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5. Kapitel

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„Was geben Sie mir für diese alten Gegenstände?“

Kurt Walden, Pfandleiher in der dritten Generation und ein fünfzigjähriger Mann, der glaubte, in seiner Laufbahn so ziemlich alles gesehen zu haben, was man zu Geld machen konnte, sah zunächst auf die merkwürdigen kleinen Zylinder, die auf seinem Tresen lagen, und dann auf den Kunden, der vor ihm stand.

Ein schmächtiger junger Mann mit blassem Gesicht, fiebrigen Augen und leicht zitternden Händen, achtzehn oder neunzehn Jahre alt.

„Was zahlen Sie dafür?“

Kurt Waldens Pfandleihe befand sich am Hansaplatz im Stadtteil St. Georg, in der Nähe des Hamburger Hauptbahnhofs. Hier hatte er schon alle möglichen Typen kommen und gehen sehen.

Er musterte den jungen Mann von oben bis unten. Sauber geschnittenes Haar, ein leichter Anflug von Bart und ein noch kindlich wirkendes Gesicht mit Augen, die schon mehr gesehen hatten, als für dieses Alter gut war. Er trug über seinen Jeans und einem offenen Hemd eine billige hellbraune Wildlederjacke mit Fransen.

Sein Urteil war rasch gefällt: ein drogensüchtiger Strichjunge, der wahrscheinlich seinen Freier bestohlen hatte. Von dieser Sorte hatte er schon einige gesehen, die versucht hatten, gestohlene Gegenstände rasch zu Geld zu machen.

„Was ist das überhaupt?“, fragte er und nahm einen der Zylinder in die Hand. Er war aus irgendeinem Stein, und auf der Oberfläche waren winzige Zeichen eingeritzt, eines sah aus wie ein Strichmännchen.

„Das ... äh ... das weiß ich auch nicht so genau. Doch die Dinger sind wertvoll.“

„Und woher hast du diese Gegenstände?“

„Die ... äh ... die waren ein Geschenk von ... von jemanden, dem ich einen Gefallen getan habe. Er ... also ... er hat gesagt, wenn ich sie verkaufe, würde ich viel Geld bekommen.“

„Ja“, entgegnete der Pfandleiher. „Das mag sein, aber ich kann sie nicht als Pfand akzeptieren. Ich weiß nicht, was sie wert sind, und wenn du sie nicht wieder abholst, habe ich keinen Kunden, der so etwas haben will. Tut mir leid, mein Junge, aber damit kommen wir nicht ins Geschäft.“

Die Augen des Jungen wurden so traurig, dass Walden sich fast anders entschlossen hätte. Die kleinen Zylinder verschwanden in einer der Hosentaschen, und dann zog der potentielle Verkäufer eine golden blitzende Uhr aus seiner Lederjacke und legte sie auf den Tresen.

„Wie ist es damit?“

Diesmal erkannte der Pfandleiher sofort, worum es sich handelte. Eine mit Diamanten besetzte goldene Uhr der Firma Chopard.

Er nahm eine Lupe in die Hand und überprüfte den wertvollen Zeitmesser. Er war bisher selten auf eine Fälschung hereingefallen, und er war sich sicher, dass diese Uhr ein Original war. Die richtigen Stempel waren auf der Unterseite eingraviert, und auch die Steine waren echt.

Er beobachtete eine Zeit lang den Sekundenzeiger. Die Uhr funktionierte offensichtlich. Vor einem Ankauf würde er jedoch auch das Werk prüfen müssen, doch er war ziemlich sicher, dass es so weit nicht kommen würde.

Vorsichtig legte er die Uhr auf den Tresen zurück.

„So etwas würden wir prinzipiell schon als Pfand nehmen.“

Der Junge wurde ganz aufgeregt. „Und was bekomme ich dafür?“

„Zunächst brauche ich einen gültigen Ausweis. Außerdem wäre es gut, wenn die entsprechenden Papiere dabei wären, vielleicht sogar ein Kaufbeleg.“

Das Gesicht des Gegenübers wurde länger. „Ich dachte ... also ... könnten Sie mir nicht einfach das Geld geben, und Sie behalten die Uhr?“

Walden schüttelte den Kopf. „Das geht leider nicht. Ich würde mich strafbar machen. So ein Geschäft muss ordentlich abgewickelt werden.“

Rasch krallte sich der junge Mann seine Uhr und rannte zum Ausgang, als sei jemand hinter ihm her. Nur ein leichter Luftzug verriet, dass er eben noch hier gewesen war.

Kurt Walden starrte noch ein paar Sekunden auf die Tür, durch die sein verhinderter Kunde verschwunden war.

Er warf einen Blick zu den beiden Kameras, die versteckt unter der Decke angebracht waren. Sie würden gute Bilder liefern.

Dann griff er zum Telefon und wählte die Nummer seines zuständigen Polizeireviers.

*



„Hier habe ich etwas Interessantes! Sie hatten ja vorgeschlagen, als Erstes die jüngsten Verkäufe zu prüfen.“

Brock nickte. „Falls der Mord wegen einer Fälschung von einem betrogenen Käufer verübt wurde, dann sicher nicht wegen eines Kaufs, der viele Jahre zurückliegt.“

Kommissaranwärter Horst Spengler schob die aufgeschlagene Kladde mit den nicht-offiziellen Käufen und Verkäufen von Markus Diefenbach über die Tischplatte. „Wir können von Glück sagen, dass unser Opfer seine Unterlagen so umfassend in Ordnung gehalten hat.“

Hauptkommissar Cornelius Brock und sein Assistent belegten einen der Konferenzräume mit Beschlag, da sie dort genügend Platz besaßen, um die Materialien des ermordeten Kunsthändlers auszubreiten. Spengler hatte in einem Schrank noch einen Stapel Terminkalender gefunden, die über einen langen Zeitraum zurückreichten.

„Das ist der letzte Eintrag“, sagte Spengler. „Nur eine knappe Woche vor seinem Tod.“

Brock studierte die wenigen Zeilen. „Er hat also eine etruskische Bronze verkauft, die mit O bezeichnet ist, also offenbar ein Original, sowie zwei altägyptische Stücke, die mit F bezeichnet sind, demzufolge Fälschungen. Die Preise sind beachtlich, und der Käufer ist ein A. Tomaselli aus Palermo.

„Da ist noch eine Visitenkarte angeklammert“, ergänzte Spengler, „wenn Sie die Seite umblättern.“

„Ja. Ich sehe sie. Ein Allessandro Tomaselli, der im Palazzo Speranza wohnt. Ein reicher Käufer aus Sizilien. Das löst gleich ein paar unangenehme Gedanken aus.“

„Sie meinen ...“

„Sagen Sie es nicht, Spengler. Wir dürfen nicht jeden zufälligen Gedanken für eine echte Spur halten. Doch ein Gespräch mit diesem Mann wäre sicher aufschlussreich.“

Spengler grinste. „Eine Dienstreise nach Sizilien? Das Gesicht der Chefin möchte ich sehen.“

Brock nahm keine Stellung zu der Bemerkung. „Was haben Sie noch?“

„In den letzten Jahren gab es eine rege Geschäftstätigkeit mit einer gewissen Thekla Moosbacher in Tutzing. Sie haben gegenseitig gekauft und verkauft. Vermutlich immer das, was der jeweilige Kunde haben wollte. Zu dem letzten Kauf vor einigen Wochen ist hier die Kopie einer E-Mail beigefügt, in der sich die genannte Thekla Moosbacher bitter beklagt, dass ihr eine Fälschung angedreht wurde. Sie verlangt, dass sie unverzüglich ihr Geld zurückbekommt. Mehr gibt es dazu nicht.“

„Taucht so etwas in den Kontoauszügen auf? Die haben Sie doch schon überprüft, oder?“

„Sein Geschäftskonto bei der Deutschen Bank weist keine großen Transaktionen auf. Dafür muss Diefenbach ein anderes Konto benutzt haben, wahrscheinlich in irgendeiner Steueroase, oder in der Schweiz. Auf die entsprechenden Unterlagen werden wir sicher noch stoßen. Vielleicht gibt es in seinem Haus einen versteckten Tresor.“

Brock nickte bestätigend. „Diefenbach war nicht nur Kunstfälscher, der auch mit illegalen Antiquitäten handelte, er hat Steuern hinterzogen und Geldwäsche betrieben. Da wäre einiges an Strafe zusammengekommen, wenn man ihn vor seinem Tod erwischt hätte.“

Spengler blätterte in einem der schmalen Terminkalender. „Ich habe mir über einen längeren Zeitraum seine Termine angesehen. Er ist viel gereist, hauptsächlich nach München und Florenz, gelegentlich auch nach London oder in die Schweiz. Und bis vor etwa zehn Jahren war er oft in Kairo, alle paar Wochen. Seitdem jedoch nicht mehr. Sehr seltsam.“

Cornelius Brock lehnte sich zurück. „Die Reisen nach München betreffen vermutlich seine Geschäfte mit Frau Moosbacher. Haken Sie doch mal bei den Kollegen im Landeskriminalamt nach, ob die irgendetwas über die Dame wissen, und checken Sie auch die üblichen Datenbanken.“

„Wird erledigt!“

„London ist ein zentraler Platz für den Handel mit Antiquitäten“, überlegte Brock weiter. „Eine Reise dorthin wäre also nicht verwunderlich. Die Schweiz gilt ebenfalls als Hotspot für Handelsgeschäfte dieser Art, hinzu käme dort noch die Verbindung zu Banken und deren Nummernkonten. Es wäre also ein logischer Zielort für Diefenbach.“

„Und Florenz?“, warf Spengler ein.

Brock rollte mit seinem Sessel langsam vor und zurück, bis er plötzlich stoppte. „Etruskische Funde.“

„Ich verstehe nicht ...“

„Mir ist aufgefallen, dass in Diefenbachs Notizbuch mit den illegalen Geschäften häufig etruskische Artefakte auftauchen, also Originale, Bronzen, Vasen, Reliefs. Vermutlich stammen sie aus Raubgrabungen. Und wo befindet sich das Zentrum dieser Raubgrabungen?“

„In der Toskana?“, fragte Spengler vorsichtig.

„Genau. Deshalb ist Diefenbach wahrscheinlich nach Florenz geflogen. Wir werden allerdings Mühe haben, seine dortigen Kontakte zu ermitteln. Ich weiß, dass diese Raubgrabungen hauptsächlich in der Hand des organisierten Verbrechens liegen. Alles läuft über Mittelsmänner, und es geht um sehr viel Geld. Wer redet, muss um sein Leben fürchten. Ich habe mich vor einiger Zeit bei einem europäischen Polizeitreffen mit einem Kollegen von der Guardia di Finanza unterhalten, und der hat mir einiges über das Geschäft erzählt.“

Horst Spengler blickte seinen Chef fast bewundernd an, ehe er den Blick wieder auf seine Unterlagen senkte.

„Da wäre noch Kairo. Ich dachte erst, dass er von dort seine Replikate von altägyptischen Kunstwerken bezieht, doch dann habe ich festgestellt, dass sie von europäischen oder asiatischen Firmen hergestellt werden, die zum Beispiel auch die Shops in den Museen beliefern. Aus Kairo könnten natürlich originale Stücke kommen, deren Ausfuhr aber strengstens verboten ist. Bleiben noch die Fälschungen. Diefenbach ist in den letzten Jahren nicht mehr in Kairo gewesen, auch nicht in einem der Nachbarländer. Andererseits hat er seitdem durchaus Stücke aus Ägypten verkauft, einige Originale und sehr viel mehr Fälschungen.“

Brock runzelte die Stirn. „Prüfen Sie doch bitte die Adressbücher und sonstigen Unterlagen, ob Sie irgendeinen Kontakt in Kairo herausfinden können. Es muss einen Grund geben, warum der so plötzlich abgebrochen wurde. Ich werde versuchen, etwas über den Mann aus Sizilien herauszufinden.“

Brock merkte, dass Spengler noch etwas auf dem Herzen hatte. „Sie haben noch eine Idee?“

„Na, ja, ich bin mir nicht sicher, ob wir allein in der Lage sind, die vielen Stücke, die in Diefenbachs Haus lagern, ausreichend zu beurteilen. Ich meine, ihre Herkunft, ihre Echtheit oder ihren Wert ...“

Brock lächelte. „Wenn Sie denken, dass ich so vermessen bin, das alles selbst zu entscheiden, sind Sie im Irrtum. Wir brauchen selbstverständlich kompetente Hilfe.“

Er kramte in einer Tasche seiner Jacke und fischte sein Handy heraus. „Der Kollege Ritter wollte mir eine Adresse senden.“

Er tippte auf das Display. „Da ist sie schon. Professor Ernst Hochstein, Dozent am Institut für Altorientalistik der Universität Hamburg. Soweit ich Ritter verstanden habe, hat der Professor der Polizei schon früher geholfen. Ich werde mich mit ihm in Verbindung setzen.“

„Sagten Sie Hochstein?“, fragte Horst Spengler und setzte sich senkrecht hin.

Brock überprüfte sein Display. „Ja, Professor Ernst Hochstein. Warum?“

„Den Namen habe ich irgendwo gesehen.“

Spengler blätterte aufgeregt in den Stapeln von Papieren, die er rings um sich auf dem Tisch aufgebaut hatte. Endlich fischte er einen gelben Schnellhefter heraus und schlug ihn auf.

„Da ist er. Professor Hochstein. Er hat offensichtlich für Diefenbach einige antike Objekte auf Echtheit überprüft und entsprechende Zertifikate ausgestellt. Dies sind allerdings nur Kopien. Sie reichen einige Jahre zurück. Die untersuchten Objekte sind vermutlich mithilfe dieser Zertifikate schon lange verkauft.“

Brock streckte die Hand aus. „Zeigen Sie mal her.“

Spengler reichte ihm die Mappe über den Tisch, sodass Brock einen Blick auf die Zertifikate werfen konnte. Er zählte sie durch.

„In Anbetracht des Zeitraums sind das nicht sehr viele Gutachten, nur zwei bis drei pro Jahr. Ich nehme an, unser Opfer hat dem Professor nur die wirklich echten Stücke zur Überprüfung gegeben. Für einen offiziellen Verkauf braucht man ein solches Papier. Hochstein hat übrigens nur die Echtheit bestätigt und nicht die einwandfreie Herkunft. Für Letzteres hat Diefenbach ja offensichtlich selbst gesorgt. Immerhin haben wir einen Anhaltspunkt dafür, dass der Ermordete nur wenige echte Stücke verkauft hat. Sein Geschäft bestand im Wesentlichen aus Reproduktionen und Fälschungen.“

Brock klappte den Hefter wieder zu. „Damit haben wir einen zweiten Grund, mit dem Herrn Professor zu sprechen. Ich bin gespannt, ob er sich an die Zusammenarbeit mit Diefenbach erinnern wird. Wir wissen ja, dass die Zeugen in Mordfällen oft erhebliche Gedächtnislücken aufweisen.“

Er dachte einen Augenblick nach. „Morgen Vormittag bin ich bei Doktor Fischer in der Rechtsmedizin. Dann könnten wir am Nachmittag zur Universität fahren.“

„Soll ich uns anmelden?“

Brock schüttelte den Kopf. „Sie wissen doch, dass ich am liebsten unangemeldet erscheine. Dann können sich die Befragten nicht auf das Gespräch vorbereiten und verwickeln sich eher in Widersprüche. Mir fällt noch etwas ein: Wenn ich morgen Vormittag in der Rechtmedizin bin, sollten Sie Kontakt mit der Schwester des Ermordeten aufnehmen. Vielleicht kann sie sich erinnern, wer der Freund ihres Bruders war, mit dem er eine Beziehung hatte.“

Er warf einen Blick auf seine Uhr und erschrak. „Schon so spät! Ich bin mit meiner Freundin zum Abendessen verabredet. Das schaffe ich nie!“

„Ich fahre Sie hin“, bot Spengler an. „Nur noch eine Kleinigkeit.“

Er zog aus einem der Stapel eine weitere Kladde, deren Äußeres offensichtlich schon viel durchgemacht hatte.

„Das ist der letzte Tagebuchband eines gewissen Johannes Diefenbach, wahrscheinlich der Großvater unseres Opfers. Darin beschreibt er seine Ausgräbertätigkeit in Ägypten in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Auf einer der letzten Seiten befindet sich die Zeichnung eines Dolches, der unserer Mordwaffe gleicht. Jedenfalls sieht der Griff genauso aus.“

„Geben Sie her. Das sehe ich mir später noch genauer an.“

„Falls Sie dazu kommen“, murmelte Spengler und grinste in sich hinein.

*



Hauptkommissar Cornelius Brock fluchte leise vor sich hin. Jetzt war er schon zehn Minuten zu spät.

Er kannte Julia Klein noch nicht gut genug, um zu wissen, wie sie auf eine Verspätung reagierte. Er hatte die attraktive Zollinspektorin vor nicht allzu langer Zeit bei einem Fortbildungsseminar kennengelernt. Es hatte schnell zwischen ihnen gefunkt.

Es war erst ihre dritte Verabredung zu einem Abendessen. Julia hatte einen Italiener in der Hafencity ausgesucht. Brock musste ein Stück zu Fuß gehen, da Spengler ihn nicht bis vor die Tür bringen konnte. Er hoffte sehr, dass seine neue Freundin noch nicht wutentbrannt gegangen war.

Als er die Tür zum Restaurant aufzog, fiel ihm ein, dass er sich nicht hatte umziehen können. Er trug immer noch seine schwarzen Jeans, darüber ein offenes Hemd und seine geliebte Lederjacke, die bereits eine gewisse Alterspatina angesetzt hatte. Nun, jetzt war daran nichts mehr zu ändern.

Er riss die Tür weit auf, und sofort umfingen ihn Stimmengewirr und Gelächter. Das Lokal war gut besucht. Er sah Julia an einem Zweiertisch am Fenster sitzen. Sie studierte die Speisekarte und sah nicht auf, während er rasch auf sie zuschritt.

Er hatte fast den Tisch erreicht, als sie ihn entdeckte. Ein freudiges Lächeln zog über ihr Gesicht, das auch nicht verschwand, als sie ihn von Kopf bis Fuß musterte. Im Gegensatz zu ihm war sie deutlich formeller gekleidet. Ein schwarzes Etuikleid umhüllte ihre schlanke und sportliche Figur. Das brünette Haar fiel in leichten Wellen bis auf ihre Schultern. Als Schmuck trug sie nur einen kleinen blitzenden Anhänger an einer dünnen goldenen Kette.

„Du siehst hinreißend aus“, hauchte er und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

Julia strahlte.

Brock setzte sich ihr gegenüber. „Es tut mir leid, dass ich mich verspätet habe. Doch wir haben gerade einen neuen Fall, der uns vermutlich einige Probleme bereiten wird. Ich habe einfach die Zeit vergessen.“

Sie legte ihm in einer beruhigenden Geste die Hand auf den Arm. „Wir haben beide Jobs, bei denen pünktliche Feierabende ein Fremdwort ist. Daher habe ich volles Verständnis für die Verspätung.“

Sie sah ihn aus ihren mandelförmigen Augen an. „Wenn es noch länger gedauert hätte, hättest du mich sicher angerufen, nicht wahr?“

Das hatte schon eine Nuance schärfer geklungen.

„Versprochen!“

„Dann lass’ uns einen Blick in die Karte werfen.“

Sie entschieden sich für Scampi und einen trockenen Weißwein aus der Toskana. Der Kellner servierte Brot, Butter und Mineralwasser. Brock merkte plötzlich, dass er Hunger hatte und bediente sich bei dem frischen Brot.

Ihr Gespräch drehte sich um alltägliche Dinge, und sie streiften verschiedene Themen bis das Essen kam.

Die Scampi waren vorzüglich, und der Wein passte hervorragend dazu.

Nach dem Essen bemerkte Julia, dass Brock ein Thema auf dem Herzen lag, das er jedoch nicht unbedingt anschneiden wollte.

„Raus damit“, sagte sie. „Ich sehe doch, dass du etwas mit mir besprechen willst, das vielleicht nicht ganz zu diesem Abend passt. Doch das spielt keine Rolle. Ich bin nicht so empfindlich.“

Brock schoss durch den Kopf, dass er diese Frau im Gegensatz zu anderen nicht ziehen lassen durfte. Sie verstanden sich nicht nur im Bett, und es gab kaum ein Thema, über das sie nicht diskutieren konnten, sondern sie akzeptierte auch seinen Job. Das war etwas, woran nicht zuletzt seine Ehe gescheitert war. Auch wenn er nach wie vor eine gute Beziehung zu seiner Ex-Frau hatte, so war ein gemeinsames Leben einfach nicht möglich gewesen.

Julia war anders. Das spürte er.

Er gab sich einen Ruck.

„Du hast in deinem Job doch sicher auch mit Kunstschmuggel zu tun“, begann er. „Ich habe mich mit dem Thema noch nie auseinandergesetzt, doch ich habe den Eindruck, dass ich bei unserem neuesten Fall noch eine Menge lernen muss, um das alles zu begreifen.“

Julia wurde sofort ernst. „Oh, ja, mit dem Schmuggel von Kunst oder Kulturgütern hatten wir schon zu tun. Inzwischen wurde daraus ein riesiges internationales Geschäft. Da gibt es zum Beispiel die illegalen Raubgrabungen, vor allem im Nahen Osten, im Irak oder Syrien, aber auch in Europa, sogar in Deutschland. Nach dem Sturz von Saddam Hussein wurden die irakischen Kunstschätze systematisch geplündert, und später hat der IS das unheilvolle Werk fortgesetzt. An dem Geschäft sind Händler, Auktionshäuser, Privatsammler, bestochene Gutachter und natürlich das organisierte Verbrechen beteiligt. Es geht um sehr viel Geld, es ist ein Milliardengeschäft geworden. Die Objekte fließen schließlich über dunkle Kanäle zu den Kunden, die es nicht interessiert, woher die Ware kommt. Der Markt scheint jedenfalls unersättlich zu sein. Nebenbei dient er auch noch der Geldwäsche, denn hier wandern hohe Beträge von schwarzem Geld von einer Tasche in die andere.“

Brock nickte nachdenklich. „Habt ihr schon viel beschlagnahmt?“

„Erst vor einigen Wochen bekamen wir einen Tipp, dass ein bestimmter Container aus Hongkong Bronzen und Porzellan aus dem alten China enthalten sollte. Als wir ihn öffneten, war er bis oben voll mit sogenannten Antiquitäten.“ Julia lächelte. „Allerdings handelte es sich ausnahmslos um Fälschungen, oder Kopien, wenn man es vornehm ausdrücken will. Gelegentlich fangen wir aber auch Originale ab. Es ist so, dass die illegalen Objekte in bestimmte Freihäfen gebracht werden, wo man sie in bestens geschützten Lagerhäusern zollfrei zwischengelagert, zum Beispiel in Genf oder in Singapur. Wenn dann ein Kauf über die Bühne geht, muss die Ware transportiert werden. Falls etwas nach Hamburg geht, hätten wir eine Chance, die Ware abzufangen, aber auch nur, wenn sie per Schiff oder mit dem Flugzeug kommt. Die Transporte über die Straße können kaum kontrolliert werden.“

Brock überlegte kurz. „Wenn also, sagen wir, ein Hamburger Händler illegale Objekte aus einer Raubgrabung in der Toskana bekommt, kann er sie relativ gefahrlos als normale Fracht erhalten, oder?“

Julia nickte. „Oder mit der Post, falls es kleinere Gegenstände sind.“

„Der betreffende Händler könnte diese Objekte also ebenso problemlos an seine Kunden versenden. Gleichgültig, ob es Originale oder Fälschungen sind. Das erklärt mir einiges über das Geschäftsmodell unseres Opfers.“

„Opfer?“

Hauptkommissar Brock durfte zwar über laufende Fälle nicht mit Außenstehenden sprechen, doch ein paar Informationen konnte er preisgeben, ohne zu viel zu verraten.

„Ein Kunsthändler, der mit illegalen antiken Objekten handelte, Originale und Fälschungen gleichermaßen, ist ermordet worden, und ich versuche herauszufinden, ob sein Tod mit seinem Geschäft zu tun haben kann oder private Gründe hat. Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen.“

Julia spielte mit ihrem leeren Weinglas zwischen den Fingern.

„Bei den Beträgen, um die es hier geht, läge ein geschäftlicher Grund sicher nahe. Ich beneide dich nicht um diese Aufgabe, einen Täter in diesem Umfeld zu finden.“

Brock hatte ihr leeres Glas bemerkt. „Noch eine Flasche?“

Sie sah ihn fast erschrocken an und stellte das Glas fest auf den Tisch. „Besser nicht. Ich habe morgen Frühdienst. Wir erwarten einen Frachter aus Dubai zwischen vier und sechs Uhr, den wir als Erstes kontrollieren müssen.“

„Dann müssen wir unseren Abend wohl bald beenden.“ Aus Brocks Stimme sprach eine gewisse Enttäuschung.

Julia Klein sah ihn mit einem mitleidigen Blick an. „Es geht leider nicht anders. Doch ich habe das ganze Wochenende frei. Ich könnte zu dir kommen, und wir überlegen uns, was wir je nach Wetterlage unternehmen können.“

Über Brocks Gesicht glitt ein strahlender Ausdruck. Er winkte den Kellner heran und sammelte seine Italienisch-Kenntnisse.

„Il conto, per favore!“

Er konnte nicht wissen, dass der Kellner aus Griechenland stammte.


Alstermorde: 9 Hamburg Krimis

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