Читать книгу Max und Anny - Hans Leip - Страница 4
Lütt Mackie
ОглавлениеAn einem hübschen klaren Frosttage stand ein Knirps von drei Jahren zu Hamburg auf der Lombardsbrücke. Seine schwarzen Strupphaare wehten im Wind, er war ohne Mütze, er war ohne Mantel, es machte ihm nichts. Bald hielt er sich mit seinen kleinen rotgefrorenen Fäusten bäuchlings oben auf der dicken Steinbrüstung, bald versuchte er, seinen Kopf zwischen die vasenförmigen Balustradenpfeiler zu zwängen. Seine schwarzen Augen starrten gebannt auf einen Schlittschuhläufer, der auf freigefegter Fläche von einem dunklen Ring Zuschauer umgeben, seine Kunststücke zeigte.
Beifall klatschte und verwehte dünn in der grauen Dämmerung. Unermüdlich zog der Kunstläufer seine Schleifen, vorwärts, rückwärts, tanzte einen Walzer, sprang, legte sich tief ins Knie, wirbelte wie ein Kreisel. Es dunkelte schon. Noch immer hing der schwarzhaarige Knirps über dem Brückengeländer. Es fror ihn nicht, er war entzückt.
„Mehr, mehr!“ schrie er mit heller Stimme.
Aber der Mann schien ihn nicht zu hören und ging daran, die Schlittschuhe abzuschnallen. Schon verzogen sich die Zuschauer.
Dem Knirps auf der Brücke passte es nicht. Er versuchte über die Brüstung zu klettern. Ein bärtiger gütiger Herr kam vorbei und hielt ihn zurück vom Sturz in die Tiefe.
„Wie heisst du, mein Kind?“ fragte er besorgt.
„Mackie Schmeling!“ antwortete ungnädig der Knirps.
„Und wo wohnst du?“
„Weiss ich nicht!“
Da war guter Rat teuer. Menschen versammelten sich um das Kleinformat des verlorenen Sohnes. Er zeigte sich gefasst. Es machte ihm augenscheinlich Spass, Mittelpunkt zu sein, wie etwa ein Eiskünstler. Er hielt den Fragern stand wie später den Reportern, und seine später oft bewundernswerte Geschicklichkeit, zwischen Sportneigung und Zuhause den rechten Weg zu finden, erwies sich früh, als er mit einem lässigen Aufleuchten in seinem kleinen prallen Jungensgesicht schliesslich erwähnte:
„Meine Bomboms krieg ich immer inne Brennerstrasse.“
Durch den Krämer und Bonbonlieferanten dort, wohin man mit ihm gelangte, ergab sich die nähere Anschrift.
Es war übrigens derselbe Krämer, bei dem ein paar Jahre früher auch Hans Albers, der nicht weit entfernt in der Langenreihe gross wurde, ab und an genascht hatte, und auch der Verfasser dieser Zeilen, der den grössten Teil seiner Jugend im Stadtteil St. Georg wohnte (z. B. auch in der Langenreihe), kannte ihn gut.
Mackies Vater, weiland Bootsmann bei der Hamburg-Amerika Linie, hatte den Nachmittag schon verzweifelt mehrere Polizeiwachen abgesucht. Er schloss das wiedergewonnene Kind dankbar in die Arme.
„Wo bist du gewesen?“ fragte er streng.
„Ich hab zugekuckt!“ antwortete Mackie. „Da war irgend so’n Mann ...“
Der Vater sollte noch erleben, dass auch sein kleiner Max einmal „irgend so’n Mann ...“ sein würde, bei dem es sich lohnte, zuzugucken.
Am gleichen Abend, auf der anderen Seite der Erde, in Australien, gewann der Neger Jack Johnson die Boxweltmeisterschaft, in dem er den weissen Titelhalter, Tommy Burns, in der 14. Runde k. o. schlug.
Um diese Zeit gab es in Hamburg auf dem Steindamm ein „Kinematographen-Theater“, das, wie damals üblich, durch das Hineinstellen von Stuhlreihen und eines mit Pappornamenten verzierten leinwandbespannten Teppichklopfrahmens aus einem Gastwirtschaftslokal hervorgegangen war. Die Musik zu den „Lebenden Bildern“ wurde von einem Orchestrion bestritten, und es lief derzeit unter rasselnder und klingelnder Begleitung Verdischer Melodien einer der ersten Starfilme, dessen Held auch Max hiess, jener kleine schmachtäugige behende Franzose Linder, der sich in den kurzen Szenen, die angestrengte Attacken auf das Zwerchfell des Publikums machten, „Max mit’m Schwung“ nannte.
Bootsmann Schmeling sah es sich an und lachte in seinen breiten Schnauzbart über die Witze, die uns heute keine mehr dünken, und er hielt die Leinwand, mit der gesegelt wird, für wichtiger.
Aber die Leinwand, mit der gesegelt wird, war damals schon zum Aussterben verurteilt. Was an Jachtsegeln übrig blieb, hielt sich besser an Baumwolle. Die Leinwände jedoch, die vor die dunklen Säle gespannt waren und nach Gutdünken mit den Zuschauerhirnen davonsegelten, die wuchsen heran und vermehrten sich ins Ungeahnte.