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Thomas von Aquin: De modestia secundum quod consistit in exterioribus motibus corporis
ОглавлениеEs ist Thomas von Aquin (1224/25–1274), der diese scholastischen Definitionen und Zuordnungen der scurrilitas einer kritischen Prüfung unterzieht und sie von Grund auf revidiert. Im Rückgriff auf die aristotelische eutrapelia wertet Thomas die scurrilitas als Kern einer neuen, positiven Haltung dem Lachen gegenüber, die der negativen Begriffsdefinition von über tausend Jahren einen vorläufigen Schlusspunkt setzt. Gleichzeitig ordnet er sie und den gesamten Bereich des Lachens dem Spiel und somit den äußeren Körperbewegungen zu, wenn er die Thematik in seiner Summa Theologica (1266–73) unter der Fragestellung: „De modestia secundum quod consistit in exterioribus motibus corporis“ diskutiert.95
Die Übersetzung der deutsch-lateinischen Ausgabe der Summa gibt die genannte quaestio mit „Die Bescheidenheit im äußeren Verhalten“ wieder, eine theologisch determinierte Übersetzung des Kapitels; ein schönes Beispiel für den Versuch von Kommentatoren und Exegeten, bis in unsere Zeit den Körper aus den theologischen Systematiken herauszuhalten. Und dies, als es Thomas explizit darum geht, festzustellen, ob Körperbewegungen und die darunter gefassten Spiel- und Lachanlässe mit der modestia vereinbar sind, also ob sie tugendhaft sein können oder als sündhaft betrachtet werden müssen.
Im ersten Artikel erörtert Thomas die Frage, ob man hinsichtlich der Körperbewegungen von Tugend reden könne. Da jede Tugend den „spiritualem animae decorem“ betrifft, scheinen die Körperbewegungen wegen ihrer Äußerlichkeit zunächst keinen Anspruch auf Tugendhaftigkeit erheben zu können, so Thomas. Dagegen kann man aber die mangelhaften natürlichen Anlagen zu den Körperbewegungen durch Vernunft verbessern:96 man muss sein Verhalten nach der Angemessenheit anderer Personen, der Beschäftigungen und der Orte regeln. Die vernunftmäßige Regelung der Körperbewegungen ist insofern eine Tugend, als das sichtbare Verhalten eines Menschen Anzeichen für seine seelische Verfassung ist und hilft, die Leidenschaften zu zügeln.
Das Spiel als der wichtigste Bestandteil der äußeren Körperbewegungen, und mit ihm Scherz und Lachen, kann somit dann tugendhaft sein, wenn sie der Entspannung des Menschen dienen. Der Mensch habe wie den Schlaf auch die seelische Entspannung, die quies animae nötig:
Wie nun aber körperliche Ermüdung durch körperliche Ruhe schwindet, so muss auch die seelische Ermüdung durch seelische Ruhe behoben werden. Seelische Ruhe aber ist gleichbedeutend mit Vergnügen, wie im Abschnitt über die Leidenschaften dargelegt wurde.97
Die delectatio animae, und damit das Spielen und das Scherzen, die an dieser Stelle nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich als notwendig für den Menschen betrachtet werden, rechtfertigt Thomas im Rückgriff auf Augustinus remissio-Lehre und Aristoteles’ eutrapelia:
Aber: Augustinus macht darauf aufmerksam, dass auch der Weise sich einmal abwenden soll vom Ernst und den Geschäften (remittere). Diese Unterbrechung oder Entspannung (remissio) erfolgt durch spielerische Worte und Dinge. ‚Dies geziemt sich also bisweilen für den Weisen und Tugendhaften‘. Aristoteles setzt für die Spiele auch die Tugend der Eutrapelie ein, die wir Vergnüglichkeit – iucunditas – nennen können. 98
Der Verweis auf den aristotelischen eutrapelia-Begriff schließt an das antike Verständnis von scurrilitas als Haltung an, und bindet diese wiederum an eine Ethik der geistreichen Geselligkeit und des maßvollen Lachens. Unanständiges darf es in diesem Rahmen nicht geben, denn „maßloses Spiel ist mit unangebrachtem Lachen und ungehörigem Vergnügen verbunden“, und das sei schwere Sünde; hingegen muss die iocunditas als ein Mittelmaß zwischen Zuviel und Zuwenig an Scherz und Spiel angesehen werden. Damit kann Thomas auch ludicra und iocosa in Wort und Handlung der weisen Männer rechtfertigen: „Sed Philosophus dicit, in ii rhetoric., quod in ludo, in risu, in festo, in prosperitate, in consummatione operum, in delectatione non turpi, et in spe optima, homines non irascuntur“.99 Beide Abweichungen von der tugendhaften Mitte sind also fehlerhaft; doch ist das Zuviel wesentlich tadelnswerter als das Zuwenig. Thomas warnt davor, das Vergnügen in „operationibus vel verbis turpibus vel nocivis“ zu suchen, also in schmutzigen oder schadenstiftenden Handlungen oder Worten. Er beruft sich auf Cicero: „Es gibt eine Art zu scherzen, die grob, frech, entehrend und obszön ist.“ Stattdessen soll das Vergnügen darin liegen, dass wir uns an einem brillanten Geist erfreuen. „Daher kann es auf dem Gebiet des Spiels eine Tugend geben, die Aristoteles ‚Eutrapelie‘ nennt.“ So bezeichne Aristoteles jemanden, der sich „geschickt zu wenden weiß und bestimmte Wörter und Dinge in Heiterkeit zu verwandeln versteht.“100
Obwohl Thomas hier erneut von eutrapelia spricht, und mit den Gewährsleuten Aristoteles und Cicero sich im Rahmen antiker Theorie bewegt, zielt er weniger auf die Witzigkeit des Redners oder die gesellige Heiterkeit, sondern auf das, was zu seiner Zeit unter scurrilitas verstanden wurde, die Unterhaltung durch professionelle performer. Denn im nächsten Augenblick kommt er auf eine Personengruppe zu sprechen, die Meister des Spiels und des Vergnügens sind: Schauspieler und Spielleute, histriones und ioculatores. Ihr Tun wird keineswegs, wie man das erwarten könnte, als sündhaft eingeschätzt, sondern ganz im Gegenteil: ein Übermaß an Spiel, so Thomas eindeutig, ist keine Sünde.101 Obwohl Thomas noch in Artikel 2 von der Sündhaftigkeit derer gesprochen hatte, die die Grenzen der Vernunft „durch die Art der Handlungen, die beim Scherz in Erscheinung tritt“ überschreiten,102 erkennt er bei den Histrionen keine Sünde, sofern sie davon Abstand nehmen, schmutzige und unehrenhafte Handlungen und Worte zu benutzen („non utendo aliquibus illicitis verbis vel factis ad ludum“) und die Regeln des Anstands einhalten. Spielleute können also nicht qua Beruf, sondern nur wegen bestimmter transgressiver Handlungen sündigen.