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Ein Floss, Tod, Wahnsinn und ein Trunk vom Himmel

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Schön ist die See, doch so schön sie dir scheint,

sie besteht aus den Tränen, die man um sie geweint.

»Teufel, Topp und Takelgarn!« entfuhr es dem Steuermann. Er hatte alle Scheu vor den vornehmen Herren verloren. »Und wir schmausen hier aus dem Vollen.« Er hielt inne, sichtlich verwundert über die Wandelbarkeit des Schicksals.

»Recht so, junger Mann!« versetzte Parish, den Löffel voll Schlagsahne hebend. »Wehe dem, wer es auch sei, der nicht gerüstet ist für jedwede Lage, auch unangenehme!«

Der von Platow, einem kräftigen Mokkaschluck nachschmekkend, fügte hinzu: »Möge uns denn niemals zur rechten Zeit der angenehme Ausgleich fehlen, hier wie überall.«

Mackay sah die ungeduldigen Augen des Knaben David, lächelte abwesend und erzählte ohne Überleitung weiter:

»Die beiden Frauen, der Kapitän und die Offiziere des Schiffes – das waren Herr Wäde und ich – begaben uns, da es auf dem Achterdeck nicht ohne zeitweilige Duschen abging, auf die Marssaling des Besanmastes, manchmal noch Mastkorb genannt, aber leider ohne die gemütliche Brustwehr früherer Jahrhunderte. Dort lagen wir wenigstens trocken und gegen Sturzwellen gesichert. Uns wurde bereitwilligst Platz gemacht, da es an diesem Tag sehr heiß und die See ruhig war und man ohne Gefahr in die Wanten entern konnte. Doch machte es den Frauen unsägliche Mühe. Die Kräftigsten begaben sich indes hinunter, um auf Anraten des Kapitäns aus allerlei Rahen, Spieren und Stengen ein Floß zu zimmern.

An diesem Tag, es war der fünfundzwanzigste Juni und der fünfte Tag seit der Havarie, starben die ersten beiden aus der Mannschaft aus Entkräftung. Es machte auf die Überlebenden einen tiefen Eindruck. Der eine verschied plötzlich; der andere aber schmachtete einige Stunden in der großen Todesangst. Zuerst wurde er von einem heftigen Aufstoßen gequält, dem schreckliche Krämpfe folgten. Ich erfuhr danach öfter: Dies waren Vorboten eines qualvollen Todes.

Das Floß wurde am anderen Tag fertig. Kaum daß es zusammenhielt, verfügte sich alles, was noch kriechen konnte, hinauf. Der Kapitän selber, die allgemeine Bewegung eben bemerkend, kam mit seiner Frau und Herrn Wäde vom Mast herunter. Obwohl ich das ganze Unternehmen nicht billigte, folgte ich schließlich, da auch Fräulein Sanders sich entschloß, den Rufen ihrer Frau Bremner und dem allgemeinen Beispiel nachzugeben.

Das Floß war aber nicht imstande, uns alle zu tragen. Es entstanden Streit und Handgemenge, und die Stärkeren nötigten die Schwächeren, zu weichen und sich wieder aufs Wrack zu begeben. Als wir nun das Tau kappen wollten, das Floß und Schiff verband, fragte ich den Kapitän, in welcher Richtung er glaube, daß Land liege, und ob Wahrscheinlichkeit vorhanden sei, es zu erreichen. Da ich keine Antwort erhielt, suchte ich ihn zu bereden, wieder zum Schiff zurückzukehren, merkte jedoch bald, daß mein Ansinnen weder auf ihn noch auf einen der anderen, selbst nicht bei den Frauen, Eindruck machte, und so mußte ich mich denn wohl und übel dazu verstehen, bei ihnen zu bleiben.

Wir pullten vor dem Winde mit Plankenstücken fort, welche die Leute vorher zurechtgeschnitten hatten, waren aber noch nicht weit gekommen, als wir unsere Anzahl für das Floß noch immer zu groß fanden. Ich benutzte die Gelegenheit, meine Vorhaltungen zu erneuern, die denn auch bei Herrn Wäde die gewünschte Wirkung hatten, wohl, weil er mir nicht zeigen wollte, daß ihm mehr als mir daran lag, bei den Damen zu bleiben, obschon er, von roten, unrasierten Borsten überall umstarrt, da wohl kaum etwas erwarten konnte. Die anderen, welche das Floß gern erleichtert sahen, waren sehr bereitwillig, uns wieder an unseren vorigen Platz zu verhelfen.

Sie stießen danach – wie sie hofften, für immer – vom Schiff ab. Gegen Sonnenuntergang hatten wir sie schon aus den Augen verloren. Meine Seele wurde nachts gequält von Selbstvorwürfen, daß ich nicht mitgefahren, andererseits beruhigt von der Einsicht, daß es geraten war, auf dem Wrack auszuharren.

Am Siebenundzwanzigsten morgens waren wir höchst überrascht, das Floß wiederum zu erblicken, und zwar an der entgegengesetzten Seite des Schiffes.

Die Leute darauf hatten die ganze Nacht gerudert, bis endlich ihre Kräfte erschöpft waren; und da sie nicht wußten, welche Richtung sie nehmen sollten, so trieben sie aufs Geratewohl herum, bis sie sich bei Tagesanbruch wieder nahe bei uns befanden. Sie verließen nun das Floß und kletterten niedergeschlagen wieder an Bord. Ich sah Jacky Hont darüber lachen, aber er war ja fast noch ein Kind.

Kapitän Bremner verfiel bald darauf in Wahnsinn. Der entscheidende Anlaß war folgender: Wir versuchten ein paar Tage vergebens, Fische zu angeln. Denn daß man solche ohne Schaden roh essen kann, wenigstens gewisse Sorten, wußte Wäde aus Japan und ich aus der Südsee. Es fehlte uns aber am Köder; denn daß ein Fisch auf kleine Stücke Leder, Teer, Haar, Nasenschleim oder Kot anbeißen würde, war damals unsere wirre Hoffnung; heute fällt es leicht, darüber zu lächeln.

So über die gespickten Vorratskammern der See hinzuschweben, ohne ihnen beizukommen, das war ein elend zermürbendes Gewerbe. Kapitän Bremner machte sich nun in seiner Verzweiflung eines Nachts an einem Toten zu schaffen, der sterbend aus den Wanten aufs Achterdeck gestürzt war. Ich sah es wohl und andere sahen es sicher auch, aber jeder verhielt Atem und Mund. Am nächsten Morgen begann Bremner sehr zeitig sein Angelgeschäft. Er saß den ganzen Tag am Heck, stierte die dünne Segelschnur entlang und wartete auf das Zucken in seinen Fingern. Es hatte sich unser aller eine entsetzliche Spannung bemächtigt; denn es hatte sich herumgeflüstert, was er an einem zurechtgebogenen Ende rostigen Drahtes als Köder stecken hatte. Die Sonne ging unter. Er saß noch immer da, regungslos in sich versunken, ein Bild verzweifeltester Erwartung. Auf einmal schrie er triumphierend, schnellte sich mit seinem ganzen Körper hoch und nach hinten und schleuderte seine Beute an Deck. Aber was er da mit dem Leichenfleisch gefischt hatte, war so grausig wie sein Köder: ein großer, widerlich geformter, stachelstarrender, langschwänziger Rochen, der nicht nur ein geisterhaft bläuliches Licht ausstrahlte, sondern auch von unerträglichem Geruch war und wie ein Satan auf und nieder schlug. Da nun jeder vor Abscheu unfähig war zuzupacken, fuhr er mitsamt der Angelleine wieder in die Tiefe zurück.

Wir waren froh, das höllische Ungeheuer verschwinden zu sehen, aber Bremner bekam einen Tobsuchtsanfall, und nur das Entsetzen vor seinem Fang hinderte ihn, sich diesem nachzustürzen. Seine Frau zog sich dieses so zu Gemüte, daß sie darüber krampfartige Zustände bekam. Er war ein starker, rüstiger Mann, noch von mittleren Jahren, sie ein junges, zartes Frauenzimmer. Beide waren kaum ein Jahr verheiratet. Bei Beginn unseres Mißgeschicks hatte der Anblick seiner jungen Frau ihm viel Kummer verursacht, als mache er sich Vorwürfe, sie in diese Gefahr gebracht zu haben. Nunmehr ließ er nicht von ihr ab, und wir waren zuweilen genötigt, sie mit Gewalt aus seinen heftigen Umarmungen zu befreien. Oft glaubte er im Wahn, einen mit den ausgesuchtesten Schüsseln besetzten Tisch zu sehen, und fragte dann mit wildem Blick, warum wir ihm nicht von diesem oder jenem Gericht gäben. Seine Wahnvorstellungen hatten gewöhnlich Bezug auf Essen und Trinken, oft war auch seine Frau der Gegenstand und zuweilen auch ihre Zofe und andere Dinge, natürlich auch der unheimliche Rochen. Sein Zustand wurde immer irrsinniger, aber wir waren bald zu stumpf, uns noch daran zu kehren. Nur Fräulein Sanders schluchzte dauernd herzzerbrechend in sich hinein.

Schlimmer als der Hunger quälte uns der Durst. Da ich die übelsten Folgen vom Trinken des Seewassers, vor dem immer gewarnt wird, befürchtete, enthielt ich mich dessen so lange wie möglich, bis ich endlich die brennende Hitze in Magen und Eingeweiden nicht länger ertragen konnte. Weil ich nun doch meinen Tod nahe glaubte, stieg ich hinunter, um mich noch einmal mit einem Trunk zu laben, und trank fast zwei Liter. Zu meinem großen Erstaunen belebte es aber, statt zu schaden. Nichtsdestoweniger erwartete ich, da ich Seewasser noch immer für eine Art Gift hielt, den ganzen Tag meinen letzten Todeskampf. Ich irrte mich aber, fiel vielmehr in einen vernünftigen Schlaf, meine innere Hitze ließ nach, ich fühlte mich gestärkt, und obwohl ich mächtig Bauchkneifen und Durchfall bekam, war dies doch nur ein sehr geringes Übel im Vergleich zu der Wohltat. Doch blieb mir erspart, es zu wiederholen. Denn am Abend begann es aufzufrischen, und der Wind brachte uns zur rechten Zeit eine Erleichterung, nämlich Regen. Wir fingen ihn in Mützen und Kleidungsstücken auf. Zuerst schmeckte er noch salzig, war aber heftig genug, das aufgesogene Seewasser aus den Plünnen herauszuwaschen.

Seitdem blieben wir selten achtundvierzig Stunden ohne Regen. In der Zwischenzeit, wenn wir nicht Kräfte genug hatten, selbst hinunterzusteigen, pflegten wir ein Kleidungsstück an Takelgarn in die See zu lassen und es dann durchnäßt anzuziehen. Wenn aber ein Regenschauer uns auch nur ein paar Schlucke frischen Wassers verschaffte, entweder durch Auffangen des Regens mit dem Munde oder durch Auswringen aus den Kleidern, so strömte damit neues Leben und neue Kraft in uns, und wir vergaßen eine Zeitlang fast alle unsere Not.

Außerdem kauten wir, was wir nur finden konnten, gewöhnlich ein Stück Segeltuch, aber auch Blei. Blei soll ja giftig sein, wie ich nachher erfuhr, besonders wenn es in den Magen kommt. Ich kann jedoch versichern, daß ich oft selbst ein Stück Blei stundenlang ganz klein gekaut und zuweilen auch verschluckt habe, ohne daß es mir geschadet hätte. Es wird Ihnen vielleicht auffallen, daß ich gar kein Leder erwähne; aber wir hatten keins, da niemand von uns, als das Schiff vollschlug, in Schuhen war, und die Laskars nie Schuhe tragen. Auch wir zogen beispielsweise immer, wenn es regnete, die Schuhe aus, da das in Indien gegerbte Leder durch Nässe ganz unbrauchbar wird. Einige Stellen der Takelage, wo Tauwerk an Tauwerk schamfielte und die Gefahr des Brechens bestand, waren allerdings wie üblich mit ledernen Schmattings umnäht; aber die vom Hunger Gepeinigten, die daran zu kauen versuchten, gaben es bald auf, da Geruch und Geschmack durch das zum Labsalbern benutzte, minderwertige Fett allzu widerlich waren. Nur Jacky Hont vermochte sich zu überwinden. Er war im schlimmsten Soho aufgewachsen, hatte auch eine Art gewitzter Angst – von dunklen Blicken und Andeutungen genährt –, daß man ihn zu schlachten gedenke, und er tat alles, sich bei Kräften zu halten, um es seinen Nachstellern gebotenenfalls nicht leichtzumachen.

Stets bohrte in mir der Gedanke, was wohl das Ende unserer hilflos elenden Lage sein werde. Ich hatte gelesen oder gehört, daß kein Mensch ohne Nahrung länger als ein paar Tage leben könne, und als nun bereits mehrere verflossen waren, staunte ich, daß ich noch immer lebte, glaubte aber gewiß, daß jeder folgende Tag der letzte sein müsse. Auch erwartete ich – ähnlich wie Jacky Hont, ich muß es gestehen –, als bei einigen der Todeskampf nun wirklich herannahte, wir würden einander das Fleisch vom Leibe reißen. Diese Vorstellung verließ mich nicht, ich sah den Augenblick nahen, da unsere Zähne in Irrsinn und Gier sich an dem Fleisch des Nächsten vergehen würden. Und vielleicht söhnte mich die Furcht vor solcher Zukunft mit der Gegenwart aus.

Manche meiner Leidensgefährten starben im Wahnsinn; hatte ich anfangs dergleichen als Erlösung für mich betrachtet, so war jetzt mein stilles Gebet, daß mir der Verstand bis an mein Ende erhalten bleiben möge; denn diese entsetzliche Raserei, dieser Ausbruch des Tierhaften, gegen den wir uns wehren mußten, war nicht das holde Nichtwissen und Hinüberdämmern, das ich mir wünschte. Zuletzt fürchtete ich, alle meine Gefährten zu überleben und so das letzte Opfer zu werden; dennoch sehnte ich mich nicht, das nächste zu sein.

Einer von den Laskars, dessen Körper sich mit scheußlichen Geschwüren bedeckte, starb im Tauwerk des Besanmastes. Sein nächster Nachbar versuchte, den Leichnam in die See zu werfen; allein, dieser war so in die Taue geklemmt, daß er ihn nicht lösen konnte. Der verwesende Körper blieb noch einen oder zwei Tage hängen, bis der Gestank endlich unerträglich wurde und mehrere mit Hand anlegten.

Ich könnte mehrere solcher Fälle erzählen. Aber ich mag nicht. Schon die bloße Erinnerung, so lange es auch her ist, wird mir zu viel.«

William Mackay versank in Schweigen. Er wehrte nicht ab, als ihm Herr Parish neu einschenkte. Von Platow trat ans Fenster und sah bedrückt in den gelblichen Himmel, den sich lange, gekrümmte, graue Wolkendrachen teilten.

John Parish seufzte: Der Wind drehe wieder nach Süd, und diese Art Himmel fürchte er. Selbst wenn Popham noch heute eintreffe, wäre es zu spät, mit der Flotte die offene See zu erreichen. Aber immerhin, sie alle hätten es noch gut gegen jene auf der Juno damals.

David Parish legte seine knabenhafte Hand auf die braune Pranke Mackays, zog sie aber beschämt schnell wieder zurück. »Was ist aus dem Kapitän geworden?« flüsterte er.

Mackay sah ihn an und trank mit einem entschlossenen Ruck. »Ich will es dir erzählen«, sagte er düster.

Brandung hinter Tahiti

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