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III
ОглавлениеHinter jedem Gebüsch und jedem Strauch versteckte sich ein Geist. Alles war heilig, die Quellen und Flüsse, der Wind, jeder Berg und jeder Baum, die Erde, die Seen, der Mond, die Sonne, die Sterne, besonders aber der Blitz. Auch die Tiere waren heilig, vor allem Hirsche, Biber, Schlangen, Adler und Schwäne. Ihnen allen erwiesen die Menschen Ehre, denn auch gnädige Götter können zürnen.
Dank der Gunst der Götter mussten die Aschkanen keine Not leiden. Sie lebten zufrieden und ihre Familien vergrößerten sich. Sofern es Streit und Krankheiten gab, waren spezielle Mittler gefordert. Die fanden in aufwändigen Zeremonien mit Hilfe der Götter die Schuldigen und die Ursachen, auch die Wege zur Lösung dieser Probleme wurden von den Göttern aufgezeigt.
Mehrere Familien, meistens zwei bis drei Dutzend, wohnten in größeren Siedlungen zusammen. Da sie Vorratshaltung betrieben, es bei ihnen also etwas zu holen gab, mussten sie ihre Dörfer vor Dieben schützten. Sie umgaben ihre Runddörfer mit Erdwällen, mit Palisaden und Zäunen. Die überwiegend an Seen und Flüssen wohnenden Aschkanen hatten große Boote, die sie in harter Arbeit mit ihren Feuersteinbeilen aus großen Bäumen herausschlugen. Sie fischten mit Netzen und Reusen aus Weidenzweigen, benutzten aber auch Bogen und spezielle Pfeile, die nicht eine, sondern gleich drei Spitzen hatten.
Im Hauptdorf der Aschkanen lebte die Schwänin, eine allseits geachtete Frau. Aus lehmiger Erde fertigte sie wunderschöne Keramikwaren, indem sie einen Wulst Tonerde auf den anderen setzte. In ihre Gefäße ritzte sie verschlungene Muster, auch Dreiecke und einfache Symbole von Tieren und Göttern. Dafür war sie weit über ihr Gebiet hinaus berühmt, viele Henkelkrüge konnte sie gegen bunt gewebte Stoffe und manchmal auch gegen ganze Kleidungsstücke eintauschen. Immer wieder wurde sie auch zu Kranken gerufen, denn sie war eine Mittlerin und stand somit auf derselben Rangstufe wie der Häuptling des Dorfes. Der wurde allerdings immer nur für ein Jahr gewählt, während sie von den Göttern als Mittlerin zwischen ihnen und den Menschen dauerhaft auserkoren worden war.
Vor langer Zeit, sie war damals noch eine heranwachsende Frau und hatte gerade erst ihre ersten Blutungen erlebt, war sie am See zum Fischen gewesen und eingeschlafen. Ein Schwan kam auf die Schlafende zu und begann leicht an ihren Fußzehen zu knabbern. Sie erlebte diese Berührung des Tieres als würde sie zärtlich liebkost, sie stöhnte wohlig, wollte weiter träumen. Beim Erwachen jedoch sah sie einen großen weißen Schwan vor sich stehen, der ihr direkt in die Augen blickte. Das Erstaunlichste war, dass sie verstehen konnte, was er zu ihr sagte.
„Du und ich – wir sind eines! Obwohl wir in verschiedenen Gestalten leben. Wenn ich am Himmel fliege, sehe ich die Welt und alle verborgenen Dinge. Ich sehe nicht nur, was die Menschen tun, ich kenne auch ihre Absichten und geheimen Gedanken. Ich kann bis zu Göttern hoch am Himmel oben fliegen und ihnen berichten. Sie tun mir ihre Absichten kund und sie geben mir Aufträge, die ich den Menschen zu vermitteln habe. Ich komme Dich wieder besuchen - und Du kannst mich jederzeit rufen“, krächzte der weiße Schwan, nahm Anlauf und hob sich hoch in die Lüfte.
Erschrocken und verwirrt blieb die junge Frau am Ufer zurück. ʼSoll ich eine Mittlerin werden?ʼ fragte sie sich.
Alle wussten, dass Krankheiten nicht von ungefähr kamen, dass sie immer von den Göttern gesandt waren. Vielleicht zur Strafe für ein Vergehen, für ein vergessenes Opfer oder vielleicht auch aufgrund eines bösen Zaubers. Da nichts auf der Welt ohne Grund geschah, mussten die Götter befragt werden. Ohne deren Anweisung bliebe jede Heilung nur vorgetäuscht, die Krankheit würde sonst über kurz oder lang wieder in den Körper zurückkehren.
Der Schwan besuchte sie immer wieder und forderte sie auf, von dem alten Schamanen ihres Dorfs die geheimen Dinge des Lebens zu lernen. Anfänglich eher widerwillig tat der alte Mann dies, freute sich aber bald, da das wissbegierige Mädchen schnell lernte. Sie lernte den Gebrauch von Weidenrinde, um Schmerzen zu lindern, von Beinwell und Kamille bei Verletzungen und Entzündungen, von Odermenning bei Durchfall und vieles andere mehr. Auch lehrte ihr der alte Schamane die Wirkung und die richtige Dosierung von verschiedenen Pilzen und von Schlafmohn, um in eine andere Welt zu treten und zu ihrem Totem, dem Schwan zu werden.
Im Lauf der Zeit wurde die Schwänin zu einer geachteten Schamanin. Sie heilte mit Erfolg Knochenbrüche, in dem sie die gebrochene Extremität mit Holzschienen ruhig stellte, sie behandelte die Entzündungen der Atemwege mit Inhalationen von Efeudämpfen und die Atemnot mit Extrakten von Weißdorn. Auch die Erkrankungen der Frauen und der alten Männer wusste sie mit großem Einfühlungsvermögen und den passenden Kräutern, Wickeln und Dämpfen zu kurieren. Die Leute im Dorf und auch in den anderen Siedlungen nannten sie bald nur noch voller Respekt die Schwänin.
Die Heilungen folgten einem vorgeschriebenen Ritual. In einem Haus mit steinernem Boden wurde der Kranke auf ein Lager aus Heu gelegt. Ein Feuer brannte in der Mitte der Hütte, in dem auch seltene Kräuter, Tierknochen und Vogelfedern verbrannt wurden. Die Schwänin saß dicht neben dem Kranken und blies auf ihrer aus einem Schwanenknochen gefertigten Flöte unaufhörlich dieselben Melodien. Danach rauchte die Schwänin einen mit zerriebenem Mohn versetzten Stängel aus Schilfgras und blies den Rauch dem Kranken ins Gesicht. Dann saugte sie aus seinem Bauch und seiner Brust kleine Steine heraus, spuckte sie ins Feuer, wo sie unter lautem Geprassel verbrannten. Die Schwänin sprang über und um ihren Patienten, schlug die Arme wie ein Vogel auf und nieder und krächzte wie ein Schwan, so dass sie in der dunklen und verrauchten Hütte von einem wahren Schwan bald nicht mehr zu unterscheiden war.
Jetzt konnte sie Kontakt zu den Göttern aufnehmen, ihnen vom Schicksal ihres Patienten berichten und Anweisungen der Götter erhalten, die genau und sofort umzusetzen waren. Es konnte sein, dass der Patient ein großes Opfer bringen musste für eine bestimmte Gottheit, gegen die er sich vergangen hatte, oder dass er das Dorf für eine Weile meiden musste. Es konnte aber auch sein, dass die Schwänin ihn verletzen musste, seinen Körper mit einem Stein aus scharfem Feuerstein zu öffnen hatte. Oft flossen aus diesem Schnitt Eiter oder andere übel stinkende Flüssigkeiten. Die Zeremonien dauerten üblicherweise die ganze Nacht und gingen bis zur Erschöpfung aller Beteiligten. Denn nur bei vollkommener Aufgabe seiner irdischen Person konnte ein Schamane den Kontakt zu den Göttern herstellen.
Auch die Schamanin hatte einen Mann genommen und drei Kinder bekommen, wobei eines gleich bei der Geburt und das zweite – noch ohne einen Namen erhalten zu haben – schon wenige Wochen nach der Geburt gestorben waren. Ihr drittes Kind hatte die gefährlichen ersten Monde überlebt. Der kleine Junge wurde den Göttern und allen Dorfmitgliedern bei einem Fest zu seinen Ehren vorgestellt und hatte bei dieser Gelegenheit seinen Namen bekommen: Gilger. Sein linkes Bein war in seiner Beweglichkeit ein wenig eingeschränkt, dieses Hüftleiden fiel zunächst nur der Mutter auf.
Gilger wuchs zufrieden und glücklich in der kleinen Dorfgemeinschaft auf, wo sein Vater Rodo und die Schwänin ein paar Ziegen und Schafe hielten. Gilger liebte diese Tiere. Er genoss ihren Geruch und mochte es gerne, wenn die Tiere sich an ihm rieben. Dies erzeugte wohlige Gefühle in ihm.
Mit der Zeit lernte er die einzelnen Tiere nach ihren Eigenheiten zu unterscheiden. Als er größer geworden war, arbeitete er als Hütejunge. Diese Arbeit gefiel ihm, denn dabei hatte er Muße und konnte unbehelligt auf seiner Flöte spielen. Wenn sein Vater ihn aufforderte, begleitete er ihn auch zur Jagd, aber lieber war er draußen bei der Herde, bei den friedlichen Tieren. Häufig schlief er nachts unter freiem Himmel bei den Ziegen und Schafen, ihm schien, als funkelten die Sterne draußen auf den Weiden strahlender als in ihrem Dorf.
Ziegen und Schafe hatten verschiedene Besitzer, wurden aber gemeinsam in Herden gehalten. Die Tiere waren sehr wertvoll, denn außer der Wolle lieferten sie Fleisch, Fett, Leder, Sehnen, Knochen und nach dem Lammen auch Milch. Ihre Weiden lagen oft weit entfernt von den Dörfern. Hirten bewachten sie und schützten die Herden vor Raubtieren. Im Frühsommer wurden die Tiere ins Dorf getrieben, wo ihre wenige harte Wolle geschoren wurde. Winters blieben sie in Pferchen in der Nähe des Dorfes. Wenn die Weiden von Schnee bedeckt waren, gab man ihnen Laubheu zum Fressen. Dazu mussten im Sommer viele Zweige von Laubbäumen geschnitten und getrocknet werden. Schließlich musste das Laubheu bis zum nächsten Austrieb reichen.
Ohne ersichtlichen Grund wurde Gilgers Vater krank. Er begann zu husten, Blut zu spucken, wurde immer schwächer und konnte schließlich nicht mehr gehen. Die Schwänin und Gilger versorgten ihn aufopferungsvoll in seiner Hütte, brachten ihm die leckersten Speisen und Getränke. Trotz vieler aufwändiger Zeremonien hatte die Behandlung der Schwänin keinen Erfolg. In diesem Fall versagten sich ihr die Götter. In ihrer Not rief die Schwänin auch andere Schamanen zu Hilfe, doch auch die konnten nicht den bösen auf Gilgers Vater liegenden Zauber bannen. Blutspuckend und bis auf Haut und Knochen abgemagert verstarb Rodo. Gilgers Vater hatte diese Welt verlassen und sich auf die lange Reise zu den Göttern begeben. Gilger vermisste seinen Vater sehr.
Da es nun an ihm lag, ab und an Fleisch nach Hause zu bringen, musste er jagen lernen. Er hatte nie gerne gejagt und deshalb auch nicht richtig aufgepasst, wenn sein Vater ihn in der Jagd unterwies. Um seine Bogenschusstechnik zu verbessern, übte er immer wieder mit Pfeil und Bogen, wenn keiner ihn sehen konnte. Mit dem großen Bogen seines Vaters zu schießen war nicht einfach, allein ihn zu spannen kostete viel Kraft. Dann begannen seine Arme zu zittern, was seine Zielgenauigkeit deutlich minderte.
Bei seinen Übungen schoss er auf eine Zielscheibe, die er in den Formen einer Frau in eine große Buche ritzte. Oft stellte er sich dabei die Mädchen vor, die sich wegen seines hinkenden Gangs über ihn lustig machten. Insbesondere die kichernde Maluga war sein bevorzugtes Zielobjekt. Allmählich wurde er ein besserer Schütze, er zielte auf die Stirn von Maluga, auf ihre Brüste, ihren Bauch und am liebsten noch etwas tiefer. Wenn sein Pfeil diese Stelle seiner Zielscheibe traf, stieß er einen Freudenschrei aus. Schließlich hatte er seine Treffsicherheit soweit verbessert, dass er mit Aussicht auf Erfolg auf die Jagd gehen konnte. Gelegentlich brachte er ein kleines oder krankes Reh, eine Ente oder einmal sogar einen Biber mit nach Hause.
Die Schwänin war inzwischen eine der anerkanntesten Heilerinnen im weiten Umkreis geworden. Die Kranken kamen von weit her, um sich von ihr behandeln zu lassen. Zu ihren Zeremonien kamen Männer und Frauen mit chronischen Wunden, mit Potenzstörungen, Leistungsschwäche und Kurzatmigkeit. Menschen, die in tiefer Dunkelheit und Traurigkeit lebten, Frauen, die keine Kinder gebären konnten, Kinder mit Durchfall und Hautauschlägen, mit Eiterbeulen und mit Knochenbrüchen. Für sie alle erhob sich die weiße Schwänin unter Aufgabe ihrer eigenen irdischen Identität in große Höhen empor, um mit den Göttern die Angelegenheit des Kranken zu besprechen und ihre Anweisungen zu hören.
Eines Tages wurde eine junge Frau zu ihr gebracht. Maluga war erst vor Kurzem von ihrem ersten Knaben entbunden worden. Nun hatte sie eine entzündete Brust, außerdem Fieber und sie stöhnte vor Schmerzen. Die Schwänin untersuchte Maluga, gab ihr einen Sud aus Weidenrinde, band die entzündete Brust hoch. Weil dies der kranken Frau aber keine große Linderung verschaffte, flößte sie ihr auch eine genau bemessene geringe Menge an Mohnsaft ein. Maluga fiel daraufhin in tiefen Schlaf, am nächsten Morgen ging es ihr nur wenig besser. Deshalb mussten nun in einer speziellen Zeremonie die Götter um Rat gefragt werden.
Die Schwänin tanzte um den Körper der jungen Frau, immer wilder tanzte sie und plötzlich trug sie ihr weißes Federkleid. Sie bewegte sich wie ein Vogel und begann zu fliegen, bis hinauf zum Sitz der Götter flog sie, um deren Rat zu erhalten.
„Ein vergifteter Pfeil durchdrang ihre Brust,“ sprachen die Götter. „Wer hat auf diese unschuldige junge Frau geschossen?“ fragte die Schwänin mit gesenktem Kopf. Denn nie wagte sie es, den Göttern ins Gesicht zu blicken. Die geflüsterte Antwort der Götter ließ ihr Gesicht und sogar ihren Schnabel bleich werden. Der weiße Schwan kehrte zurück in die Hütte, zu ihrer Patientin und ihrem Helfer. „Sie wurde durch einen magischen Pfeil verletzt.“
„Ein Pfeil fliegt nie von selbst, immer gibt es einen Schützen. Wer sollte auf diese junge Frau schießen?“ fragte der Helfer.
Noch halb in Trance flüsterte die Schwänin mit versagender Stimme: „Die Götter sagten, es sei Gilger gewesen, mein Sohn.“ Sie hämmerte mit beiden Fäusten auf Maluga ein, sah mit irrem Ausdruck ihren Helfer an. „Was machen wir nur?“ fragte die Schwänin mit krächzender Stimme. „Wir können Gilger doch nicht…“ Ihr Helfer aber hörte sie schon nicht mehr.
„Menschen, die Pfeile auf andere Dorfbewohner schießen, haben in unserer Siedlung nichts verloren. Bist Du denn ganz sicher, dass Du auch alles richtig verstanden hast?“ Der Häuptling blickte streng auf den Helfer der Schwänin, fragte mehrmals nach und formte seine Gedanken langsam zu Worten: „Der Sohn der Schwänin hat auf Maluga mit einem Pfeil geschossen und deshalb ist Maluga erkrankt, das hat die Schwänin selbst gesagt. Wenn es die Götter ihr selbst mitgeteilt haben, dann kann daran wohl kein Zweifel bestehen.“
Er wiegte bedächtig seinen Kopf, stützte ihn in beide Hände und atmete langsam aus. Hatte er nicht gehört, dass Gilger seine Pfeile auf Zielscheiben schoss, die Frauen abbildeten? Das hatte ihn bisher nicht gestört, doch jetzt sah die Sache anders aus. Ihm oblag es, Schaden vom Dorf abzuwehren, dessen Schutz ihm von seinen Bewohnern und den Göttern anvertraut worden war. Woran also noch zweifeln? „Gilger hat seinen Platz in unserer Dorfgemeinschaft verwirkt!“ sprach der Häuptling laut und bestimmend. „Nehmt ihn gefangen und bring ihn gefesselt zu mir!“
In dieser Nacht konnte die Schwänin nicht schlafen. Sie wälzte sich auf ihrem Lager hin und her. ʼGilger darf nicht sterben, er ist noch so jung, Es war doch keine böse Absicht, als er auf Maluga als Zielscheibe in den Baum ritzte. Erst kürzlich hatten die Götter ihren Mann sterben lassen. Und jetzt Gilger? Wofür wollen sie uns strafen?ʼ
Die Schwänin erhob sich und eilte auf die kleine Anhöhe, von wo sie auf ihren geliebten See sehen konnte. Der schon zu drei Vierteln volle Mond spiegelte sich silbern im ruhigen Wasser. Zwei Schwäne nahmen Anlauf im Wasser, hoben schwerfällig ab in die Luft und flogen hoch und höher. Sie flogen über den Wald und ihr Dorf. Seufzend schaute sie ihnen nach, bis sie aus ihrem Gesichtskreis verschwanden.
In drei Tagen wird der Mond gerundet sein, in drei Tagen wird der Dorfrat sein Urteil fällen. Was konnte sie schon erwarten? Hatte sie doch selbst in jener denkwürdigen Sitzung den Ratschluss der Götter mitgeteilt. Maluga war inzwischen wieder wohlauf. Wofür sollte Gilger jetzt noch sühnen? Die Schwänin streckte sich, schüttelte ihren Kopf. Dann besann sie sich auf ihre Stärken. Sie konnte sich völlig geräuschlos bewegen, beinahe fliegen. Und sie hatte die schärfsten Messer, mit denen auch die dicksten Stricke rasch durchschnitten werden konnten.
Die Schwänin musste sehr vorsichtig sein, denn der fast volle Mond verbreitete ein helles Licht. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle Dorfbewohner schliefen, schlich sie zu dem an einen Pfosten gebundenen Gilger. Rasch schnitt sie seine Fesseln durch und drückte ihn kurz an ihre Brust. So schnell sie konnten, flüchteten sie aus ihrem Dorf. Sich an den Händen fassend, passierten sie den Durchgang im Erdwall, bald schon hatte sie das Dunkel des Waldes verschluckt. Kein Dorfbewohner hatte etwas bemerkt.
Leise führte die Schwänin ihren Sohn durch dichtes Unterholz bis zu einem Bach. In diesem wateten sie eine lange Strecke, so dass selbst Hunde ihre Spur verlieren würden. Endlich kamen sie zu einem kleinen Platz, wo die Schwänin schon tags zuvor an einem Baum zwei Tragegestelle mit allem Notwendigen aufgehängt hatte, das für eine längere Reise gebraucht wurde: In Gilgers Tragegestell hatte sie Messer und Beile, Schnüre und aus Wolle gewebte Kleider gepackt, selbst Gilgers Flöte hatte sie nicht vergessen. In ihren Sack hatte die Schwänin eine kleine Notapotheke mit Weidenrinde und Birkenporlingen gesteckt sowie ein Päckchen mit gelber Tonerde, das sie Okra nannte und für rituelle Zeremonien benutzte. Außerdem hingen an einem Ast ein Bogen und ein Köcher mit mehreren Pfeilen, in einem Sack waren Fladenbrote, und gedörrter Fisch. Gilger stopfte gierig das Brot und den Fisch in sich hinein und trank in großen Zügen. Die Schwänin schaute ihrem Sohn zu und freute sich, dass es ihm so gut schmeckte. Sie hingegen wollte weder essen noch trinken.
Immer weiter dem Bach folgend, marschierten sie die ganze Nacht weiter, bis sie im Morgengrauen eine kleine Höhle fanden. Dort aßen sie den Rest ihrer Vorräte und ruhten sich für ein paar Stunden aus. Gilger war sofort eingeschlafen, in tiefen Zügen atmete er ein und aus. Die Schwänin jedoch fand keinen Schlaf. ʼHatte sie richtig gehandelt? Hatte sie sich an den Göttern versündigt? Würden sie und Gilger dies zu büßen haben? Jetzt schon bald oder sehr viel später erst?ʼ Diese Gedanken quälten sie sehr. Ihr Körper war todmüde, doch ihr Geist fand keine Ruhe. Sie fürchtete nicht so sehr, dass die Dorfbewohner sie finden könnten. Viel mehr ängstigte sie sich vor der Rache der Götter, der sie nicht entgehen konnten.
Knackende Geräusche weckten sie aus einem schweren Traum. Gilger war aufgestanden, hatte trockenes Holz gesammelt, das er jetzt klein brach, um damit ein Feuer zu machen. Fröstelnd und schweißgebadet stand sie auf und setzte sich zu ihrem Sohn ans wärmende Feuer.
„Was ist mit Dir?“ fragte Gilger und nahm sie in den Arm. „Du hast Fieber, Du wirst doch jetzt nicht krank werden.“
Die Schwänin hüllte sich fest in ihre Kleider und zog ihren Fellumhang eng um sich. Der Kräutertee, den Gilger für sie gekocht hatte, wärmte sie. Sie trank ein paar Schlucke, essen konnte sie aber nicht. „Wir müssen weiter...“, sagte sie nur, stand auf, packte ihr Bündel und legte schon die ersten Schritte zurück. Gemeinsam marschierten sie in eine ungewisse Zukunft.
Seit Tagen wanderten sie an einem großen Fluss entlang. Ansiedlungen von Menschen umgingen sie weiträumig, vermieden Begegnungen und Gespräche mit fremden Menschen. Die Schwänin wurde immer schwächer, nur noch kurze Wegstrecken bewältigte sie. Sie war verstummt, lebte in ihrer eigenen Welt. Von der Umgebung und selbst von ihrem geliebten Sohn nahm sie kaum mehr Notiz. Sie ließ sich von ihm führen und tat widerspruchslos alles, was er von ihr verlangte. Müden Schrittes schleppte sie sich voran. Sie aß nicht mehr, selten trank sie noch etwas Wasser.
Eines Morgens stand sie nicht mehr auf. Abgezehrt bis auf die Knochen konnte sie nicht mehr, und sie wollte auch nicht mehr. „Was soll ich nur machen mit Dir?“ klagte Gilger. „Du hast mich vor dem Tod in unserem Dorf gerettet, und nun willst Du hier sterben. Wozu das alles?“
„Ich werde nicht wirklich sterben. Ich fliege zu den Göttern. Der weiße Schwan wird sich um mich kümmern.“ Sie deutete mit schwacher Hand zum Himmel. „Dort oben werde ich weiter leben, von da aus werde ich auf Dich aufpassen. Lass mich hier liegen, hier ist ein schöner Platz. Ich kann einen See sehen, auf dem viele weiße Schwäne schwimmen. Kannst Du sie nicht sehen?“
Die ganze Zeit war Gilger neben seiner Mutter gesessen, innerlich hatte er sich wie ausgetrocknet gefühlt. Vor lauter Müdigkeit musste er eingeschlafen sein – als eine Berührung ihn plötzlich aufschreckte. Er hatte im Schlaf die Hand ausgestreckt und den kalten Körper seiner Mutter berührt, ihm war als würde ein Messer mitten in seine Brust gestochen. Unfähig sich zu rühren, blieb er lange neben seiner toten Mutter liegen. Erst spät stahl sich eine Träne aus seinem Auge, dann aber setzte eine ganze Tränenflut ein.
Gilger war jetzt alleine. In ihr Dorf konnte er nicht zurückkehren. Und auch nicht in andere Siedlungen der Aschkanen. Die würden ihn in sein altes Dorf bringen, wo ihn der sichere Tod erwartete. Jetzt erst recht, nachdem sie geflüchtet waren und es so aussah, als habe er in der Tat auf Maluga mit einem Pfeil geschossen und sie fast umgebracht.
Eine große Leichenfeier konnte er für seine Mutter nicht organisieren, niemand würde zu ihrem Begräbnis kommen. Schweren Herzens hob er eine Grube aus und legte die Schwänin hinein, ganz vorsichtig, als wolle er ihr nicht wehtun. Er färbte ihr Gesicht und die Hände mit Okra, der gelben Erde, die sie in einem Säckchen die ganze Flucht über mit sich geschleppt hatte. Gilger zog ihr Schuhe und Mütze an und legte ihr den schönen Fellumhang um.
Noch fehlt etwas, dachte er bei sich. Daheim hätte sie noch allerhand andere Dinge mit ins Grab bekommen, insbesondere Sachen, die sie als Mittlerin oft benützt hatte. Nicht weit entfernt lagen ein paar schöne weiße Federn, ihm dünkte, als ob sich ihr anderes Ich dazu gesellen wollte. Daneben lag ein wunderschöner Stein mit schwarzer Maserung. Als er ihn in die Hand nahm, veränderte er seine Farbe, von einem matten grau über gelbgrün bis tiefgrün.
Einen so schönen lebendig erscheinenden Stein hatte Gilger noch nie gesehen. Das war zweifellos ein Zeichen der Götter, dass sie die Schwänin bei sich aufnehmen wollten. Dankbar nahm Gilger den Stein und legte ihn auf die Brust seiner Mutter. Damm bedeckte er den Leichnam mit frischen Gräsern und schaufelte mit beiden Händen das Grab zu. Auf die Erde steckte er weiße Schwanenfedern, mit denen er einen Kreis als Symbol für die Unendlichkeit bildete.
Gilger trauerte noch drei Tage am Grab seiner Mutter. Dann erst raffte er sich schweren Herzens auf, um seinen eigenen Weg zu suchen. Er wanderte weiter dem großen Fluss entlang, bog in ein hübsches Seitental ein, wo er einem munter rauschenden Flüsschen bergwärts folgte. Aus der Ferne beobachtete er ein paar Mädchen, die volle Körbe mit leckeren Beeren nach Hause trugen. Er folgte ihnen, ohne sich ihnen zu zeigen. Ihm schien es sicherer, abzuwarten und weitere Erkundungen zu machen. Die Menschen in der nahe gelegenen Siedlung schienen friedlich zu sein, nachts hörte er sie von Weitem singen.
Am nächsten Morgen verließen die Mädchen erneut ihr Dorf. Wieder hatten sie ihre Körbe dabei. Gilgers Herz klopfte bis zum Hals. Er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um auf die Mädchen zuzugehen und sie anzusprechen. Stotternd erzählte er, dass er von weit her komme, seit vielen Tagen schon unterwegs sei. Er wolle sich die Welt anschauen, Neues erkunden.
„Dann komm doch einfach mit uns“, sagten die Mädchen. „In der Zwischenzeit kannst Du uns ja beim Beerensammeln helfen“, antworteten sie kichernd. Mit vollen Körben kehrten sie gegen Nachmittag ins Dorf zurück, vorbei an großen abgeernteten Getreidefeldern. Dabei fiel ihm auf, dass eine von ihnen einen schönen grün schimmernden Schmuck an ihrem Halsband trug. Einen Stein, wie er ihn erst vor Kurzem gefunden und seiner Mutter ins Grab gelegt hatte.
Im Dorf wurde kein großes Aufheben um den Neuankömmling gemacht. Offenbar waren die Dorfbewohner an Fremde gewöhnt. „Suchst Du auch Arbeit in der Mine?“ wurde er mehrfach gefragt. Wobei Gilger dann jedes Mal ein unbestimmtes „Ja“ brummte. Denn er wusste nicht, was darunter zu verstehen ist, wollte seine Unwissenheit aber nicht zugeben. Ihn erstaunten die riesigen Felder, die in keinem Verhältnis zur Größe des Dorfes standen. So viel konnten die Menschen hier auf keinen Fall selbst verzehren.
In sein Auge stachen die hübschen Mädchen und Frauen, von denen sich einige mit den schönen grünen Steinen geschmückt hatten. Andererseits sah er nur wenige Männer. Er fragte das Mädchen, das er als erstes mit dem grün schimmernden Halsschmuck gesehen hatte, nach der Herkunft dieser schimmernden Schmuckstücke.
„Sie sind alle von der Mine. Unsere Männer bringen sie manchmal mit; wenn sie uns eine besondere Freude machen wollen“.
„Oder wenn sie eine ganz besondere Freude von uns erwarten…“ kicherte ihre Freundin. „Hast Du denn keinen mitgebracht?“ fragte sie ihn, in dem sie ihn schelmisch ansah und dabei leicht mit ihren Hüften kreiste. „Die Mine, wo ist denn die?“ stammelte Gilger, dem plötzlich die Röte ins Gesicht stieg.