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Die ruinöse Konkurrenz zwischen regionalen Bahnmonopolen
ОглавлениеDas im ersten schweizerischen Eisenbahngesetz verankerte Laissez-faire sollte zum ruinösen Kampf zwischen kantonal konzessionierten, privat geführten Unternehmen ausarten. In einem Land, dessen Grösse einem mittleren deutschen Bundesland entspricht, bleibt der Landesregierung für 20 Jahre das Recht für koordinierendes Eingreifen versagt. Der 1852 geschaffene juristische Rahmen fördert zwar endlich den Bahnbau, er führt aber zu regionalen Monopolen und nicht zu einem Wettbewerb, der den Schienentransport verbilligt. Privat finanziert sind die Privatbahnen auch nur zum Teil, überall und gerade auch für Alfred Escher muss die öffentliche Hand Garantien oder Subventionen sicherstellen, besonders für die Gotthardbahn. Die vorerst fünf regionalen Monopole behindern sich an den Schnittstellen gegenseitig, indem sie Güter umladen lassen, statt fremde Wagen zu befördern, indem sie Abkürzungsstrecken bauen lassen, um günstigere Tarife anbieten zu können, indem sie Konzessionen für Konkurrenzstrecken hintertreiben oder indem sie Einführungen von technischen Neuerungen mit juristischen Mitteln verhindern.
Alfred Escher profiliert sich in diesen Auseinandersetzungen als instinktsicherer Machtpolitiker wie auch als lernwilliger Netzwerker. In sein Netz fängt er mittels Ämtern und Stellen auch Oppositionelle wie den radikalliberalen Schriftsteller Gottfried Keller oder den als Kommunisten verschrienen Johann Jakob Treichler. Escher und seinen Mitstreitern gelingt es vorerst, die bestehende «Schweizerische Nordbahn» Zürich—Baden mit der «Bodenseebahn» Zürich—Romanshorn zur Nordostbahn NOB zu fusionieren. Zürich erhält so ab Mitte 1856 als zweite Schweizer Stadt eine internationale Schienenverbindung – vorausgesetzt, dass die Güter in Romanshorn und dem württembergischen Friedrichshafen auf Schiffe umgeladen werden.15
Alfred Escher macht sich mit dem Eisenbahngesetz von 1852 zum Eisenbahnkönig. Denkmal vor dem Hauptbahnhof Zürich.
Foto H. P. Bärtschi 2018.
Gut 15 Monate später nimmt die NOB auch die «Rheinfallbahn» Zürich—Schaffhausen mit Anschluss an die Badische Bahn in den Konzern auf. Sie beherrscht schliesslich den wichtigsten schweizerischen Verkehr von Deutschland ab Basel und Schaffhausen bis Luzern und Glarus. Den letzten Konkurrenten, die «Schweizerische Nationalbahn» SNB mit Sitz in Winterthur, treibt die NOB bis 1880 in den Konkurs und übernimmt die Konkursmasse zu 12,4 Prozent der Bau- und Betriebsmittelausgaben. Die NOB verfügt schliesslich – inklusive Bözbergbahnbeteiligung – über ein Schienennetz von 771 Kilometern. Sie bildet bis zum Zusammenschluss der Berner und der Westschweizer Bahnen den grössten Bahnkonzern des Landes.
In Basel setzen sich am 5. Oktober 1852, kurz nach der Festsetzung des Eisenbahngesetzes, Wirtschaftsvertreter zusammen, angeführt von Ratsherr Carl Geigy. Der Farbstoffindustrielle hat 1850 Stephenson und Swinburne in wirtschaftlichen Fragen beraten. Da nun anstelle des Bundesrats die Kantone Eisenbahnprojekte bewilligen müssen, nutzt Geigy seinen Ruf und Einfluss und gewinnt die beiden Basler Halbkantone sowie die Kantone Aargau und Luzern für den Bau einer «Schweizerischen Centralbahn» SCB Basel—Olten—Luzern. Mit ihm als erstem Präsidenten und ab 1856 als Direktor und dem Engländer Thomas Brassey als Generalunternehmer gelingt der Durchbruch des ersten langen Gebirgstunnels der Schweiz am Hauenstein. Das Streckennetz erschliesst von Frankreich her den Jurafuss, die Zentralschweiz und Bern. Es ist inklusive der Beteiligung an der Aargauischen Südbahn 390 Kilometer lang. Eine von Alfred Escher angeregte Fusion mit der NOB kommt nicht zu Stande, beide Konzerne streben über verschiedene Zufahrtslinien der Transitroute über den Gotthard zu.
Auf St. Galler und Pariser Initiativen gehen die «Vereinigten Schweizer Bahnen» VSB zurück. Wie der Gesellschaftsname verrät, besteht das ursprüngliche Ziel dieses ostschweizerischen Konzerns darin, die Schweizer Bahnen gemäss der Strategie der Gebrüder Rothschild zu vereinigen. 1857 gelingt der Zusammenschluss der Sankt Gallerbahn mit der Glatttalbahn. Die VSB beginnen sofort mit dem Bau der Rheintalbahn Richtung Chur und Lukmanier. Doch nach dem Entscheid, die Alpentransversale über den Gotthard zu bauen, stagnieren die VSB. Sie betreiben Ende des 19. Jahrhunderts ein Regionalnetz vom Rheintal rund um die Voralpen bis ins Zürcher Oberland. Es ist inklusive Toggenburgbahn knapp 300 Kilometer lang. Die nie vollendete Ostalpenbahn aber bleibt eine Hypothek der Sankt Galler, ihnen fehlt lange Zeit die internationale Transitachse, die schliesslich mit dem Bau der Arlbergbahn eine andere als die ursprünglich vorgesehene Richtung nimmt.16
Im Berner und im Westschweizer Einflussgebiet schliessen sich die Bahnen erst spät zum Bahnkonzern «Jura—Simplon» JS zusammen. Alfred Eschers fast gleichaltriger Gegenspieler Jakob Stämpfli ist wie jener Jurist und Vollblutpolitiker, jedoch auf radikaler Seite. Er favorisiert ein staatlich geplantes und gebautes Eisenbahnnetz. Ihm bleibt nach dem Erlass des Eisenbahngesetzes 1852 nichts anderes übrig, als sich statt im nationalen nun im kantonalen Rahmen für den Bahnbau einzusetzen.
Fünf Jahre später liegt der Bericht über ein bernisches Eisenbahnwesen vor. Zu spät, um den Baslern die Stirne bieten zu können. Diese haben bereits 1853 eine Linie über Burgdorf bis Thun konzessionieren lassen. Nun suchen die Berner eine Route für eine zweite schweizerische Haupttransversale vom Jura auf «Abwegen» durch das Emmental und das noch dünner besiedelte Entlebuch Richtung Luzern und Zürich. Finanziert mit einem Extrakredit der Berner Regierung eröffnet diese «Ost—West-Bahn» OWB am Ufer des Bielersees 1860 ihr erstes Teilstück. Ein halbes Jahr später ist die Gesellschaft zahlungsunfähig. Umgerechnet 250 Millionen Franken sind bereits im Abschnitt Bern—Langnau verbaut. Die OWB erhält im Volksmund den Übernamen «Oh weh»-Bahn.
Doch dank Stämpflis Omnipotenz wird die OWB am Tage ihrer Liquidation gleich Phönix aus der Asche zur «Bernischen Staatsbahn» BSB. Sie übernimmt die Konkursmasse der OWB zu einem Fünftel der Baukosten. Mit weiteren Staatsmitteln schafft die BSB immerhin noch die Anschlüsse an die Basler Centralbahn in Zollikofen und Gümligen, weit entfernt davon, eine zweite schweizerische Transversale anbieten zu können. Die Fortsetzung Richtung Zürich wird erst Jahre später, 1875, von der «Bern—Luzern-Bahn» BLB vollendet. Ab Luzern übernehmen die Zürcher das Zepter. Den Bernern bleiben trotz weiteren Berner Steuergeldzuschüssen nur Schulden und Kostenüberschreitungen; 1876 wird der Konkurs verhängt. Der Kanton Bern übernimmt die BLB zum halben Baupreis. 1884 entsteht durch Fusion die «Jura—Bern—Luzern-Bahn», die 1890 mit den Westschweizer Bahnen in der «Jura—Simplon-Bahn» JS aufgeht. Das Streckennetz von 937 Kilometern umfasst auch die meterspurige Brünigbahn, die bereits früh mit internationalen Anschlüssen realisierten Jurabahnen und die Verbindungen vom Wallis über Genf nach Paris und Lyon zum Mittelmeer.17 Die JS bringt zwar noch den Simplon-Vertrag zustande, kann diesen längsten Tunnel der Welt aber nicht mehr zur Privatbahnzeit vollenden.
In Konkurrenz vor allem zur NOB entsteht das Projekt für eine «Schweizerische Nationalbahn» SNB. Das Ziel ist der Bau einer ersten zusammenhängenden Bahn zwischen dem Boden- und dem Genfersee mit Ästen nach Basel, Singen, Zürich und Aarau. Die regionalen Transportmonopole der Privatbahnkonzerne St. Gallens, Zürichs und Basels sollen gebrochen werden. Politisch basiert dieses Projekt auf der Opposition der Winterthurer Demokraten und der Berner Radikalen gegen die Liberalen. Sie nutzen die Unzufriedenheit der Öffentlichkeit nicht nur mit den Privatbahnkonzernen, sondern ganz speziell mit Alfred Escher als Eisenbahnkönig. Die 1864 ausbrechende Wirtschaftskrise verschärft die Situation. 1867 verlangen die Winterthurer Demokraten auf Landsgemeinden vorerst eine kantonale Verfassungsrevision, danach auch eine eidgenössische. Ihr spezielles Ziel ist die Ablösung des Eisenbahngesetzes von 1852 durch eine Regelung, welche die Bewilligung für den Bau neuer Bahnlinien von den Kantonen auf den Bund überträgt und auch Schmalspurbahnen zulässt. Das neue Eisenbahngesetz tritt 1872 in Kraft. Im Kanton Zürich übernehmen die Demokraten die Macht, sie lassen das Nationalbahnprojekt sofort so weit wie möglich konzessionieren. Die Ostsektion führt von den deutschen Städten Konstanz und Singen nach Winterthur. Neben dem Rheinviadukt bei Hemishofen erstellt die SNB die zweitlängste Eisenbrücke der Schweiz über die Thur bei Ossingen und präsentiert sie 1876 stolz bei der Weltausstellung in Philadelphia. Die Westsektion hätte über Zürich in die Westschweiz führen sollen. Schon im Gründerjahr beantragt die SNB bei der Bundesversammlung den Bau eines Kopfbahnhofs in Zürich. Die bestehenden Bahnkonzerne reagieren, indem sie ihre Linien mit alten Prioritätsrechten konzessionieren lassen, um der SNB den Weg abzuschneiden. Allen voran unternimmt die Nordostbahn alles, um das Nationalbahnprojekt durch Juristereien, technische und wirtschaftliche Schikanen zu verunmöglichen. Als die Strecke bis Zofingen auf 157 Kilometer Länge gebaut ist, kollabiert die SNB infolge laufender Projektänderungen und sehr schlechter Betriebsergebnisse.18 Am 20. Februar 1878 wird die Zwangsliquidation verfügt.
Die hauptsächlich mit Steuergeldern finanzierte SNB geht mit allen Bauten und dem Rollmaterial zum erwähnten Achtel aller Investitionskosten an die feindliche NOB. Für Winterthur und viele nunmehr schwer verschuldete Gemeinden entlang der SNB beginnt eine oft jahrzehntelange Depression. Die Demokraten verlieren ihre Kantonsrats- und Regierungsmehrheit wieder an die Liberalen. Aber auch die alten Privatbahnkonzerne haben überinvestiert, sie erwirtschaften statt Renditen Verluste, die Aktienkurse fallen auf einen Tiefststand.