Читать книгу Scurrilitas - Hans Rudolf Velten - Страница 44
Scurrilitas als Zungensünde in der Früh- und Hochscholastik
ОглавлениеIn den theoretischen und moralischen Texten der Scholastik kommt das Verständnis von scurrilitas immer stärker unter den Einfluss der Typologie der Wort- oder Zungensünden, deren Bedeutung im Verlauf des 12. Jahrhunderts und dann besonders im 13. Jahrhundert, mit der Entstehung von Sündenkatalogen und Predigerhandbüchern stark anwächst: zunächst sporadische Hinweise werden zu Kapiteln erweitert, aus denen schließlich Bücher und systematische Abhandlungen werden, welche dem Prediger Anleitungen zum richtigen Sprechen geben sollten. Zwischen 1180 und 1250 war die Aufmerksamkeit für die Sünden der Sprache am größten; weder vorher noch später hat die christliche moralische Reflexion wieder eine so systematische Erörterung hervorgebracht.
In diesen Schriften spielt das sündhafte Wort nun eine größere Rolle als der sündhafte Gedanke oder die sündhafte Handlung. In der Frühscholastik setzt sich gegen die im Frühmittelalter geläufige cor/opus-Dichotomie67 nun immer stärker die augustinische Dreiteilung der Sünden in „dictum vel factum vel concupitum contra legem Dei“ durch.68 Lagen die Wortsünden im binären System auf der Grenze von Innen und Außen und hatten so keinen rechten eigenen Platz, so ist in dem von Augustinus und Hieronymus geprägten System mit dem dictum eine Kategorie geschaffen worden, die ihnen voll und ganz entsprach. Leitend wird das Dreierschema mit den Sententiae des Petrus Lombardus (2. Hälfte 12. Jh.), und zwar mit der Zentralstellung der Zungensünde. Denn das sündhafte Sprechen ist nun nicht mehr Ausfluss des Mundes und so mit dem Essen verbunden (Essen und Sprechen waren seit Isidors Etymologiae Tätigkeiten des Mundes), sondern das sündhafte Sprechen löst sich in der Scholastik von der Körperlichkeit der Sprechwerkzeuge und wird als ein actus, gewissermaßen als ein Sprechakt angesehen. Somit übernimmt das sündhafte Sprechen als performativer Akt gleichzeitig auch die Funktion sündhaften Handelns: das ausgesprochene Wort ist die Schnittstelle, wo die Sünde zuerst sichtbar wird. Grundlegend ist dabei das theologische Verständnis des Mittelalters, dass das Wort in der Lage dazu ist, tugendhafte oder sündhafte Handlungen zu produzieren: „Fondamentale per entrambi è il rapporto con i pensieri e con le azioni: (...) la parola ha la capacità di produrre azioni oneste o turpi.“69
Dabei ist wichtig, dass das Wort zwischen innen und außen, zwischen Denken und Tun steht, und somit eine Mittlerrolle beider Bereiche einnimmt. Zentral für diese Entwicklung ist der Speculum Universale (1193–1200) des französischen Theologen Raoul Ardent (Radulfus Ardens, †1200), in welchem zum erstenmal Zungensünden, Kommunikationsformen und monastische Regeln über das Sprechen einer zusammenfassenden Reflexion unterworfen werden, um eine Neubestimmung der christlichen Ethik vorzunehmen.70 Raouls Welt ist eine Welt der Worte: sein Rezipient ist der Kleriker, der viel spricht, der das Wort quasi beruflich benutzt, in der Predigt, bei der Beichte, beim Lob Gottes, im Unterricht, beim Glaubensbekenntnis, beim Gebet. Ihm wird eine komplexe Differenzierung der beiden Pole sermo honestus – sermo turpis gewidmet. Darin ist sowohl die Kommunikation mit Gott als auch die mit den Menschen eingeschlossen. Die große Aufmerksamkeit, die dem Sprechen – und vor allem dem Aussprechen – hier im klerikalen Bereich zukommt, hat sein weltliches Pendant in der Performativität des rituellen Sprechens im Mittelalter: Absprachen und Garantien, politische Bünde, Schwüre, Pakte zur gegenseitigen Unterstützung, also alle denkbaren sozialen Verträge, die die wirtschaftlichen und politischen Beziehungen unter Menschen und Gruppen in einer von der Oralität beherrschten Welt regeln, waren dem Aussprechen von Worten und Formeln unterworfen.71
Es ist somit kaum verwunderlich, wenn ein aus der Spätantike stammender Begriff wie die scurrilitas, die eine große Spanne von Bedeutungen umfasste, von welchen einige bereits in Vergessenheit geraten waren,72 weitgehend als sprachlicher Akt aufgefasst wurde.73 Es ist der Sprechakt der geistreichen Ambiguität, der witzig-überheblichen Rede, des Lächerlich-Machens, der häufig mit der Provokation von Gelächter einhergeht. Allerdings hat die Verortung der scurrilitas im Dreiersystem einige Schwierigkeiten bereitet, was ein Hinweis auf ihren labilen semantischen Status sein dürfte. So wird etwa in dem Konrad von Hirsau zugeschriebenen De fructibus carnis et spiritus die scurrilitas aus den Zungensünden herausgestrichen, bei Alanus von Lille wird sie in seinem 1160 entstandenen Traktat De virtutibus et vitiis in inverecundia (Schamlosigkeit) umgeformt, und in Vinzenz von Beauvais’ Speculum doctrinale, der kurz nach Perraults Summa verfasst wurde, wird die scurrilitas durch garrulitas (Schwatzhaftigkeit) ersetzt.74 Dem Bestreben vieler Autoren der Scholastik, eine vollständige Systematik der Sündhaftigkeit im Hochmittelalter zu geben, fällt nicht selten ein semantisch nur schwer zu bestimmender Begriff wie die scurrilitas zum Opfer.
Ganz ähnlich verhält es sich mit dem ebenfalls dem Lachen zugeordneten Begriff derisio, dem öffentlichen Spott, dessen Ambiguität auf der Hand liegt.75 Auch hier müssen wir von einem Bündel von Bedeutungen ausgehen, in dem verschiedene verbale und nonverbale Handlungen zusammengefasst sind: der Begriff schwankt nach Casagrande/Vecchio zwischen einer verächtlichen Haltung und einer erniedrigenden Beleidigung: „atteggiamento dispregiativo“ und „sprezzante insulto veicolato da parole indebitamente liete“.76 Interessant ist hier, dass derisio trotz offensichtlicher Schwierigkeiten, in ihm einen Sprechakt zu sehen, im scholastischen Schrifttum vielfach als Wortsünde behandelt wird.
Das Hineinzwängen von derisio in das Kostüm der Wortsünde erhellt schlaglichtartig, dass es hier in einem hohen Maß zu einer begrifflichen Entdifferenzierung zugunsten der Sprache gekommen ist. Dies ist einigen Autoren aufgefallen: etwa Vinzenz von Beauvais, der bei der Diskussion von derisio nicht von Sünde an sich, sondern von einer Art Sünde spricht, die er procacitas nennt, und die in einer schamlosen Beleidigung der menschlichen Würde durch Verlachen besteht.77 Die Summa Halensis spricht schließlich überhaupt nicht von Wortsünde, sondern von Werksünde. Derisio scheint hier ein umfassendes Handlungsmuster zu sein, das verächtlich gegen Gott und den Nächsten gerichtet ist, unabhängig davon, ob sich dieses Muster sprachlich, in Gesten oder in Handlungen vollzieht. Die Summa behandelt die derisio innerhalb der Gesten und Gebärden des Körpers, in der zu den Werksünden zählenden „Quaestio de risu et ioculatione“.78
Dass die Kategorisierung von derisio – ähnlich wie bei scurrilitas – unter die Wortsünden einer Verkürzung gleichkommt, wird nicht nur von der widersprüchlichen Beleglage der Schriften, sondern auch durch die offensichtliche Unterschlagung ihrer Zwischenposition, in der Worte (Schmähungen, Spott), Gesten (Spottgebärden), Haltungen (Verachtung) und Handlungen (Verlachen) in einem Tätigkeitsfeld derisio zusammengefasst sind, deutlich.