Читать книгу Brandung hinter Tahiti - Hans Leip - Страница 14
Treibend im Bengalischen Meer
ОглавлениеNur die Sohne glüht,
nur die Welle schwingt
auf der schattenlosen See.
Keine Blume blüht,
und kein Vogel singt.
Nur der Wind singt: Weh, ade.
»Und dann?« fragte David erregt.
Mackay nickte bekümmert: »Dann? Beim ersten Dämmern des Tages rief jemand: ›Ein Schiff! Ein Schiff!‹
Dies wurde von den an Bord befindlichen Muselmännern sogleich mit einem erlösten Anruf ihres Propheten erwidert, was auch uns an unsere Pflicht einem höheren Wesen gegenüber erinnerte, und wir brachten, jeder auf seine Art, dem lieben Gott unseren gerührtesten Dank für unsere Rettung dar, die einen stumm gesenkten Hauptes, die anderen weinend, der Kapitän selber mit offen dem Himmel zugewandten, laut jubelnden Antlitz.
Seine Frau, die sich weniger tapfer als ihre sogenannte Zofe gehalten, indem sie mit Jammern, ja selbst mit Vorwürfen nicht gekargt hatte, bat ihren Mann und uns alle mit gefalteten Händen um Verzeihung, welchen Überschwang wir mit Freude zurückwiesen, als hätte alles, was sie geäußert, wie ein Wiegenlied geklungen.
Leider aber hatten jenen seine Augen genauso getrogen wie uns in der Nacht unsere Ohren. Und vielleicht litten wir bei allen Prüfungen, die noch folgten, nicht so schmerzlich wie jetzt, als wir endlich erkennen mußten, daß nur eine Täuschung uns plötzlich so fromm gemacht hatte. Mein Herz erstarb. Und die Seelenruhe, die, wie ich mir geschmeichelt hatte, mich in allem, was auch komme, aufrechthalten sollte, war von da ab so ziemlich zum Teufel.
Nun, bei Tag sah es auch schrecklich genug aus auf dem, was unser Schiff Juno gewesen war. Und nicht weniger schrecklich war die See. Der Sturm setzte bei Tagesanbruch mit frischem Mute ein, als wolle er nun endlich ganz mit uns aufräumen, nachdem er uns noch eine Nacht gegönnt hatte. Wir trieben mit zertrümmertem Vorschiff, über dem sich ohne Pausen die Seen brachen. Dort, in der tanzenden Nadel des Fockmastes, hing ein Mann, aber über uns in der wirren Takelage des Besans, die jeden Augenblick zu brechen drohte, hingen über sechzig der Unglücklichen, und jeder machte sich Luft mit Klagen und Flüchen.
Auch die Frauen hatten nun beide ihre Fassung verloren, schrien kreischend, erbrachen sich, weinten einander am Halse, flehten uns an, etwas zu unternehmen, was die Lage ändern könne, baten, man möge sie doch losbinden und ihren Leiden ein Ende machen. Sie waren vom Gezeter der Laskars ganz von Sinnen, und diese wieder wurden verzweifelter durch jene weißen Frauen, die sie so fassungslos sicher noch nicht erlebt hatten.
Einige von uns, ich will es gleich sagen, ergaben sich freiwillig ihrem Schicksal, als die nächste Nacht und der nächste Morgen hereinbrachen und sich nichts geändert hatte. Sie stürzten sich stumm oder mit einem Aufschrei, von dem man nicht wußte, war es Fluch oder Gebet, ins Meer, das schon so nahe war und lange genug die Zungen nach ihnen gereckt hatte. Andere – unfähig, sich länger festzuhalten – wurden von dem hilflos taumelnden Schiff aus der Takelage geschleudert.
Der größere Teil aber war zu noch härteren Prüfungen bestimmt. Der Wind heulte drei lange Tage und Nächte in einem fort, und jeder Tag, jede Stunde vergrößerten unser Elend. Wir sahen voraus, daß wir endlich auf dem Wrack würden Hungers sterben müssen. Das ist so ziemlich die furchtbarste Gestalt, in der einem der Tod erscheinen kann. Ich will gestehen, daß beim Nachdenken sowohl meine wie auch der anderen Ansicht war, unser Leben durch das einzige Mittel, welches uns wahrscheinlich übrigblieb, zu fristen: nämlich durch das Fleisch derer, die eher als wir sich für immer ausstrecken würden. Ich habe erst lange nachher erfahren, daß auch die anderen so dachten. Anfangs schwiegen wir darüber, spielten nicht einmal darauf an, ausgenommen einmal, als der Konstabel, ein Irländer und Katholik, mich fragte, ob ich glaube, daß es Sünde sei, im äußersten Notfalle seine Zuflucht zu diesem Mittel zu nehmen.«
»Konstabler? Hattet ihr extra einen Polizisten an Bord?« staunte der junge Herr David.
Mackay schien froh, in einer wenig erbaulichen Erinnerung unterbrochen zu werden: »O nein, es war ein armes Luder, ein entlaufener Kanonier der Kolonialtruppen. Den Titel Konstabel führen bei der britischen Marine die Artillerie-Unteroffiziere und Büchsenmeister. Und da unser verunglückter Zimmermann auch die Schiffskanone und die Signale bedient hatte, sah Kapitän Bremner in ihm wenigstens einen Ersatz, und auch bei der Reparatur der Pumpen hat der Mann sich anstellig gezeigt. Übrigens verließen er und ein paar andere das Achterdeck und den Besan, da es am Fockmast wahrhaftig bequemer aussah, und versuchten, hinüberzuschwimmen. Drei oder vier büßten dabei ihr Leben ein. Der Konstabel und auch Jacky Hont aber gelangten glücklich hin. Mich ließ das ziemlich kalt. Auf meine anfängliche Unruhe war nämlich eine lähmende Gleichgültigkeit oder vielmehr Unempfindlichkeit gefolgt. Ich hatte nur den einen Wunsch, gut zu sitzen und die Zeit zu verdösen, ja, ich wünschte mir tatsächlich einen gewissen Grad von Unbewußtsein, von sanftem Wahnsinn. Nur das unnütze Klagen und Wimmern meiner Leidensgefährten brachte mich ein wenig auf. Statt mit ihnen zu fühlen und ihnen beizustehen, wie ich es doch wenigstens in bezug auf die beiden Frauen anfangs nach Kräften versucht, verdroß es mich später, daß sie mich aus meinem Hindämmern brachten.
In den ersten Tagen auf dem Wrack der Juno litt ich noch nicht so sehr unter Hunger und Durst, da das Wetter trübe und kühl war und auch die schrecklichen Szenen einem wohl den Appetit verschlugen.
Am vierten Tage aber legte sich der Wind, die Wolken teilten sich und setzten uns der brennenden Sonne aus, die uns gerade über den Kopf rückte. Nun wurde mir mein Zustand sehr bald fühlbar. Bisher war mir das Grauen vor dem, was uns noch bevorstehen mochte, unerträglicher gewesen als alles, was ich je erfahren hatte. Obgleich die natürlichen Bedürfnisse des Körpers und besonders mein Durst mich stark beschäftigten, waren sie doch bislang keineswegs so peinigend, wie ich es von ähnlichen Fällen gelesen hatte.
Etwas anderes war übler. Ich begann nämlich, das in Wirklichkeit herannahen zu fühlen, womit ich bisher nur in der Einbildung gespielt hatte: ich fürchtete, mich jetzt dem Grade des Elends zu nähern, den die Bedauernswertesten unter uns offenbar schon erreicht hatten; also meinen Verstand zu verlieren. Zugleich aber erwachte in mir eine unsinnige Lust zu leben, zu leben und klaren Verstandes zu bleiben. Ein geradezu unbequemer Trotz erhob sich in mir und weckte alles, was dienlich sein konnte und erfinderisch war.
Ich erinnerte mich, in Kapitän Inglefields Schiffbruchgeschichte gelesen zu haben, daß seine Leute großen Nutzen davon gehabt hätten, sich abwechselnd auf ein in die See getauchtes, leinenes Laken zu legen. Die Poren der Haut, hieß es da, zögen das Wasser ein und ließen, ein natürlicher Filter, das Salz außen vor.
Dies ahmte ich, so gut ich konnte, nach, indem ich eine flanellene Wickelbinde – welche ich, wie in den Tropen und auf See üblich, auf bloßem Leibe trug – von Zeit zu Zeit ins Wasser tauchte und mich wieder darin einwickelte. Auch mehrere meiner Gefährten, die meinem Beispiel folgten, gestanden, daß sie dadurch erfrischt und gestärkt würden.
Der Erste Steuermann und auch Kapitän Bremner jedoch, der oft lange bewegungslos mit dem Ausdruck eines unsinnigen Tieres vor sich hin stierte, wiesen es verächtlich von sich, und mir schien, daß sie mich innerlich für verrückt hielten. Bremner verbot es auch seiner Frau, doch nicht aus Bosheit oder Schamhaftigkeit, sondern damit sie sich nicht erkälte; aber sie tat es heimlich, und alle Prüderie wie auch alle Neigung zu delikaten Beobachtungen waren in unserer jämmerlichen Lage vergessen, fast sogar bei Fräulein Sanders, die aus einem vollkommen leblosen Zustand, der einem krampfartigen gefolgt war, allmählich wieder zu sich kam und sogar einen schwachen Anlauf machte, ihr Haar zu ordnen. Ich bin fest überzeugt, daß dieser Salzwasserwickel uns das Leben rettete. Zugleich hatte er den Vorteil, die Gedanken zu beschäftigen. Wenigstens empfand ich jedesmal eine kaum zu beschreibende innere Zufriedenheit dabei.
In der Nacht des vierten Tages fiel ich zum ersten Male in erquickenden Schlaf. Mir träumte auch allerlei, und es hatte darin alles eine besondere Betonung und Würde. Mein Vater, eine Bischofsmütze auf dem Kopf, predigte mir gute Lehren der Kindheit, die mir, so merkte ich selbst im Traum, in unserer Lage wenig nützen konnten. Aber nach dem Erwachen freute ich mich doch; Bilder einer liebevollen Vergangenheit umgaukelten mich, die ich abgetan glaubte. Ich fand mich mit allem, was gewesen war, wieder verbunden und auch ausgesöhnt; nichts schien falsch oder umsonst gewesen und mein Schicksalsweg rund und richtig. Ich hatte vieles gesehen, Gutes und Böses erlebt wie ein ordentlicher Mensch. Ich beschäftigte mich sogar in aller Freundlichkeit mit Gott, dem ich bald Rechenschaft geben zu müssen glaubte. Und im großen und ganzen war ich bereit zu sterben.
Ähnliche Überlegungen schien auch Fräulein Sanders anzustellen. Sie unterhielt sich auf sanfte Weise mit der jungen Kapitänsfrau, die gewiß noch nicht allzuviel vom Leben genossen hatte, aber sicher mehr als ihre Trösterin.
Ich wandte ihnen das Gesicht zu und erzählte meinen Traum. Daraufhin jammerte Frau Bremner, ihre Zofe hätte doch lieber in Burma bleiben und heiraten sollen. Aber sodann erhob sich auch Fräulein Sanders’ Stimme, und plötzlich erzählte sie ziemlich fließend von Rangun, von Tempeln und goldenen Kuppeln, geschnitztem Zierat, Tieren aus Stein, Gold und Juwelen. Alles heidnisch, habe sie sich gesagt, aber ihr sei ganz schwindlig geworden bei all der Pracht so zwischen den Götzen, die zumeist furchtbar aussahen, nur einer nicht, der war sanft und gütig, den hätten sie Buddha genannt. Seine Augen aus Edelstein hätten sie überall verfolgt. Sie schien selbst noch auf unserm Wrack voll der sonderbaren Furcht, er könne ihr auf die Dauer gefallen; denn sie war andererseits eine gute Christin. Und auch die Menschen, die dort in Indien mit Blumengaben in die Tempel gingen, hätten gute Augen gehabt, seien sanft und schlank gewesen – braune Menschen, die, wie man ihr zu Hause gesagt habe, zum Dienst an den Weißen von Gott bestimmt seien. Eine Hölle, hatte sie sich sagen lassen, kannten sie nicht, auch verlangten diese Abbilder nicht, daß man sie anbete, sie sollten nur allgemein anregen zum Gebet. Eine Hölle bereite man sich selber; wenn man aber wolle, so gebe es einen Weg, der immer höher führe bis zur Vollendung, nämlich, daß man aus sich selber heraus gut sei und anständig handle.
Das war anscheinend Gift für ihr Gemüt gewesen. Sie hatte es gefühlt und war wohl eigentlich darum geflohen. Furchtbare Zweifel, so sagte sie mir, hätten sie gequält, ob nicht das sogenannte Heidnische womöglich besser sei als das im Westen eingetrichterte Christentum. Sie fragte mich auch, ob ich mich der Blumen auf dem Stickrahmen erinnere. Solche gab es in der großen Pagode Schoe Dagong; nun spielten die Fische damit. Und die Pagode sei gebaut wie eine Glocke, sie höre sie läuten bis hierher, man mache seltsame Musik auf Bronzetrommeln und Hörnern, und alle Frauen seien Tänzerinnen. Dergleichen mehr erzählte sie. Mir kommt es heute wie Kraut und Rüben vor, aber damals fand ich es hübsch. Sie wird Fieber gehabt haben. Auch sagte sie, sie habe den dicken Mann, einen Mischling, nicht heiraten mögen. Eher schon einen der reinrassigen Farbigen mit den traumhaften Namen. Aber da man das als anständige Europäerin nicht dürfe, habe sie auch deshalb fliehen müssen. Dann würde sie eher ihren Onkel heiraten, obschon auch der sehr dick sei. Zum Schluß unseres Gespräches, das ich deutlich im Gedächtnis habe, obwohl ich einiges, das mir heute zu fromm oder abgründig deucht, nicht wiederholen mag, seufzte sie: ›Mein Gott, warum hab ich dich verlassen!‹
Wen sie damit meinte, ob ihre Heimat, ihren Onkel, ob Indien, ob Gott selber, oder ob es eine Lästerung war, weiß ich nicht, hab auch nicht danach gefragt. Denn damals kam mir alles gut und richtig vor, was sie sagte.«
»Und wäre es vielleicht auch noch heute!« räusperte sich verbindlich scherzhaft der von Platow, seine Erschütterung verbergend.
Herr Parish dünkte, Mackay könne darüber verlegen werden, einschnappen und darauf verzichten, die Geschichte zu Ende zu erzählen. Er schlug deshalb vor, sich nunmehr eine schöne Tasse Kaffee nebst Torte zu gönnen. Ihm sei ganz magenhängerig bei der Sache geworden. Aber er und namentlich sein Sohn müßten unbedingt auch den Schluß hören.