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1. Kapitel

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Vor etlichen Jahren starb im Kopenhagener Viertel Østerbro ein älterer Mann, nachdem er einen Malzbonbon zu sich genommen hatte.

Er hatte eine Schwäche für Malzbonbons und schon seit vielen Jahren regelmäßig welche gelutscht, ohne dabei irgendwie zu Schaden gekommen zu sein. Er trug ständig eine kleine ovale Blechschachtel bei sich, und wenn er im Hals ein Kribbeln verspürte oder eine kleine Anregung brauchte, nahm er sich einen Bonbon. Er zerkaute ihn nie, sondern lutschte ihn und ließ den Saft langsam durch die Kehle rinnen. Und dabei war ihm nie irgend etwas passiert.

Eines Tages aber ging es schief, der Bonbon wurde sein Tod. An einem schönen, lauen Abend Anfang Juni, als auf der Uferpromenade Langelinie Flieder und Goldregen blühten. Er hatte gegen halb acht seine Wohnung in der Classensgade verlassen, um wie gewöhnlich auf Langelinie spazierenzugehen. Seine Frau sollte gegen halb neun den Abendtee für ihn fertig haben. Doch er bekam keinen Tee mehr. Er sah auch seine Frau nicht wieder. Zum letztenmal ging er die Treppe hinunter und ahnte dabei nicht, daß er nie mehr die marmorierten Felder an der Wand zählen und den besonderen Geruch des Hauses wahrnehmen würde.

Der Abend war mild, obgleich es noch nicht so warm war, daß er es für angebracht gehalten hätte, ohne Mantel auszugehen. Auf seinen wollenen Schal hatte er allerdings verzichtet. Am Jachthafen setzte er sich auf eine bestimmte Bank, blickte über das Wasser und besah sich die Leute. Er kannte die meisten Einwohner von Østerbro vom Sehen und wußte, wer sie waren.

Auf dem Sund kreuzten flaggen- und wimpelgeschmückte Segelboote, man sah die Hafenfähre und einige Ruderboote, die eine Wettfahrt veranstalteten. An seiner Bank kamen junge Mädchen vorbei, die schöne Beine hatten und luftige Sommerkleider trugen. Er schaute ihnen durch die Goldrandbrille nach und dachte bei sich: So leichtbekleidet müssen sie sich doch erkälten. Daß die Menschen aber auch nie klüger werden! Und er warf einen Blick auf die Ruderer, die sich in ihren langen, schmalen Booten nach den Kommandos ihrer Steuerleute abmühten. Halbnackte, behaarte Menschen. Reiner Wahnsinn, sich zu dieser Jahreszeit unbekleidet auf das Wasser zu wagen! Die holen sich doch eine Lungenentzündung! Sie spielen ja geradezu mit ihrem Leben! Dabei wußte er nicht, daß sein Leben schon in wenigen Stunden vorbei sein würde.

Bekümmert blickte er den kleinen Motorfähren nach, die auf dem blauen Wasser dahintuckerten. Und er errechnete, daß sie unverantwortlich überladen sein mußten. Bestimmt waren auch nicht für alle Fahrgäste Schwimmwesten vorhanden – einfach skandalös! Da mußte wohl erst ein Unglück passieren, bevor bestimmte Sicherheitsvorkehrungen getroffen wurden. Bis dahin verhält man sich aber gleichgültig. Wie hierzulande so üblich.

Die Abendluft am Wasser dünkte ihm ein wenig rauh. Ihm fehlte nun doch sein wollener Schal. Er räusperte sich und holte die kleine ovale Blechschachtel mit den Malzbonbons aus der Tasche. Suchte sich einen besonders gleichmäßig geformten Bonbon aus und steckte ihn in den Mund.

Er kam ihm gleich etwas bitter vor. Doch bei Malzbonbons kann es sein, daß sie anfangs einen bitteren Geschmack haben, ohne daß es etwas zu bedeuten hat. Das vergeht. Deshalb lutschte er kräftig daran, schob ihn mit der Zunge weiter in den Mund und biß ihn durch, obgleich er das sonst verwerflich fand. Und gerade das sollte ihm zum Verhängnis werden. Der bittere Geschmack verstärkte sich nur noch. Der Bonbon schmeckte wie Metall. Als hätte er die Schachtel im Mund. Er beschloß, den Bonbon zu opfern, spuckte ihn aus und nahm einen neuen, der so schmeckte, wie er sollte.

Plötzlich schauderte ihn leicht, und er stand auf, um nach Hause zu gehen. Ihm wurde übel. Schüttelfrost und Brechreiz stellten sich ein. Der neue Malzbonbon schmeckte auch nicht so recht und wurde ausgespuckt. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, und er bekam Magenschmerzen. Die Brille war auf einmal wie beschlagen, er sah die ganze Uferpromenade nur noch verschwommen. Der Hafen und die Straße, die Dornenhecke und der Flieder, die Fahnen, die Radfahrer und die Ruderer – alles drehte sich ihm vor Augen. Er mußte sich an einem Baum festhalten. Die Leute sahen den gutgekleideten Herrn mit Goldrandbrille und Spitzbart an, hielten ihn für betrunken und wunderten sich. Um ihn bildete sich ein Auflauf. Ein Polizist mit weißen Handschuhen kam herbei.

„Was geht hier vor? Sehen Sie lieber zu, daß Sie nach Hause kommen!“ Dann merkte er jedoch, daß der Mann krank war.

„Ich wohne Classensgade Nummer 44 … Ich muß nach Hause“, sagte der Kranke. Aber er kam nicht mehr nach Hause. Denn nun trat ihm Schaum vor den Mund, und Krämpfe setzten ein. Der Polizist schickte einen der Neugierigen, nach einem Krankenwagen zu telefonieren, während er selbst den Hilfebedürftigen stützte.

„Das war der Malzbonbon … Ich glaube, das war der Malzbonbon. Er schmeckte bitter“, sagte der Herr mit Goldrandbrille später im Krankenwagen. Und der Polizist merkte sich das, um es in den Bericht aufzunehmen.

Kurz nach seiner Einlieferung ins Städtische Krankenhaus verschied der ältere Herr. Die letzten verständlichen Äußerungen, die er von sich gab, waren irgend etwas von Malzbonbons und der Satz „Agnosco fortunam Carthaginis“, den der lateinkundige Arzt mit „Nun erblicke ich Karthagos Schicksal“ übersetzte.

Der versäumte Frühling

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