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Börsenspekulationen, Privatbahnkonzerne und der Eisenbahnkrach

Die Aussicht auf Gründergewinne und hohe Kapitalrendite ist die Triebfeder des Privatbahnbaus. Doch die Möglichkeit, immer mehr Wertpapiere zu emittieren, geht noch nicht ins Unendliche.

Spekulanten als Bahnpioniere

Sowohl die führenden Kreise aus Zürich als auch diejenigen von St. Gallen klopfen an die Türen des grössten Eisenbahn-Investors, des Bankhauses Rothschild. Fünf Söhne des jüdischen Bankengründers betreiben das Stammhaus in Frankfurt und Filialen in Wien, London, Neapel und Paris, die Diamantenminen de Beer und – bis heute – die Weingüter Mouton und Lafitte. Zum Imperium der Gebrüder Rothschild in Paris gehören die Eisenbahngesellschaften «du Nord», «Paris—Lyon—Méditerranée», «Lyon—Genf», grosse Anteile an den österreichischen und oberitalienischen Eisenbahnen. Selbst in Sizilien, Spanien und Russland beteiligen sich die Rothschilds massgebend am Eisenbahnbau. Aber 1852 fehlen noch die Verbindungen in Zentraleuropa. Noch vor den Sankt Gallern tritt Alfred Escher in Verbindung mit den Rothschilds und bietet ihnen mit der Nordostbahn-Beteiligung nichts weniger als «das beste unserer schweizerischen Geschäfte» an. Die Rothschilds steigen gemeinsam mit dem Genfer Bankhaus Bartolony ein, verlangen zwei Fünftel der Verwaltungsratssitze in der Nordostbahn und die Fusion mit den anderen geplanten schweizerischen Eisenbahnen zu einem einzigen Konzern. Zudem wird die Emission weiterer Aktien von der Zustimmung der Rothschilds abhängig gemacht. Daran hält sich Escher jedoch nicht. Er vermacht weitere Aktienpakete dem Feind der Rothschilds: Isaac Péreire, ehemaliger Makler bei Rothschild. Sein boomendes Bankgeschäft kontrolliert 1853 zusammen mit Oppenheimers Darmstädter Bank die Eisenbahngesellschaften «du Midi», «de l’Ouest», «de l’Est», Grand Central und Schifffahrtsgesellschaften. Péreires «Crédit mobilier» macht der NOB ein Angebot mit weniger Bedingungen bezüglich der Einflussnahme als die Rothschilds. So kommt es denn zum Prozess der Rothschilds gegen die Nordostbahn. Der Eisenbahnkrieg vergifte und spalte je länger desto mehr auch die Freisinnige Partei, bemerkt ein zeitgenössischer Kritiker Eschers, «und im Hintergrund lauern gleich unheimlichen Gespenstern die fremden Geldmächte, die man um der Eisenbahn willen ins Land gerufen hat».


Eine frühe Simplonbahn lässt 1867 Obligationen für eine Verbindung «Angleterre—Suez—Arabie» zeichnen.

Slg. HPB Stiftung Industriekultur.

Escher stellt sich dem Problem, indem er zur Finanzierung seiner Eisenbahnpläne eine eigene Kreditbank aufbaut. Mit seinen NOB-Direktoren Fierz und Rüttimann und dem Schweizer Konsul in Leipzig, dem Kontaktmann zur Allgemeinen deutschen Kreditanstalt, Hirzel, bildet er 1856 den Ausschuss für die Gründung der «Schweizerischen Kreditanstalt» SKA. Die deutsche Kreditanstalt beteiligt sich mit 50 Prozent am Gründungskapital und erhält zwei von 15 Verwaltungssitzen. Die Aussicht auf riesige Gründergewinne, wie sie durch Péreires Kreditanstalt bekannt geworden sind, lockt fast alles verfügbare Kapital in der Schweiz zusammen. Statt drei Millionen Franken werden 218 Millionen gezeichnet. Dank dieser 72-fachen Überzeichnung können die Bauarbeiten an der Bodenseebahn forciert und zusätzliche Investitionen in die Doppelspur Baden—Zürich—Wallisellen gemacht werden. Die Hausbank der NOB entwickelt sich zur grössten Schweizer Bank, zur «Crédit Suisse» CS. Die St. Galler aber bleiben in Abhängigkeit von den Gebrüdern Rothschild, die Basler finden in der Region genügend eigenes Kapital und die Berner machen mit ihrem Staatsbahnkonzept zwei Mal Konkurs. Das will nicht heissen, dass die vermeintlich reinen Privatbahnkonzerne nicht auch die öffentliche Hand für ihre Risiken belangen.

Shareholder Value anno 1857 und 1875

Der Eisenbahnbau benötigt ein nie dagewesenes Mass an Kapital. In der Schweiz verschlingen die Bahninvestitionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen dominierenden Teil aller Anlageinvestitionen. In den Jahren des höchsten Eisenbahnfiebers, also 1857 und 1875, übertreffen sie alle Investitionen für den Häuser-, den Strassen- und den Wasserbau. Hinzu kommt ein Teil der Kosten für Maschinenimporte, die ebenso der Industrie wie den Bahnen dienen. Allerdings unterliegen die Eisenbahninvestitionen noch grösseren Schwankungen als die übrigen Bauinvestitionen. Nach dem ersten Bahnbauboom fallen sie auf unter 5 Prozent des Spekulationsjahres von 1857, mit entsprechenden Folgen für die Arbeitsplätze. Ähnlich sieht das Verhältnis für die Zeit nach 1875 aus.23

Was bewegt Banken, Klein- und Grosskapitalisten zu solch unausgewogenen Einsätzen? Die im 19. Jahrhundert entstehenden Kreditbanken führen die Handelbarkeit aller Arten von Schulden ein, die anonymen Aktiengesellschaften wenden sich vom Prinzip der persönlichen Haftung ab; sie kreieren Wertpapiere, die beim Wertzerfall zu Nonvaleurs werden.24 Dem versucht der Bundesstaat 1851 entgegenzuwirken, indem er sich das Recht auf Ausstellung von «Gutscheinen für die Auszahlung von Münzen» zuspricht. Doch trotz der Einführung einer einzigen nationalen Notenbank im Jahre 1874 und schliesslich der Gründung der Nationalbank verliert diese gegenüber den Geschäftsbanken 90 Prozent dieses Monopols, sie kontrolliert lediglich noch 10 Prozent der umlaufenden Geldmenge.


Der spekulative Charakter des Privatbahnbaus zeigt sich in den extremen Schwankungen der Investitionen zwischen Boom- und Krisenjahren.

Nach Hj. Siegenthaler, Die Schweiz 1850—1914, Stuttgart 1985.

Das für den Bahnbau notwendige Kapital wird angelockt mit dem Versprechen auf Dividenden und vor allem auf Kurssteigerungen von Aktien und Obligationen: Für die Finanzierung der geplanten Bahnbauten werden die Wertpapiere bewusst unter dem Nennwert und voraussichtlichen Kurswert angepriesen, zum Beispiel zu 80 Prozent. So verwandeln sich 80 einbezahlte Millionen über Nacht in 100 Millionen. Der Gründergewinn von 20 Millionen kommt nicht dem Bahnbau zu Gute, sondern den Verwaltern und Einlegern der Banken oder direkt den Grosskapitalisten. Diese nutzen ihr Vermögen für die Machtsteigerung, indem sie im Falle des Bahnbaus in der Schweiz Einsitz in die Direktions- und Verwaltungsgremien nehmen, um ihre Gewinne sichern zu können. Mittels Prioritäts- und Stammaktien hebeln sie die Aktionärsdemokratie aus. Ihre politische Einflussnahme sorgt für Steuererleichterungen, staatliche Subventionen und Garantien für ihre abzuschöpfenden Gewinne: Bereits 1861 fehlen den Privatbahnen die Erträge zur Deckung der Zinsen; sie nehmen neues Kapital auf und decken damit die Zinsen und zahlen Dividenden aus. Für 1876 stellt der Bund fest, dass ausser der Vitznau—Rigi-Bahn keine einzige Bahn rentiere. Am Jahreswechsel darauf kommt es zum Börsenkrach.

«Höher verschuldet als Frankreich nach dem Krieg 1871»

Die auf kurzsichtige Gewinnmaximierung ausgerichteten Mechanismen dieser Spielart des Liberalismus führen zur Aushöhlung der Substanz ganzer Konzerne. Bereits 1858 gibt es massive Krisenerscheinungen, 1867, im Jahr der Liquidation von Isaac Péreires Crédit Mobilier, verschärfen sie sich, um schliesslich 1877 zum Kollaps durch Börsensturz zu führen. Auch die Nordostbahn hat zur Steigerung ihres Shareholder Values Mittel aus dem Baubudget für defizitäre Betriebsbereiche abgezweigt, den Unterhalt vernachlässigt und ihre Direktoren und Verwaltungsräte fürstlich entschädigt. Beim Zusammenbruch der Eisenbahnspekulation sinkt der Kurs der Nordostbahnaktie von 670 Franken im Jahre 1871 auf 53 Franken im Jahre 1879. Derjenige der VSB sinkt sogar auf 37 Franken. Nach Karl Bürkli belastet der Wertpapierverlust der Schweizer Bahnen, dividiert durch die Einwohnerzahl, die Schweizer stärker als die Reparationen, die Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1871 an Deutschland zahlen muss: «Dieses Landesunglück kann kaum mit einem verlorenen Krieg verglichen werden, namentlich für den Kanton Zürich, der so stark betheiligt ist.»25 Bürkli lanciert 1878 die Volksinitiative für die Eisenbahnverstaatlichung. Zwar ohne Erfolg; immerhin wird festgeschrieben, dass im Falle eines «Rückkaufs» keine übertriebenen Abgeltungen zu entschädigen sind.


Bereits sechs Jahre vor dem Eisenbahnkrach kann die NOB für ihre Tochtergesellschaft «Bülach—Regensberg-Bahn» keine Dividende auszahlen. Die in Richtung Koblenz und Deutschland geplante Bahn wird nie vollendet.

HPB Stiftung Industriekultur.

Die Finanzinstitute und die öffentliche Hand retten die alten Bahnkonzerne vor dem Konkurs mit verschiedenen Massnahmen. Eine ist das Moratorium für ihre vertraglich festgelegten Investitionen. Weitere neue Linien würden die Ertragslage noch mehr verschlechtern. Die NOB hat ihre Netzlänge verdoppelt, doch die Verkehrsleistungen sinken um einen Drittel, die Kosten für «Verschiedenes» steigen zwischen 1860 und 1877 um 462 Prozent. Nichts von alledem weiss der 30-köpfige Verwaltungsrat, dem auch die fünf Direktoren angehören. Alfred Escher sucht heimlich Kapitalhilfe in Paris, erhält sie zu knechtenden Bedingungen, gründet dann allerdings zwecks Rückzahlung der Obligationen mit der SKA und anderen Banken die Schweizerische Eisenbahnbank. Diese kann nach der wirtschaftlichen Erholung Mitte der 1880er-Jahre aufgelöst werden. Die Verluste sind sozialisiert, die Gewinne können erneut privatisiert werden.

Zürich im Zentrum des Bahnspinnennetzes

Der Eisenbahnbau mischt die Wirtschaftspolitik auf. Sie stösst nicht nur die allseitige Konkurrenz zwischen Bankhäusern und Bahngesellschaften an, der Kampf dehnt sich zur Rivalität zwischen Städten, Regionen und Nationen aus. Wo verschiedene Bahngesellschaften eine Stadt erreichen, entstehen mehrere Kopfbahnhöfe an verschiedenen Orten. London erhält deren zwölf, Paris neun, Berlin ebenfalls neun, Wien sieben. Der Bahnbau wird im Kampf um Zentralität zum städtebaulichen, zum regionalen und zum nationalen Politikum. Da sich in der Schweiz regionale Monopole bilden, erhalten die Städte in der Regel nur einen Hauptbahnhof. In Zürich ist der Bau eines Kopfbahnhofs der Nationalbahn verhindert worden, die Nordostbahn wertet die Zentralität ihres Hauptbahnhofs auch nach dem Tod von Alfred Escher weiter auf. Am Ruder ist nun der Zürcher Oberländer Textilfabrikantensohn Adolf Guyer-Zeller. Am 2. Juni 1894 lässt er mit Ausnahme zweier Günstlinge und wichtiger Regierungsvertreter alle Direktionsmitglieder und Verwaltungsräte absetzen – die Vertreter der Kreditanstalt werden durch solche der späteren UBS aus Basel ersetzt. Die Neue Zürcher Zeitung berichtet von brutalster Interessenwirtschaft. Guyer lässt Bauprojekte nur noch unter seiner Aufsicht bewilligen. Eines seiner Ziele ist es, Zürichs Vorherrschaft zu festigen. So spitzt sich die Städtekonkurrenz weiter zu, und sie verändert die Rangfolge der Wirtschaftszentren grundlegend. Unter dem Ancien Régime besass Bern das grösste Territorium der Schweiz. Die Einwohnerzahl der Stadt Bern wird dann in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von Genf übertroffen. Nach Basel folgt an vierter Stelle Lausanne. Zürich muss sich bis zur ersten Phase der Eingemeindungen von 1893 mit dem fünften Rang begnügen, gefolgt von La Chaux-de-Fonds, St. Gallen und Luzern. Winterthur liegt bezüglich der Einwohnerzahl weit hinten, holt aber mit der Industrialisierung auf. Alfred Escher und sein Nachfolger Adolf Guyer-Zeller machen mit ihrer Wirtschafts- und Eisenbahnpolitik die Limmatstadt trotz ihrer nicht zentralen Lage zum Verkehrszentrum der Schweiz. Die seit 1893 gültige Rangliste ist vor allem eine Folge des Eisenbahnpolitik: Zürich, Basel, Genf, Bern, Lausanne, Winterthur.26


Helvetia, auf einem Flügelrad balancierend, bündelt in ihren Adern die Lebensströme von London und Berlin über den Gotthard nach Italien. Zürich wird der Bauchnabel des Weltverkehrs.

H. P. Bärtschi 2016

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