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12. Kapitel

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„Herzlich willkommen, alle miteinander!“ Harald Horn verschafft sich mit hoher und klarer Stimme Gehör. „Willkommen und vielen Dank für euer Erscheinen, liebe alte Freunde! Seit wir auseinandergegangen sind, ist ein Vierteljahrhundert verflossen. Ein wesentlicher Abschnitt unseres Lebens. Damals waren wir junge unbeschriebene Blätter, nun sind wir Männer, im arbeitsreichen Alltag des Lebens gereift.

Doch unsere Jugend haben wir nicht vergessen. Unsere frohe, unbeschwerte Jugendzeit, als das Leben noch vor uns lag. Erinnert ihr euch noch an das alte Lied, das wir immer bei den Schuljahresabschlußfeiern gesungen haben? An Carl Plougs schönes Lied: ,Die Jugendzeit ist Lenzenszeit, da Kelch um Kelch erschließt sich weit im lauen Frühlingswinde.’

So haben wir uns auch erschlossen und entfaltet. Nun füllen wir unseren Platz in der dänischen Gesellschaft aus. Der Wunsch des alten Liedes ist in Erfüllung gegangen, in dem es heißt: ,Ja, mögen wir einst Männer sein, die widerstehn dem falschen Schein und sind dem Land zum Segen, die Recht und Wahrheit, Mannesmut betrachten stets als höchstes Gut, der Ehr und Pflicht nur leben!‘

,Der Ehr und Pflicht nur leben‘ – das hat uns unsere Schule gelehrt, und wir können heute sagen, daß wir diese Lehre beherzigt haben. In einer Stunde wie dieser sei es uns jedoch gestattet, einen Augenblick innezuhalten und zurückzublicken. Es sei uns gestattet, die Zeit unserer Jugend wiederaufleben zu lassen – und bei all den guten und heiteren Erinnerungen von damals zu verweilen und in froher Runde diesen Tag festlich zu begehen!

Zum Wohl, Freunde, und noch einmal herzlich willkommen!“

Dann kamen die Kellner mit den Platten, und man machte sich an die Blätterteigpasteten.

Mogensen blickte kurzsichtig auf seinen Teller und stocherte mit der Gabel in der mit einer gelblichen Masse gefüllten Blätterteigpastete.

„Sind dadrin Leichen?“ fragte er den Kellner.

„Das kann ich mir nicht vorstellen, mein Herr.“

„Nein, das ist bestimmt alles vegetarisch“, sagte Amsted. „Das kannst du getrost essen. Da sind höchstens ein paar Krabben drin.“

Mogensen fischte die Krabbe heraus und legte sie auf den Tellerrand.

„Bist du aus gesundheitlichen Gründen Vegetarier?“ erkundigte sich Thorsen.

„Teils deswegen. Teils aber auch aus ethischen Gründen. Und ästhetischen“, antwortete Mogensen.

„Als wir noch in dem Laden in der Landemærket Pudding mit roter Soße aßen, bist du nicht ängstlich gewesen“, warf Thorsen ein. „Weiß der Himmel, woraus der Pudding bestand.“

„Uff, denk bloß, was man damals essen konnte!“ sagte Amsted.

„Und es schmeckte herrlich“, fügte Nørregaard-Olsen hinzu.

„Jungen können alles essen“, sagte Oberlehrer Nielsen.

Damit war man wieder bei den alten Erinnerungen. Man gedachte voller Wehmut der Frau in der Landemærket, die Pudding mit roter Soße verkaufte. Und ihres zahmen Affen. Sie hatten ihn Duemose getauft, weil er ihrem Mathematiklehrer ähnlich sah. Er war genauso bösartig wie der richtige Duemose, er lief durch das Geschäft und kratzte die Kunden. Eigentlich war das alles eine große Ferkelei. Doch die Frau war wirklich nett. Und sie hatte auch nichts dagegen, ihnen hin und wieder einmal etwas auf Kredit zu geben.

„Und wißt ihr noch …“

Weitere Gerichte wurden aufgetragen, und Amsted war Mogensen behilflich, das Animalische vom Vegetarischen zu unterscheiden. Als man beim Lammbraten angelangt war, schlug Ministerialrat Jørgensen an sein Glas und hielt eine Rede, so daß die Soße auf den Tellern kalt wurde.

„Vor ein paar Tagen war bei uns großer Hausputz. Das große Frühjahrsreinemachen. Diese Prozedur ist ja in der Regel nicht gerade eine angenehme Angelegenheit, haha, sie kann allerdings den unschätzbaren Vorteil haben, daß dabei Dinge ans Tageslicht kommen, die man längst für verschollen gehalten hat.

So brachte mir meine Frau etwas, was sich als – meine alte Studentenmütze erwies. Ach, von der flotten weißen Mütze war nicht mehr viel übrig. Der Zahn der Zeit hatte sie übel zugerichtet. Und die Motten hatten das Ihre getan. Es war ein trauriger Anblick. Trotzdem sagte ich zu meiner Frau: ,Nein, sie wird nicht weggeworfen!‘ Ich nahm die Reste der alten Mütze in die Hand und betrachtete sie.

Und da stellten sich Erinnerungen ein. Die eine Erinnerung löste die andere ab. Die Studentenzeit. Die Jugendzeit. Die Schulzeit. Die Zeit, die so unendlich viel für uns alle bedeutete, lebte wie durch Zauberspruch wieder vor mir auf. Die alte graue Schule mit all ihren schönen Erinnerungen. Die Schule mit ihrer Gemütlichkeit, ihrem Humor und ihrer klassischen Vornehmheit. Unser Schulgebäude, unser gemeinsames Zuhause.

Ich weiß, daß ihr, meine Schulkameraden, die ihr hier erschienen seid, umdiefünfundzwanzigjährige Wiederkehr unseres Abiturs zu feiern, das gleiche empfindet wie ich damals, als ich die traurigen Überreste meiner einst so weißen Studentenmütze betrachtete. Wir sind nun in alle Winde zerstreut. Jeder von uns wirkt und schafft auf seinem Gebiet. Ein jeder füllt seinen Platz in der Gesellschaft aus, und ich darf wohl sagen, daß es kein geringer Platz ist.

Doch was wir auch tun mögen und wie verschieden unsere Arbeit auch sein mag – eines vereint uns doch allesamt mit einem unsichtbaren Band, eines läßt uns zu einer großen Familie werden, zu einer geistigen Gemeinschaft: die Erinnerung an unsere alte Schule. Die Schule mit ihrer jahrhundertealten stolzen Tradition.

Dort wurde das Saatkorn in unser empfindsames Kindergemüt gesenkt, das aufgehen, heranwachsen und Früchte tragen sollte. Dort empfingen wir die Kenntnisse und Eindrücke, die den Grundstein legten zu dem, was wir heute sind. Daß wir alle in unserem Volk und Vaterland einen Platz ausfüllen können. Dort erhielten wir die Bildung, die mehr wert ist als Gold und Silber. Dort wurden wir der Schätze der Kultur teilhaftig, die uns niemand zu nehmen vermag. Und dort legte man den Grundstein für die Charaktereigenschaften, die uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind.

Im Schutze der Schule reiften wir, und dort wurden wir geformt, so daß wir gute und treue Diener des Landes werden konnten, das wir alle lieben – Dänemark.

Dort lernten wir Ordnung, Disziplin und Gehorsam, ohne die keine Gesellschaft bestehen und keine Moral gedeihen kann. Dort lernten wir ,der Ehr und Pflicht nur leben‘. Dort lernten wir den ewigen Wert der Traditionen kennen. Daß Vergangenheit und Gegenwart eine untrennbare Einheit bilden. Daß wir nur auf der Grundlage dessen weiterbauen können, was uns übereignet worden ist. Was unsere Vorfahren von Geschlecht zu Geschlecht für uns aufgebaut haben.

Alles, was wir erreicht haben, was wir können und was aus uns geworden ist, haben wir unserer Schule zu verdanken. Der guten, alten, traditionsreichen Schule.

Und deshalb, Freunde, laßt uns das Glas erheben und auf unsere Schule trinken!“

„Hoch soll sie leben!“

Als man sich schließlich dem Lammbraten zuwenden konnte, waren viele Augen feucht geworden.

Da saßen neunzehn Herren und schwelgten in Erinnerungen. Neunzehn Herren mit gelichteten Scheiteln, mit Bäuchen, Brillen und Bärten unterhielten sich im Schuljungenjargon und gebrauchten wieder die alten Spitznamen, wenn sie miteinander oder über ihre Lehrer sprachen.

Einige Lehrer waren noch am Leben. Wenn man ihnen begegnete, grüßte man sie respektvoll und vergaß völlig, daß man bereits erwachsen und dreiundvierzig Jahre alt war.

Die meisten alten Lehrer allerdings waren schon tot. Studienrat Blomme zum Beispiel war tot. Studienrat Blomme war nur noch eine Erinnerung. Eine Erinnerung, die es wert war, etwas dabei zu verweilen.

Man erinnerte sich an seinen Lateinunterricht. An sein kleines blaues Notizbuch, in das er folgenschwere Striche und Zeichen zur Beurteilung eines Schülers einzutragen pflegte. Man erinnerte sich an seine Gewohnheiten und originellen Ausdrücke, an seine Sprechweise und an seine Witze. Und an die kleine ovale Blechschachtel mit Malzbonbons, die er ständig auf dem Katheder vor sich stehen hatte.

Und man erinnerte sich an seinen Tod. Seinen plötzlichen Tod kurz vor dem Examen, so daß man in jenem Jahr um die Lateinprüfungen herumgekommen war. Und man erinnerte sich daran, daß sein Tod mystisch und unheimlich gewesen war.

Unter den neunzehn Herren waren einige, die sich sachkundig zu dem Tod des Studienrates äußern konnten. Da waren Ärzte, die sich mit Giften auskannten. Da waren Juristen, die sich mit Verbrechern auskannten. Und da war ein Psychoanalytiker, der sich mit den Absonderlichkeiten des menschlichen Seelenlebens auskannte. Und auch der Mörder des Studienrates war anwesend.

Der versäumte Frühling

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