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11. Kapitel

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In dem in Hellrot gehaltenen Lokal warteten die Herren, daß das Festessen beginnen sollte. Sie lachten, tauschten alte Erinnerungen aus und strichen die Asche ihrer Zigarren an künstlerischen Keramikgebilden ab, auf deren Boden biblische Gestalten abgebildet waren.

Neunzehn Herren waren erschienen. Das war eine ganze Menge. Mehr als erwartet.

Wer fehlte denn eigentlich?

Der Dicke ist nicht da. Dygesen. Der Klasse dicker Knabe, wie ihn Studienrat Blomme so spaßig zu nennen pflegte. „O feister Crassus! Habe die Güte, uns die Lektion zu übersetzen!“ Sie können allesamt Studienrat Blommes Stimme nachahmen. Dabei ist Studienrat Blomme seit vielen Jahren tot. Gestorben an einem vergifteten Bonbon. Auf niederträchtige und abstoßende Weise ermordet. Und der dicke Dygesen ist im Osten. Irgendwo auf der anderen Seite des Erdballs herrscht er über Scharen von Kulis. Sein Fernbleiben ist also entschuldigt. Er hat es nie zu einem Staatsexamen gebracht. Er wandte sich dem praktischen Leben zu und wurde Geschäftsmann. Und dort drüben in der Hitze soll er ganz mager geworden sein.

Auch Hurrycane ist nicht erschienen. Ach ja, Hurrycane. Ursprünglich hieß er Hansen, dann nahm die Familie jedoch den Namen Hurrycane an. Darunter machte man es nicht. Und daß Hurrycane nicht gekommen ist, dazu läßt sich nichts sagen. Dort, wo er nun sitzt, sind eiserne Gitterstäbe vor dem Fenster. Die Einladung wird wohl kaum zu ihm gelangt sein.

Über Hurrycane spricht man nicht laut. Er ist ein Schandfleck für den Jahrgang. „Da war irgend etwas mit Betrug, nicht wahr?“ flüstert man. „Ja, und er hatte sowieso schon Bewährung“, kann Richter Ellerstrøm mitteilen. Das mit Hurrycane ist eine peinliche Geschichte. Er paßte eigentlich nie so recht zu ihnen. Er stand sich auch mit keinem aus der Klasse besonders gut. Immer war er derjenige, der von den anderen gehänselt wurde. So einen gibt es in jeder Klasse. Selbst wenn Hurrycane auf freiem Fuß gewesen wäre, würde es gar nicht einmal so sicher sein, daß er mit seinen Plagegeistern das Jubiläumsfest hätte feiern wollen.

„Ein paar von uns sind wohl schon tot? erkundigt sich Chefarzt Thorsen.

Nur einer ist gestorben. Aage Mørdrup, der wilde Mørdrup, der immer so wütend und ungebärdig wurde. „Ein übles Element“, nannte ihn der Rektor stets. Doch Mørdrup war eigentlich ganz in Ordnung. Und die Ärzte fachsimpeln über seine mögliche Todesursache.

„Es ist erstaunlich, daß sich nur einer von uns davongemacht hat. Das ist ein verdammt gesunder Jahrgang gewesen. Aber wenn wir das nächste Mal Jubiläum feiern, sind wir nicht mehr so viele!“

Thorsen und Riege haben sich nur kühl gegrüßt. Und sie vermeiden es auch, miteinander ins Gespräch zu kommen. Jeder verachtet die Arbeit des anderen. Ihr ironisches Lächeln soll zeigen, was einer vom anderen hält.

Es sind jedoch noch mehr Ärzte da. Dr. Møller und Dr. Nederby. Und sie sehen zu Thorsen auf, der von ihnen der Größte ist und die beste Karriere gemacht hat. Und die Mediziner unterhalten sich vertraulich über die seltsamen Wesen, die man Patienten nennt. „Sie sind tatsächlich seltsam.“ – „Ja, sie sind geradezu geistig unterbemittelt. Sagt man zu ihnen: ,Mach das und das‘, dann glotzen sie einen blöde an und machen gerade das Gegenteil. Da versucht man, ihnen ein bißchen über Vitamine einzutrichtern. Alles vergebens, sie wollen partout bloß Soße und Kartoffeln essen. Wenn man ihnen wenigstens ein bißchen Respekt vor der Zeit und der Arbeit des Arztes beibringen könnte. Aber nein, sie rennen einem zu den unmöglichsten Zeiten mit jedem Mist und Quatsch die Tür ein. Da kommt doch so ein Individuum zu mir und verlangt, ich solle ihm ein Attest ausschreiben, daß die Wände seiner Wohnung feucht sind. Für die Fürsorge. ,Guter Mann‘, sage ich zu ihm, ,ich bin doch kein Maurer! Ich kann für Ihre Wände keine Atteste ausstellen.‘ Er läßt jedoch nicht locker: Also, er meine, die Wohnung sei gesundheitsschädlich und er habe soundso viel Kinder und so weiter und so weiter. Und wenn der Herr Doktor eine Erklärung schreibe, bekäme er vielleicht eine gesündere Wohnung. Aber da frage ich, wie zum Teufel ich denn wissen soll, ob er nicht selber Wasser an die Wände gießt? Es muß ja schließlich eine Grenze dafür geben, womit man einen Arzt belästigen kann.“

Und die Mediziner tauschen Erlebnisse über die unglaubliche Unwissenheit und Dummheit der einfachen Leute aus. Und sie erzählen einander die witzigen Antworten, die sie bei passender Gelegenheit gegeben haben.

Aber auch der Oberlehrer weiß von dummen Schülern zu erzählen, denen die spaßigsten Übersetzungsfehler unterlaufen.

Und die beiden Reichsgerichtsanwälte können manches über die komischen Figuren erzählen, denen sie in ihrer Praxis begegnet sind.

Auch der Offizier hat einiges zu erzählen. Rekruten sind nämlich keinen Deut besser als Patienten. Bei einem Intelligenztest in der Kaserne erhielt man die unglaublichsten Resultate. Einfach phantastisch, wie dumm und unwissend Soldaten sind, selbst wenn es um die elementarsten Dinge geht.

Der Richter hat ebenfalls abnormen und merkwürdigen Geschöpfen gegenübergestanden, Geschöpfen, deren Existenz man einfach nicht für möglich gehalten hätte, die der Staat jahrelang ernähren und für die er an allen Ecken und Enden Sorge tragen müsse. „Natürlich sind sie unverbesserlich, aber leben müssen sie ja schließlich. Und für so etwas müssen wir Steuerzahler nun aufkommen!“

Es gibt schon sonderbare und unglaubliche Dinge in der Welt. Und die Menschen sind auch nicht so, wie sie sein sollten.

Fast alle anwesenden Herren haben gelegentlich Berührung mit der großen Masse seltsamer und niederer Individuen gehabt. Mit der Unterklasse. Dem unverständigen Mob. Menschen, die es nun einmal nicht anders haben wollen. Und über diese Menschen lassen sich viele kuriose Anekdoten erzählen.

Pfarrer Nørregaard-Olsen hat es zu Harald Horn gezogen.

„Du glaubst ja gar nicht, mit welchem Vergnügen ich deine Buchbesprechungen im ,Morgenbladet‘ lese. Sie sind so positiv, so fruchtbar, so kernig dänisch!“

„Das zu hören freut mich wirklich sehr. Ja, ich habe mich stets bemüht, der dänischen Eigenart eine Gasse zu bahnen. Dem typisch Dänischen. All dem, was in der Geschichte, in den Erinnerungen und Traditionen unseres Volkes tief verwurzelt ist. Es gibt ja so viele, die unsere Literatur flach und international machen wollen. Ich dagegen habe mir das Ziel gesetzt, für das Nationale einzutreten, für das Aufbauende, das Bekräftigende. Das echt Dänische. Das – wie du sagst – kernig Dänische.“

„Ich bin davon überzeugt, daß du damit ein bedeutungsvolles Werk vollbringst. In meiner Gemeinde lesen auch noch andere deine Feuilletons und Buchbesprechungen. Übrigens schreibe ich auch selbst ein wenig. In aller Bescheidenheit. Im Kirchenblättchen unserer Gemeinde. Und meine Frau ebenfalls. Kleine Gedichte, nette, anspruchslose Sachen. Innig und tief empfunden. Sie würde sich sehr freuen, wenn du ihre Sachen einmal lesen und deine Meinung dazu sagen würdest.“

Auch Oberlehrer Nielsen ist eifrig bemüht, mit Horn ins Gespräch zu kommen, um sich mit ihm über Literatur und über die Aufsätze seiner Schüler zu unterhalten und ihm von dem Artikel über den Dänischunterricht zu erzählen, den er einmal für die „Lateinschule“ geschrieben hat. „Vielleicht hast du ihn zufällig gelesen?“

Nein, das habe er leider nicht. Doch wenn Axel ihn noch haben sollte, würde er bei Gelegenheit gern einmal hineinsehen. Und sich dann entsprechend darüber äußern. Harald Horn weiß, daß der Oberlehrer gern Dichter geworden wäre. Genau wie er. Aber er für sein Teil ist zumindest etwas geworden, was davon nicht allzu weit entfernt ist. Schließlich ist es auch besser, über das zu schreiben, was andere geschrieben haben. Er liest alle literarischen Neuerscheinungen und weiß alles, was die Dichter gedacht und erlebt haben. Das ist fast ebensogut, wie es selbst gedacht und erlebt zu haben.

Polizeidirektor Rold ist in ein vertrauliches Gespräch mit Robert Riege vertieft. Und der sonst so aufbrausende Mann ist nun sanft und lammfromm.

Hernild betrachtet die beiden voller Verwunderung. Da hat der hitzige Polizeichef doch tatsächlich seinen Meister gefunden! Welch ein Respekt! Ob Riege hypnotisieren kann?

Hernild erörtert mit Amsted familiäre Angelegenheiten. Und man wundert sich wieder einmal darüber, daß man dadurch miteinander verwandt ist, daß Frau Amsteds Onkel, General Masen, ein Halbvetter von Hernilds Onkel von Brackberg ist. Und von Brackbergs Vater war Amtmann und Gutsbesitzer, und dessen Vater war Chef der holsteinischen Kürassiere, und dessen Vater wiederum wurde vom König geadelt.

„Ich bin ja gewissermaßen selbst ein bißchen adlig“, erklärt Hernild. „Also nicht nur durch die von Brackberg, nein, der Name Hernild soll ursprünglich Herr Nil oder Herr Niels – also Edelmann Niels – bedeutet haben.“ „Man weiß nicht, was es zu essen geben wird“, läßt sich Mogensen vernehmen. „Man macht darauf aufmerksam, daß man Vegetarier ist und keine Leichen verzehrt.“

Ministerialrat Jørgensen, der Mitglied des Festkomitees ist, beruhigt ihn.

„Es gibt eine Menge verschiedener Gemüsesorten. Spargel, grüne Erbsen, Champignons und so etwas. Und natürlich Kartoffeln. Du wirst schon vom Gemüse allein satt.“

„Danke“, sagt Mogensen.

„Prachtvoll, prachtvoll!“ lobt Pfarrer Nørregaard-Olsen und läßt die Asche seiner Zigarre in einen der mit biblischen Szenen bemalten Keramikaschenbecher fallen. „Das ist Kunst! Gediegene dänische Kunst. Sie hat in der Welt Berühmtheit erlangt.“

„Ja, wenn wir nur unserer Eigenart treu bleiben, können wir hierzulande schon etwas zustande bringen“, fügt Harald Horn hinzu.

Endlich kann das Festessen beginnen. Der Ministerialrat klatscht in die Hände. „Freunde! Wir gehen nun zu Tisch! Jeder kann sich setzen, wie er möchte.“

Hernild kommt das ein bißchen seltsam vor. In Holstebro richtet sich die Sitzordnung nach der Rangklasse. Wenn ein Amtsrichter zur neunten Rangklasse gehört, dann macht es keinen guten Eindruck, wenn er weiter oben sitzt als ein Polizeidirektor, der zur achten Rangklasse zählt. Aber hier in der Hauptstadt legt man darauf wohl nicht allzuviel Wert. Und im Grunde genommen spielt es ja auch keine Rolle. Doch wenn man schon einmal Rangklassen hat, dann kann man sich schließlich auch danach richten.

Man wendet sich dem angrenzenden Raum zu, wo die Tafel gedeckt ist und die Kellner schon mit den Platten bereitstehen. Pfarrer Nørregaard-Olsen setzt sich, nachdem er seine Zigarre in einem der biblischen Aschenbecher ausgedrückt hat, an die Spitze des Zuges. Und Mogensen bemerkt, daß der Geistliche seinen Zigarrenstummel Christus genau ins Auge gedrückt hat.

Der versäumte Frühling

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