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4. Kapitel
ОглавлениеDie Wachtparade zog durch das Krankenhaus. Ein Auftritt großen Stils, der Tag für Tag mit wunderbarer Präzision ablief.
Der Chefarzt schritt zuerst mit seinem Stab die Front ab, dann setzte sich die Stubendurchgangsprozession in Bewegung.
Von Station zu Station verkündete Glockengeläut die Ankunft der Parade, so daß alles für diesen feierlichen Augenblick bereit war.
Die Stationsschwestern hatten mit glattgestrichenen Schürzen Aufstellung genommen. Die jungen Schwesternschülerinnen standen stramm. Die Patienten versuchten, so gut es ging, im Bett strammzuliegen. Die Laken waren glattgezogen, die Bettdecken in die vorgeschriebene Form gebracht. Nichts durfte verknautscht sein oder unvorschriftsmäßige Falten haben. Kein Patient durfte in dieser Zeit um das Becken bitten. Während der Parade hatte man sich alles zu verkneifen. Den Patienten war es auch verboten, in der feierlichen Stunde des Stubendurchgangs zu sterben.
Der Chefarzt trug eine ruhige und würdige Miene zur Schau. Schon als junger Arzt hatte er sorgfältig den Gesichtsausdruck seines Vorgängers studiert, und er wußte, daß die jungen Ärzte des Gefolges nun auf seine Miene achtgaben. Eine Hand steckte in der Kitteltasche. Mit der anderen machte er kleine Gesten, die von den Pflegerinnen und den darauf trainierten Krankenschwestern verstanden und befolgt wurden.
Kein Patient wagte es, den Chefarzt direkt anzusprechen. Fragen und Antworten wurden durch Zwischeninstanzen vermittelt. Dabei konnte es zu Mißverständnissen kommen, die zu korrigieren jedoch im höchsten Maße ungehörig gewesen wäre.
Der Chefarzt hieß Thorsen. Aber einen Chefarzt spricht man nicht mit seinem Namen an. Ungebildete Elemente unter den Patienten wurden darüber belehrt, daß man ihn auch nicht mit „Herr Doktor“ oder gar nur mit „Doktor“ anreden dürfe und daß auch das „Sie“ unzulässig sei. Jeder Gebrauch eines Pronomens in Verbindung mit einem Chefarzt ist verpönt. In der Anrede und bei Erwähnung seiner Person hat es immer nur „Herr Chefarzt“ zu heißen, und ein Verstoß gegen diese Regel kann die ernsthaftesten Folgen haben.
Wenn die Visite vorbei ist, zieht sich der Chefarzt zurück. Der Zauberbann, der über den Krankenzimmern gelegen hat, ist aufgehoben. Die sich in arger Bedrängnis befindenden Magenpatienten läuten fieberhaft, und die Schwesternschülerinnen stürzen mit den Becken herbei.
Die Arbeit des Chefarztes ist aber noch nicht getan. Er rast im Auto zu seiner Privatklinik, wo andere Patienten auf ihn warten. Sie haben die gleichen Krankheiten wie die im Krankenhaus. Und auch die Behandlung ist die gleiche. Doch Etikette und Umgangsformen sind anders. Hier kann die Anrede „Sie“ gebraucht werden. Und auf das Gesicht des Chefarztes ist ein Lächeln getreten, als befände er sich unter Gleichgestellten.
Chefarzt Thorsen hat einen anstrengenden Arbeitstag. Er ist auch Professor und muß sich um seine Studenten kümmern und Vorlesungen halten. Und er darf sich nicht einmal ein Zeichen von Müdigkeit anmerken lassen. Die Vorlesungen müssen lebendig und mit witzigen Bemerkungen gewürzt sein, und die Studenten geben sich interessiert und lachen eilfertig, wenn der Professor einen Witz macht.
Doch der Chefarzt hat auch noch seine Privatpraxis, die Zeit und Geduld, lange Gespräche und taktvolles Verständnis erfordert. Hier ist abermals ein anderer Gesichtsausdruck erforderlich. „Vertrauen zum Arzt, das ist das allerwichtigste“, hat Professor Thorsen einmal in einem Interview gesagt. Mitunter kann es angebracht sein, beide Hände des Patienten zu ergreifen und ihn freundlich und verständnisvoll anzublicken. Der Arzt soll ein Freund sein, dem man sich anvertraut. Und er soll ein diskreter Beichtvater sein.
Dazu kommen noch die vielen anderen beruflichen und ehrenamtlichen Verpflichtungen. Leitungssitzungen, Kongresse, Vorträge, „Domus Medica“ – das Haus der dänischen Ärztevereinigung –, Redaktion einer Wochenzeitschrift, Zeitungspolemik und so weiter. Außerdem hat ein Arzt noch ein Privatleben, eine Frau und Kinder, und er muß auch Geselligkeit pflegen.
Vielleicht würde allein schon die Stellung eines Chefarztes das Leben eines Mannes ausfüllen. Und vielleicht wird Professor Thorsen auf Grund von Überanstrengung schon zeitig sterben. Aber seine zahlreichen Ämter hat er freiwillig übernommen. Sie sind Voraussetzung, um Karriere machen und sich einen hohen Lebensstandard leisten zu können. Der Professor ist ein im ganzen Land bekannter Mann. Bewundert und beneidet von allen Kollegen.
Er ist noch jung. Er ist erst dreiundvierzig Jahre alt. Und er ist einer der neunzehn festlich gekleideten Herren, die sich an einem Juniabend treffen.
Einem milden, stillen Sommerabend, an dem auf Langelinie Flieder und Goldregen blühen, genau wie viele Jahre zuvor, als ein älterer Studienrat ins Städtische Krankenhaus eingeliefert wurde und dort starb, weil er einen vergifteten Malzbonbon zu sich genommen hatte.