein alter Mann heranschlurfte, gebeugt von der Last der Jahre. Er trug trotz der sommerlichen Temperaturen eine Strickjacke und hatte Pantoffeln an den Füßen. Viel Publikumsverkehr schien es hier nicht zu geben.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir suchen einen jungen Mann“, antwortete Brock. „Jonas ist sein Vorname. Er soll in diesem Haus wohnen.“
„Jonas. Ja, ja. Den kenne ich. Ein netter Junge. Er bringt mir manchmal einen Kaffee mit, so einen Becher mit Deckel, steht irgendwas mit Star drauf.“
„Er wohnt also hier?“, setzte Spengler nach.
Der alte Mann hob die Hand und deutete nach oben. „Ja. Sie müssen ganz hoch. Vorsicht auf der Treppe, die ist ausgetreten. Einen Fahrstuhl gibt es leider nicht.“
Er lachte keckernd.
„Haben Sie Jonas heute schon gesehen?“
„Nein. Er schläft immer ziemlich lange, wissen Sie.“
„Es ist Nachmittag“, wandte Brock ein. „Da sollte auch ein Langschläfer wach sein. Haben Sie vielen Dank. Wir gehen nach oben.“
Sie verließen den Laden und betraten den Hausflur, nachdem sie festgestellt hatten, dass das Schloss der Haustür aufgebrochen worden war, vermutlich schon vor längerer Zeit.
Es roch nach Kohl, exotischen Gewürzen und kaltem Rauch. Das Treppenhaus war ziemlich dunkel, und die Beleuchtung bestand nur aus einigen schwachen Funzeln.
Die Treppenstufen knarrten bedenklich und waren in der Tat stark ausgetreten. Sie gingen weiter nach oben, bis die Treppe mit einem Absatz endete. Im Gegensatz zu den unteren Etagen gab es hier sehr viel mehr Türen, die dicht beieinander lagen.
Spengler entdeckte das handgeschriebene Stück Papier als Erster. Es war mit zwei Reißzwecken am Türrahmen befestigt.
„J. Dücker“, las er vor. „Das wird er sein.“
Cornelius Brock suchte eine Klingel, doch da war keine. Er klopfte.
Hinter der Tür rührte sich nichts.
Er legte das Ohr an die Tür, doch es war kein Geräusch zu hören. Im ganzen Haus war es still. Keine schreienden Kinder, keine lautstarken Auseinandersetzungen hinter verschlossenen Türen. Das Treppenhaus wirkte wie ausgestorben.
Brock klopfte erneut. Wieder keine Reaktion.
„Unser junger Freund ist nicht da“, zog Spengler eine logische Schlussfolgerung.
„Riechen Sie das?“ Brock trat einen Schritt von der Tür zurück.
Spengler schnupperte. Dann warf er Brock einen Blick zu. Sie wussten beide, was der Geruch zu bedeuten hatte.
Brock deutete auf das einfache Schlüsselloch. „Kriegen Sie die Tür auf?“
Spengler beugte sich hinunter. „Kein Sicherheitsschloss, sollte kein Problem sein.“
Er fummelte ein paar kleine Gerätschaften aus einer seiner Taschen und machte sich am Schloss zu schaffen. Nach einer Minute war es geschafft, es klickte, und die Tür sprang auf.
Der Geruch wurde stärker.
Brock spürte, wie sein Magen sich bemerkbar machte. Diese Reaktion kannte er nur zu gut aus dem rechtsmedizinischen Institut.
Er drückte die Tür ganz auf, ohne die Wohnung zu betreten.
Ihr Informant vom Hauptbahnhof hatte recht gehabt. Es war wirklich eine armselige Bruchbude, ein einzelner Raum, vielleicht acht bis zehn Quadratmeter groß. Ein jetzt offener Plastikvorhang verbarg normalerweise das kleine Waschbecken und eine Toilettenschüssel. Unter einer schrägen Wand mit einem Dachfenster stand ein eisernes Bettgestell.
Die restlichen Möbel schienen vom Sperrmüll zu stammen. Das einzige Neuwertige waren eine Elektrokochplatte auf einem Küchenschrank sowie ein Laptop auf einem kleinen Holztisch.
Die Quelle des Geruchs lag auf dem Bett.
Jonas Dücker war zweifelsohne tot. Und er hatte sich ganz gewiss nicht selbst umgebracht.
Er lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf dem Rücken zwischen zerwühlten Laken, die Augen zur Decke seiner winzigen Behausung gerichtet. In seiner Kehle klaffte ein gewaltiger Schnitt über die gesamte Breite des Halses. Die Kleidung des Toten und die Bettwäsche waren vollgesogen mit Blut, das offensichtlich bereits getrocknet war. Die Haut hatte eine unnatürliche Blässe, und Jonas Dücker wirkte noch schmächtiger, als er im Leben gewesen war.
„Da war jemand sehr gründlich“, bemerkte Spengler.
„Rufen Sie auf dem Revier an, wir brauchen das gesamte Programm“, befahl Brock. Er zog sich von der Tür auf den Hausflur zurück und atmete tief durch, während sein Assistent telefonierte.
*
Als Erste erschienen zwei uniformierte Polizisten, die Besatzung eines Streifenwagens, die ganz in der Nähe im Dienst gewesen war. Brock instruierte sie, die Bewohner des Hauses zu befragen, ob ihnen etwas aufgefallen war.
Sie versicherten ihm, dass in den nächsten Minuten ein weiterer Wagen kommen würde, der sie unterstützen könnte.
„Die Kollegen sollen den Eingang kontrollieren“, ordnete Brock an. „Keiner darf raus, der nicht befragt worden ist.“
Als Nächstes rückte die Spurensicherungstruppe von Udo Ritter an. Spengler hatte mit seinem Handy den kleinen Raum bereits von der Tür aus fotografiert. Für Brock war der erste Eindruck eines Tatortes immer wichtig.
Sie begrüßten die Kollegen in den weißen Schutzanzügen, die sich jetzt professionell an die Arbeit machten. Doktor Fischer von der Rechtsmedizin kam mit seinem Team erst eine halbe Stunde später an.
„Wir sollten uns mal treffen, ohne dass ein Toter anwesend ist“, sagte er.
Brock lächelte etwas verkniffen. Er wusste, dass ein Rechtsmediziner ein anderes Verhältnis zum Tod hatte als er.
Er deutete in das Zimmer. „Wir wollten nur mit ihm reden. Wer weiß, wie lange es sonst gedauert hätte, bis er gefunden worden wäre.“
„Irgendwann wäre der Geruch schon aufgefallen, besonders zu dieser Jahreszeit“, entgegnete Fischer und begab sich zum Bett mit der Leiche.
Ritter brachte zwei Beweismittelbeutel zur Tür, in dem größeren befand sich das Handy des Ermordeten.
„Das wollen Sie sicher sehen. Es lag halb unter der Leiche, verdeckt vom Bettlaken, sodass wir annehmen können, dass der Täter es nicht gefunden hat“, kommentierte er die Entdeckung.
„Wir haben die Fingerabdrücke bereits gesichert und mit denen des Toten abgeglichen. Sie gehören ausschließlich dem Opfer. Sie können das Handy also gern überprüfen. Den Laptop kriegen Sie später, der muss noch gesichert werden.“
Brock ließ das Handy aus der Hülle gleiten und schaltete es ein. Die gespeicherten Kontakte würden sie später überprüfen, jetzt wollte er etwas anderes sehen – falls sich sein Verdacht bestätigte.
Er öffnete die Fotogalerie und winkte Spengler heran. „Sehen Sie? Er hat den Mord beobachtet, oben vom Treppenabsatz. Das hatte ich vermutet, oder sagen wir besser: gehofft.“
Es gab nur ein Foto, und es stammte eindeutig aus Diefenbachs Haus. Es zeigte zwischen Wand im Obergeschoss und einer Strebe des Geländers nur einen kleinen Ausschnitt des Wohnraumes von Markus Diefenbach. Man sah von schräg oben den Kunsthändler mit nach vorn ausgestreckten Händen vor einem anderen Mann stehen, der mit der erhobenen Rechten offenbar zum Schlag oder Stoß ausholte. Leider war von ihm nur ein Teil der Rückenansicht bis zum Hals zu sehen, Kopf und Hand waren nicht mehr im Bild. Der Angreifer trug einen schwarzen Mantel oder eine schwarze Jacke. Das ließ kaum Rückschlüsse auf die Person zu.
„Schwer zu sagen, wer das ist“, meinte Spengler enttäuscht.
„Jedenfalls ist es nicht der schmächtige Knabe, der dort drinnen in seinem Blut liegt. Doch das wäre uns ohnehin unwahrscheinlich vorgekommen. Wir sehen die letzten Sekunden vor einem Mord, doch dummerweise erkennen wir den Täter nicht.“
„Ist da wirklich nur ein Bild?“, fragte Spengler nach.
Brock kontrollierte die Fotogalerie noch einmal. „Leider. Nur dieses eine Foto.“
Er steckte das Handy wieder in die Plastikhülle und drückte es Spengler in die Hand. „Vielleicht können unsere Spezialisten noch etwas mehr aus dem Foto herausholen.“
„Dann haben wir noch das hier gefunden. Die Dinger lagen lose im Küchenschrank“, erklärte Ritter, der wartend neben ihnen gestanden hatte.
„Das sind die Rollsiegel, die gestohlen wurden“, sagte Brock.
„Die vermutlich illegalen Rollsiegel“, fügte Spengler hinzu. „Denn Diefenbach hatte kurz vor seinem Tod die Herkunftspapiere gefälscht.“
„Die goldene Uhr haben Sie nicht gefunden?“, fragte Brock.
Ritter schüttelte den Kopf. „Nur eine billige Uhr vom Discounter.“
„Dann hat Dücker sie doch noch verkaufen können, oder der Mörder hat sie mitgenommen.“
Brock trat zurück in den Türrahmen. Der kleine Raum war durch die Spurensicherer und den Rechtsmediziner schon überfüllt genug.
„Können Sie schon etwas sagen?“, rief er zu Doktor Fischer hinüber. „Todeszeitpunkt?“
„Immer diese Ungeduld“, murmelte der Angesprochene.
„Ich kann Ihnen jedoch verraten, dass der Schnitt durch die Kehle von einer sehr scharfen Klinge verursacht wurde, vielleicht von einem Rasiermesser. Der Schnitt ist sehr tief und reicht fast von einem Ohr zum anderen. Der Tod muss unmittelbar eingetreten sein, und der Täter hat mit Sicherheit große Spritzer Blut abbekommen. Wenn Sie einen Verdächtigen haben, müssen Sie seine Kleidung überprüfen.“
„Und wann geschah es?“
„Ich kann Ihnen nur eine grobe Schätzung geben. Irgendwann gestern Abend oder in der Nacht. Nach der Obduktion weiß ich das genauer.“
„Was ist mit der Mordwaffe?“
Darauf antwortete Ritter von der anderen Seite des Bettes. „Die hat der Täter wieder mitgenommen. Wir haben bereits alles abgesucht. Ist ja auch bei der Größe dieser Bude nicht allzu schwer.“
„Haben Sie sonst etwas Wichtiges gefunden?“
„Nein, doch ich denke, die Laboranalysen könnten noch Hinweise ergeben, falls sich Verwertbares unter den Spuren findet.“
Brock bedankte sich bei den Kollegen und wandte sich an seinen Assistenten. „Im Moment können wir hier nichts mehr tun. Wir müssen warten, bis die Kollegen den Tatort freigeben, ehe wir uns umsehen. Ich möchte mich morgen übrigens noch einmal mit dem Herrn Professor unterhalten. Er hat uns noch nicht alles gesagt. Gehen wir jetzt in der Nähe einen Kaffee trinken, bis die Kollegen fertig sind.“
Spengler folgte ihm, und während sie die Treppe hinunterstiegen, fragte er: „Was soll ich morgen tun?“
„Sie könnten sich auf jeden Fall bei Doktor Fischer erkundigen, ob er etwas Wichtiges herausgefunden hat. Überprüfen Sie auch die restlichen Unterlagen von Diefenbach. Vielleicht haben wir noch etwas übersehen. Außerdem müssen wir mit Moosbacher reden. Wenn wir nichts Beweisbares gegen ihn in der Hand haben, müssen wir ihn gehen lassen.“
Spengler nicht. „Ich rufe bei den Kollegen in München an. Möglicherweise gibt es dort neue Erkenntnisse über die Beziehung zwischen unserem Opfer und dem Ehepaar Moosbacher.“
Brock zupfte an seiner Unterlippe. „Den Ex-Freund von Diefenbach sollten wir auch nicht vergessen. Da müssen wir ebenfalls nachbohren. Und die Rolle von Mister Tomaselli aus Sizilien ist mir überhaupt noch nicht klar.“
„Wann fliegen Sie nach Palermo?“
„Wahrscheinlich übermorgen. Wer weiß – vielleicht bringt uns das Gespräch mit ihm weiter. Er tat so, als wüsste er mehr als wir.“